Alexander Kluy – „Clint Eastwood“

Freitag, 28. Februar 2020

(Reclam, 102 S., Tb.)
Der US-amerikanische Schauspieler, Produzent und Regisseur Clint Eastwood hat in Hollywood deutliche Spuren hinterlassen. Er ist nicht nur als ausgesprochen vielseitiger, produktiver und sehr strukturierter Filmemacher bekannt, der als letzter Regisseur bedeutender Western in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren auch noch im 21. Jahrhundert arbeitet, wie der Autor auf den ersten Seiten seiner Abhandlung über den mittlerweile 89-Jährigen schreibt, sondern längst auch der erfolgreichste Schauspieler-Regisseur-Produzent der Filmgeschichte.
Wenn sich Eastwood selbst beschreibt, bezeichnet er sich einfach als „storyteller“. Es sind Dramen über das Altern und den sich damit verändernden Blick auf die Welt, über Menschen und ihre Beziehungen zueinander, über Tod und Gewalt. Ebenso weist Kluy zu Anfang schon auf die effiziente Arbeitsweise des Filmemachers hin, der schon 1967 mit Malpaso seine eigene Produktionsfirma gründete und seine Werke in 35 bis 39 Tagen abdreht, was auch darauf zurückzuführen ist, dass er über die vielen Jahrzehnte mit einer ausgewählten Crew zusammenarbeitet.
Kluy, der u.a. für „Der Standard“, „Buchkultur“ und „Psychologie Heute“ schreibt, rekapituliert Eastwoods Karriereanfänge, die über kuriose Nebenrollen bis zur Hauptrolle in der Western-Serie „Rawhide“ (Tausend Meilen Staub) führte, bevor er in Sergio Leones berühmt gewordenen Italo-Western „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) zum international gefragten Filmstar avancierte. Es folgte der Beginn der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Regisseur Don Siegel (u.a. „Coogan’s großer Bluff“, „Dirty Harry“, „Flucht von Alcatraz“) und mit dem Erfolg auch die Möglichkeit, sich seine Projekte aussuchen zu können. Dabei bewies er zwar nicht immer ein glückliches Händchen (siehe u.a. „Firefox“, „City Heat“, „Rookie – Der Anfänger“), doch zog Eastwood stets die richtigen Schlüsse aus seinen Fehlgriffen und avancierte spätestens mit seinem ersten Oscar-prämierten Spätwestern „Erbarmungslos“ (1992) zu einem anerkannten Meister seines Fachs, wie nachfolgende Werke wie „Die Brücken am Fluss“, „Perfect World“, „Mystic River“ und „Million Dollar Baby“ bestätigen sollten.
„Mainstream zu sein und dabei hochgradig manipulativ, indem er seine Star-Persona demontierte, kaum zu zerstören und gebrochen, fragmentiert und verletzlich, diese eigentlich unüberbrückbaren Gegensätze vermochte Eastwood zu überwinden. Er brachte den Traum auf die Leinwand, dass der Einzelne sich über moraljuristische Bedenken und eine behäbige, politisch manipulierbare Bürokratie erheben und nach seinem eigenen Leitgesetz agieren kann.“ (S. 99) 
Alexander Kluy gibt auf 100 Seiten eine wirklich gelungene Einführung in das Leben und Wirken von Clint Eastwood, wobei er sich glücklicherweise nicht nur auf die Aufzählung interessanter Fakten beschränkt, sondern auch auf die Rezeption und Interpretation einiger Schlüsselwerke des noch immer nicht müden Filmemachers eingeht. Neben einigen wenig bekannten Fotos runden auch einige Infografiken beispielsweise zu den rasant gestiegenen Produktionsbudgets von „Für ein paar Dollar“ (200.000 US-Dollar) bis zu „Space Cowboys“ (65 Millionen US-Dollar), zu der Entwicklung von Eastwoods Honoraren und zu den von Clint Eastwood in seinen Filmen verwendeten Waffen das Büchlein ab, in dem auch Eastwoods politischen Ambitionen und familiären Verhältnisse skizziert werden. Einige – meist englischsprachige – Lektüretipps zum Weiterlesen runden dieses feine Bändchen ab.

Helmut Reinalter – „Geheimbünde“

(Reclam, 100 S., Tb.)
Die Tatsache, dass mit einem „Geheimnis“ Kenntnisse beschrieben werden, die nur von einem beschränkten Kreis von Wissenden geteilt und vor der Allgemeinheit verborgen werden, hat immer wieder zu der Annahme (durch die von diesen Kenntnissen Ausgeschlossenen) geführt, dass die Geschicke der Welt von konspirativen Kräften, von mächtigen Geheimbünden gelenkt werden. Nicht zuletzt die ebenso erfolgreich verfilmten Bestseller von Dan Brown („Illuminati“, „Sakrileg“) haben diesen Verschwörungstheorien neue Nahrung verliehen.
Helmut Reinalter, ehemals Professor für Geschichte der Neuzeit und Politische Philosophie an der Universität Innsbruck und nun Leiter eines privaten Forschungsinstituts für Ideengeschichte, beteiligt sich nicht an solchen Spekulationen, sondern gibt in dem schmalen Band der 100-Seiten-Reihe von Reclam einen kurzen Überblick über Geschichte, Verbreitung und Struktur von Geheimbünden.
Dazu unterscheidet er in seinem Vorwort zwischen Geheimnis, Geheimwissen und Geheimgesellschaft, wobei Geheimbünde nach äußerlichen und inhaltlichen Kriterien ebenso unterschieden werden wie in ihrer gesellschaftlichen Zuordnung und Einbindung. Nach einer kurzen Klärung der Begriffe „Okkultismus“ und „Verschwörungstheorien“ handelt der Autor verschiedene Geheimbünde nach ihrer territorialen Zugehörigkeit ab, angefangen bei berühmten europäischen Geheimbünden wie die Rosenkreuzer, Freimaurer, Illuminaten über nicht so vertraute Gruppierungen wie die Deutsche Union, die italienische Carboneria bis zu sozialistischen Geheimgesellschaften und Studentenverbindungen. Die Mafia, mithin als Synonym für „organisierte Kriminalität“ verwendet, nutzte die Geldwäsche, um sich international von der klassischen zur modernen Mafia weiterzuentwickeln und verschiedene Organisationen wie die Camorra, Cosa Nostra, ´Ndrangheta und Sacra Corona Unita herauszubilden.
Im letzten Fünftel des schmalen Bandes werden schließlich kurz afrikanische, asiatische und islamische Geheimbünde vorgestellt, bevor die Abhandlung mit einem Abriss über den Ku-Klux-Klan ausklingt.
„Den Geheimbünden wird von ihren Gegnern nicht nur Machtmissbrauch unterstellt, sondern gern auch das Ziel, die Weltregierung bzw. Weltherrschaft anzustreben. Der erwähnte Vorwurf des Machtmissbrauchs wird manchmal mit dem Geheimwissen und der Geheimhaltung begründet. Auch die exklusive Mitgliedschaft spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dass Geheimbünde den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflusst hätten, ist aber mit Sicherheit im Bereich der Legendenbildung anzusiedeln.“ (S. 98) 
Wer sich einen ersten Überblick über die Geschichte und Struktur von Geheimbünden verschaffen möchte, ist mit dem sehr nüchtern geschriebenen 100-Seiten-Bändchen von Helmut Reinalter gut bedient. Zwar sind die Abhandlungen zu den einzelnen Geheimorganisationen wirklich sehr kurz ausgefallen, wobei aber beispielsweise der Hermetic Order of the Golden Dawn oder der Ordo Templi Orientis gar keine Erwähnung finden, aber schließlich gibt es genügend weiterführende Literatur (so gibt es in der 100-Seiten-Reihe auch einen eigenen Band zur „Mafia“) zu den einzelnen Themen, von denen der Autor abschließend auch einige auflistet.

Anna Burns – „Milchmann“

Samstag, 22. Februar 2020

(Tropen, 456 S., HC)
Sie nennt sich selbst „Vielleicht-Freundin“, weil sich die Identität der 18-jährigen Protagonistin vor allem aus der unverbindlichen Quasi-Beziehung mit „Vielleicht-Freund“ herauskristallisiert. Vielleicht deshalb, weil sie sich aus verschiedenen Gründen definitiv nicht vorstellen kann, mit „Vielleicht-Freund“ zusammenzuleben. Aber dann ist da noch das Gerede über den ominösen, immerhin schon einundvierzigjährigen „Milchmann“, seit Schwager Eins womöglich das Gerücht in die Welt gesetzt hat, dass sie eine Affäre mit dem Mann unterhalte. Dabei hat sie den Annäherungsversuchen von „Milchmann“ nie nachgegeben, ist nie in sein Auto gestiegen, wenn er neben ihr hielt, während sie im Gehen in „Ivanhoe“ las.
Ma hat dagegen ganz konkrete Vorstellungen über den idealen Mann für ihre Tochter, die noch drei jüngere Schwestern hat sowie einen im Bürgerkrieg gefallenen Bruder und einen, der vor dem Bürgerkrieg geflohen ist. Die an sich unkomplizierte Beziehung mit „Vielleicht-Freund“, das gelegentliche Joggen mit Schwager Drei, das Besuchen eines Französisch-Kurses im Stadtzentrum sowie das Lesen im Gehen bieten „Vielleicht-Freundin“ ausgesuchte Fluchtmöglichkeiten aus der brutalen Realität, in der die paramilitärischen „Verweigerer“ auf die Soldaten des „Landes jenseits der See“ treffen. Dass sich „Vielleicht-Freundin“ mit einem „Verweigerer“, „Milchmann“, einlässt, macht sie verdächtig, und schon bemerkt sie beim Joggen mit Schwager Drei stets das Klicken von Kameras aus den Büschen heraus.
Aber sie zieht durch diese Gerüchte auch „Verweigerer“-Groupies an, Mädchen, die mit gutgemeinten Ratschlägen ihre Freundschaft zu erringen bemüht sind. Aber die erschreckende Realität lässt „Vielleicht-Freundin“ ihre eigene Geschichte schreiben …
„In einem Bezirk, der von Verdächtigungen, Mutmaßungen und Vagheit lebte, wo alles spiegelverkehrt war, war es außerdem unmöglich, eine Geschichte zu erzählen oder sie eben nicht zu erzählen und einfach den Mund zu halten, nichts konnte hier gesagt oder nicht gesagt werden, das nicht hinterher als einzig wahre Wahrheit verbreitet wurde.“ 
Die 1962 in Belfast geborene Anna Burns hat bereits in ihrem 2001 veröffentlichten Debütroman „No Bones“ ihre Erfahrungen mit dem nordirischen Bürgerkrieg verarbeitet. Nun wird ihr u.a. 2018 mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichneter Roman „Milkman“ auch hierzulande veröffentlicht. Es bedarf einer gewissen Eingewöhnung in den fraglos wortgewaltigen, sprachgewandten Stil der Nordirin, die ihre Geschichte seltsam unverortet in Zeit und Raum als endlosen Monolog durch die namenlose Protagonistin erzählen lässt. Dennoch braucht es nur wenige Seiten, bis auch der letzte Leser begreift, dass Burns hier eine sehr persönliche Sichtweise auf den besagten Bürgerkrieg offenbart.
Es ist keine leichte Lektüre, die die Preisträgerin mit „Milchmann“ offeriert. Schließlich bietet der durchgängige Monolog so gut wie keine Handlung, dafür aber eine für ein 18-jähriges Mädchen sehr reife, vielschichtige Reflexion über die beängstigenden Ereignisse um sie herum. In einer bedrohlichen Atmosphäre, in der die Angst immer neue paranoide Züge annimmt, sieht sich die Ich-Erzählerin gezwungen, ihren eigenen Weg zu gehen, auch entgegen der gutgemeinten Ratschläge ihrer Mutter und der bösartigen Gerüchte über ihre nicht existierende Beziehung zum „Milchmann“. Indem sie sich einer konventionellen Dramaturgie verweigert und „Milchmann“ als Tagebuch-ähnliche Selbstreflexion anlegt, untergräbt sie nicht nur die Lesegewohnheiten ihres Publikums, sondern fordert auch dessen anhaltende Aufmerksamkeit heraus. Dass „Milchmann“ gerade zum „Brexit“ auch in Deutschland veröffentlicht wird, mag kein Zufall sein, lenkt der außergewöhnliche Roman den Blick über die Grenzen zementierter Meinungen hinaus und wartet bei aller Ernsthaftigkeit mit erfrischend schwarzem Humor auf.
Leseprobe Anna Burns - "Milchmann"

Wallace Stroby – (Sara Cross: 1) „Zum Greifen nah“

Dienstag, 18. Februar 2020

(Pendragon, 358 S.,Pb.)
Als die Streifenpolizistin Sara Cross in einer Nacht Mitte Oktober zu einem Tatort gerufen wird, stößt sie auf niemand Geringeren als ihren Kollegen und Ex-Freund Billy Flynn vor einem Honda aus New Jersey. Für den jungen, viel zu gut für diese Gegend gekleideten Schwarzen am Boden kommt jede Hilfe zu spät. Wie Billy ihr glaubhaft versichert, hat er den Fahrer des Wagens wegen seiner merkwürdigen Fahrweise zum Stehen und Aussteigen aufgefordert, doch als der Unbekannte den Kofferraum öffnen sollte, schien er mit dem nun am Boden liegenden Taurus-Revolver das Feuer auf Billy eröffnen zu wollen, worauf der Cop den Mann mit drei Schüssen in die Brust und in die Seite niederstreckte.
Im Kofferraum des Wagens entdeckt Sara eine Nylontasche voller Waffen. Für Sheriff Hammond, den stellvertretenden und für interne Ermittlungen zuständigen Sheriff Elwood und Boone vom Büro des Staatsanwalts in La Belle scheint die Sache ebenso klar zu sein, dass es sich um „unvermeidliche Schüsse“ handelte, doch Sara hat so ihre Zweifel, die nicht nur dadurch verstärkt werden, dass die Lebensgefährtin des getöteten Derek Willis auftaucht, um sich eine eigene Meinung von den Ereignissen zu bilden, sondern auch durch Billys Verhalten, der auf einmal wieder die Nähe von Sara sucht, die ihn vor zwei Jahre in die Wüste schickte, weil er sich mit einer anderen Frau herumgetrieben hatte. Dass an der ganzen Sache etwas faul ist, wird Sara spätestens dann klar, als üble Typen in der Kleinstadt auftauchen, die offensichtlich eine Menge Geld vermissen …
„Ob Elwood und der Sheriff wohl auch über die Taurus ins Grübeln gekommen waren? Und falls nicht: Machte es überhaupt noch Sinn, ihre Aufmerksamkeit auf diese Ungereimtheit zu lenken? Der Fall war angeschlossen, Billy juristisch entlastet. Wäre es nicht etwas seltsam, wenn gerade sie den Fall wieder aufrollen würde?“ (S. 183) 
Der ehemalige Polizeireporter Wallace Stroby hat bereits mit der Auftragsdiebin Crissa Stone eine faszinierende Frauenfigur geschaffen, die immerhin in vier Fällen die Krimi-Leserschaft fesseln durfte. Mit der taffen Kleinstadt-Polizistin Sara Cross sorgt der Bielefelder Pendragon-Verlag nun für adäquaten Nachschub und veröffentlicht den bereits 2009 erschienen ersten Band der Reihe um Kleinstadtpolizistin Sara Cross, „Gone ´Til November“, als deutsche Erstausgabe. Der temporeiche Krimi beginnt gleich mit dem Besuch des Tatorts, auf den in rascher Folge noch einige weitere folgen werden. Erst nach und nach werden die Figuren eingeführt. Sara Cross wird als alleinerziehende Mutter eingeführt, deren sechsjähriger Sohn Danny gerade eine Erstbehandlung wegen Leukämie zu verkraften hat. Billy erweist sich dagegen als charakterschwacher Ex-Freund, dem zwar noch spürbar viel an Sara liegt, aber jetzt mit einer echten Schlampe liiert ist und der ganz offensichtlich Dreck am Stecken hat.
Die Spannung wird aber vor allem durch das Eintreffen des darmkrebskranken Morgan erzeugt, der im Auftrag des Drogenhändlers Mikey das Geld wiederbeschaffen soll, dass nach Dereks Tod spurlos verschwunden zu sein scheint. Zur Sicherheit schickt Mikey auch noch die beiden Brüder Dante und DeWayne hinterher. Wirklich überraschende Wendungen hat „Zum Greifen nah“ nicht zu bieten. Tatsächlich spult Stroby den Plot absolut schnörkellos zu seinem voraussagbaren Ende ab. Die Dialoge zwischen Sara und Billy, in denen immer wieder Billys Fehler und Entschuldigen thematisiert werden, nerven auf Dauer etwas, auch wird in den Szenen zwischen Sara und ihrem Sohn längst nicht das Potential der emotional aufgeladenen Beziehung erschöpft. Wer sich an den recht oberflächlich gezeichneten Figuren aber nicht stört und einfach unkomplizierte und straff inszenierte Krimi-Action konsumieren möchte, ist mit „Zum Greifen nah“ gut bedient.

Dirk Kurbjuweit – „Haarmann“

Montag, 17. Februar 2020

(Penguin, 318 S., HC)
Zwischen dem 12. Februar 1923 und Ende Oktober sind in Hannover zehn Jungs zwischen 13 und 18 Jahren spurlos verschwunden. Als Robert Lahnstein aus Bochum zur Unterstützung bei den Ermittlungen in Hannover eintrifft, entdeckt er keine Zusammenhänge zwischen den Jungen. Also hofft er insgeheim auf den nächsten Fall, auf eine Leiche oder eine andere Spur. Auch die politische Atmosphäre ist angespannt. Die Wunden des Ersten Weltkriegs sind noch nicht verheilt, die Weimarer Republik noch nicht etabliert, aufständische Kräfte nicht unter Kontrolle. Es herrschen Hunger und Armut. Ein Putschversuch in München schlägt fehl. Während Herman Göring flüchten konnte, sitzt Adolf Hitler in Untersuchungshaft.
Neben den Nationalsozialisten gefährden auch die Monarchisten und Kommunisten die Stabilität der jungen Demokratie. Dann melden Jakob Hannappel und seine Frau ihren fünfzehnjährigen Adolf als vermisst. Bei Lahnstein verhärtet sich allmählich der Verdacht, dass der Täter aus dem Schwulen-Milieu kommt, und seine Zimmerwirtin bringt ihn auf die Spur von Haarmann, der auf Jungs steht und die bei ihm verschwinden, wie der Zigarrenhändler Klobes bestätigen kann, der gegenüber wohnt. Doch die Polizei ist diesen Hinweisen bislang nicht ernsthaft nachgegangen und bedient sich auch gewalttätiger Praktiken in den Verhören, um bei den Ermittlungen endlich voranzukommen. Lahnstein ist das alles zuwider.
Natürlich ist auch er frustriert über den ausbleibenden Fortschritt bei der Suche nach dem Täter, freundet sich aber mit der Mutter eines Jungen an, dessen Tabakladen er immer wieder aussucht, nachdem Lahnstein einen aufdringlichen Kunden in die Flucht schlagen konnte. Vot allem setzt sich der Kommissar mit Fritz Haarmann auseinander, findet endlich seine untergetauchte Akte und erfährt von dessen ersten Strafverfahren wegen unzüchtigen Verhaltens. Später stellt ein Stadtarzt bei Haarmann „unheilbaren Schwachsinn“ fest. Lahnstein bestellt Haarmann immer wieder zum Verhör ein, doch bestreitet er stets die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe. Schließlich bittet Lahnstein einen seinen alten Kollegen Georg, Haarmann zu beschatten, da er den Kollegen in Hannover um den zwielichtigen Müller nicht trauen kann.
„Ich dachte erst, ich müsse einen Täter suchen, der im Krieg war, dem die Maßstäbe verrutscht sind, für den der Tod eine Alltäglichkeit ist, auch der Tod in Massen. Im Krieg ging einem doch zwangsläufig das Gefühl dafür verloren, dass es ein Recht auf Leben gibt, dass jedes Leben wertvoll ist.
Das stimmt, sagt Georg, aber man kann sich dieses Gefühl zurückerobern, wie man an uns und den meisten anderen Kameraden sieht. Wir haben das Töten beendet.“ (S. 204) 
Der „Zeit“- und „Spiegel“-Reporter Dirk Kurbjuweit hat sich seit seinem Debüt als Schriftsteller mit „Die Einsamkeit der Krokodile“ (1995) konstant als vielseitiger und gefeierter Autor etabliert, der mit seinem wahren Kriminalroman „Haarmann“ in die faszinierende Welt der 1920er Jahre taucht, die nicht zuletzt durch Tom Tykwers grandiose Fernsehserie „Babylon Berlin“ in aller Munde ist. Kurbjuweit nimmt den spektakulärsten Serienmord der deutschen Kriminalgeschichte als Aufhänger für einen packendes Krimi-Drama, das vor allem von Verunsicherung, Ohnmacht und Gewalt geprägt ist. Dabei portraitiert der Autor seinen leitenden Kommissar Lahnstein als ehemaligen Flieger, der in Yorkshire in Kriegsgefangenschaft geraten ist und während seiner Abordnung nach Hannover sich nicht nur an die Erlebnisse in England zurückdenkt, sondern auch an seine Lissy und ihr gemeinsames Kind August. Doch diese Erinnerungen verblassen immer mehr angesichts der schrecklichen Ereignisse in Hannover, wo sich Lahnstein nicht nur mit der eigenen Unfähigkeit konfrontiert sieht, die Serie von verschwundenen Jungen zu beenden und den dafür verantwortlichen Täter aufzuhalten, sondern auch mit einem korrupten Polizeiapparat, der angesichts der unruhigen politischen Verhältnisse meint, in einem rechtslosen Raum nach eigenem Gutdünken agieren zu können.
Ebenso faszinierend wie die Jagd nach dem Täter ist aber auch Haarmanns Psychogramm ausgefallen. Indem Kurbjuweit immer wieder auch Haarmann selbst zu Wort kommen lässt und so seine Perspektive verständlich macht, verschwindet zunehmend der Eindruck, dass Haarmann schwachsinnig sei. Stattdessen wird deutlich, wie abhängig er von seinem Geschäftspartner Hans Grans war, von dem er doch nur geliebt werden wollte, und wie rasend er bei den Zusammenkünften mit den Jungen wurde, dass er ihnen in den Hals biss, bis sie tot waren. Kurbjuweit schildert in „Haarmann“ nicht nur einen faszinierenden Kriminalfall, sondern fesselt dabei durch eindringliche Charakterstudien und akzentuierte Beschreibungen der gesellschaftspolitischen Atmosphäre in der jungen Weimarer Republik.
Leseprobe Dirk Kurbjuweit - "Haarmann"

Ben Smith – „Dahinter das offene Meer“

(Liebeskind, 254 S., HC)
Ein namenloser Junge und ein ebenso namenloser alter Mann warten im Auftrag einer ungenannten Firma in einer unbestimmten Zeit einen grenzenlos erscheinenden Windpark in der Nordsee. Das Meer macht alles anonym. Die Arbeit wird allerdings meist nur provisorisch verrichtet. Alle paar Monate bringt ein Versorgungsschiff Proviant und Ersatzteile, doch mit den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Ersatzteilen konnten nur kleinere Reparaturen erledigt werden, so dass der Windpark meist nur mit einer Leistung von unter sechzig Prozent läuft. Ein automatisches Instandhaltungssystem unterrichtet die beiden Mechaniker, welches Windrad welches Problem hat und was es zur Reparatur benötigt, doch über die Jahre hat das System an Zuverlässigkeit eingebüßt.
Tag für Tag machen sich der Junge und der alte Mann auf den Weg zu den reparaturbedürftigen Windrädern, ohne viele Worte miteinander zu wechseln. Meist geht es nur um die Sehnsucht nach richtigem Essen, weil sie das ewige Allerlei aus den Dosen nicht mehr ertragen. Abwechslung bringt nur der Müll, den die Strömungen antreiben. Möbel, brüchige Gehäuse elektrischer Geräte, verblichene Kleidung, einmal sogar ein ganzes, aus seiner Verankerung gerissenes Haus finden sich hier neben den üblichen Plastiktütenschwärmen.
Doch eines Tages entdeckt der Junge ein verschollenes zweites Wartungsboot, mit dem offensichtlich sein Vater, dessen Platz im Windpark er nach seinem Verschwinden eingenommen hatte, zur offenen See hinaus fahren wollte. Die Erinnerungen des Jungen an ihn sind sehr verschwommen. Nur der Schiffsführer des Versorgungsschiffes vermittelt ihm einige Eindrücke, die den Jungen neugierig machen. Da der alte Mann aber Schweigen über das Schicksal seines Vaters bewahrt, macht sich der Junge während seiner Wartungsmissionen heimlich auf die Suche nach seinem Vater, doch der alte Mann scheint ihm schnell auf die Schliche gekommen zu sein …
„Erst, als der alte Mann zurück zur Plattform kam, begriff der Junge, was da vorging. Das Boot folgte exakt der Route, die er, der Junge, genommen hatte, als er von den Windrädern zurückgekommen war, einschließlich des Abstechers, den er dabei gemacht hatte.
Der Junge lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte auf den Bildschirm. Jetzt folgte der alte Mann ihm.“ (S. 121) 
Der britische Literaturwissenschaftler Ben Smith lehrt an der Universität Plymouth Kreatives Schreiben, wobei das Thema Klimawandel einen besonderen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet. Für seinen ersten Roman hat er sich folglich auf vertrautes Terrain begeben und ein mehr als tristes Bild einer Welt gezeichnet, aus der er allerdings nur einen verschwindend kleinen Teil präsentiert. Der Mikrokosmos eines maroden Windparks in der Nordsee ohne Aussicht auf die Vergnügungen einer hedonistischen und verschwenderischen Gesellschaft bildet die Bühne für ein Kammerspiel mit sehr überschaubarem Ensemble und ebenso minimal inszenierten Plot. Smith nimmt sich viel Zeit, die bescheidenen Lebensumstände der beiden Mechaniker zu beschreiben, den frustrierenden Arbeitsalltag, die wenig schmackhafte Nahrungsaufnahme und die kaum greifbaren Freizeitbeschäftigungen. Es wird nicht mal viel gesprochen, was es dem Leser schwer macht, sich in die anonymen Figuren hineinzufühlen. Auf den gut 250 Seiten passiert eigentlich nicht viel. Die Suche des Jungen nach seinem Vater bedeutet den einzigen Ausbruch aus dem ewig gleichen Alltag, bringt die Geschichte aber nicht wirklich voran und bewirkt noch weniger eine Entwicklung der Figuren.
Das Versteckspiel zwischen dem Jungen und dem alten Mann ist weder spannend inszeniert, noch verändert es den Blick des Lesers auf die postapokalyptische Welt, die Smith hier beschreibt. Die Reduzierung auf das Wesentliche in dieser dystopischen Geschichte übt fraglos einen gewissen Reiz aus, wobei die klare Sprache auch eine düstere atmosphärische Dichte kreiert, doch mich persönlich hat „Dahinter das offene Meer“ einfach nur gelangweilt.

Takis Würger – „Der Club“

Sonntag, 16. Februar 2020

(Kein & Aber, 238 S., Tb.)
Hans Stichler wurde im südlichen Niedersachsen als Sohn einer lungenkrebskranken Mutter und eines Mannes geboren, der seinen Job als Architekt aufgab, um sich um seine Familie zu kümmern und seinem Sohn später für das Boxen zu begeistern, damit er sich gegen vermeintlich Stärkere zur Wehr setzen könne. Mit fünfzehn Jahren boxte Hans in einem Club und wurde von seinem Vater zu einem Turnier nach Brandenburg gefahren, doch der Wagen kam bei eisglatter Straße ins Schlittern und der Vater wurde anschließend von einem LKW erfasst und getötet. Nachdem auch seine Mutter verstorben war, seine in England lebende Tante Alex sich seiner aber nicht annehmen wollte, wurde Hans in einem jesuitischen Internat untergebracht, wo er im Weinkeller mit Pater Gerald weiterboxen konnte.
Doch dann meldet sich seine Tante Alex und lädt ihn nach Cambridge ein, wo er nicht nur ein Stipendium vermittelt bekommt, sondern für seine Tante auch ein Verbrechen aufklären soll. Er soll in den elitären Pitt Club eingeschleust werden, wobei ihm die hübsche Charlotte und vor allem ihr Vater behilflich sind, doch Hans beschleicht dabei zunehmend das Gefühl, dass er selbst etwas Unrechtes tun muss, um sich das Vertrauen seiner neuen Freunde zu verdienen, die er anschließend verraten müsste …
„Ich feierte in dem Club, in dem meine Freundin missbraucht worden war, und sprach zu vertraut mit einer anderen Frau. Ich trank und tanzte mit Männern, die es getan haben konnten.
An manchen Abenden in diesem Club hatte ich mich gefühlt, als löste sich mein Ich langsam auf und irgendwann bliebe nur noch Hans Stichler übrig. Aber an diesem Abend wusste ich genau, wer ich war und wer ich nicht sein wollte.“ (S. 179) 
An sich ist das Thema von moralisch fragwürdigen Handlungen in elitären Studentenverbindungen nicht neu, und Takis Würger, mit dem Deutschen Reporterpreis und dem CNN Journalist ausgezeichneter „Der Spiegel“-Reporter, vermag diesbezüglich in seinem Debütroman „Der Club“ auch wenig Neues dazu beitragen. Dafür liest sich die knackig kurze Geschichte, in der Würger seine eigenen Erfahrungen, die er während seines Studiums der Ideengeschichte in Cambridge sammelte, wo er auch als Schwergewicht im Amateurclub boxte, einfließen lässt, sehr kurzweilig, weil er seine Figuren so lebendig portraitiert.
Zwar steht dabei vor allem der eröffnende Ich-Erzähler Hans Stichler im Vordergrund, doch seine Tante Alex und später auch Charlotte, ihr Vater Angus und die Pitt-Club-Mitglieder Josh und Billy bekommen ebenso immer mal Gelegenheit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Würger vermeidet es dabei, die Figuren in Schubladen zu stecken. Es geht ihm vor allem um die moralischen Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lügen, Vertrauen und Verrat.
Dabei befindet sich Hans in einem größer werdenden Dilemma, denn sobald er erfährt, dass seine Freundin Charlotte als Opfer aus den Handlungen der Club-Mitglieder hervorgegangen ist, muss sich Hans entscheiden, ob er sich für sie als Racheengel einspannen lässt und dafür seine neu gewonnenen Freunde verrät. Auch wenn Würger tiefer gehende Charakterisierungen vermissen lässt, versteht er es, durch seine klare Sprache und die akzentuiert vorangetriebene Handlung zu fesseln, wobei Humor und Romantik den Krimi-Plot stimmig auflockern. So beschreibt der Autor nicht nur in kurzen, aber eindringlichen Zügen, wie sein junger Protagonist aus der deutschen Provinz Karriere in einem elitären Club einer Elite-Universität macht, sondern koppelt diese Entwicklungsgeschichte mit einer zarten Romanze und den abgehobenen Allmachtsphantasien reicher Schnösel, die glauben, aufgrund ihrer Herkunft alles tun zu können, wonach ihnen gerade so ist – ohne Rücksicht auf die Gefühle und das Leben anderer Menschen.

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 3) „Das falsche Urteil“

Donnerstag, 13. Februar 2020

(Weltbild, 310 S., HC)
Am 24. August 1993 wird Leopold Verhaven nach 24 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen der beiden Morden an zwei Frauen gesessen hatte. Doch das Glück der Freiheit währt nur kurz. Noch am Entlassungstag wird er selbst ermordet, seine verstümmelte Leiche – ohne Kopf, Hände und Füße – in einem Teppich eingewickelt erst acht Monate später bei einem Ausflug mit vierzehn Kindergarten-Kindern in einem Graben entdeckt. Unter der Leitung von Polizeichef Hiller die Kommissare Münster, Rooth, deBries und Reinhart sowie die Hauptkriminalassistenten Jung und Moreno die Ermittlungen aufnehmen, unterzieht sich ihr Kollege Van Veeteren einer Darmkrebs-Operation.
Da eine Identifizierung des ungefähr sechzigjährigen Toten unmöglich ist, werden zunächst passende Fälle von Vermissten überprüft, doch erst ein Hinweis aus der Bevölkerung, die durch die Medien zur Mithilfe gebeten wurde, gelangen die Ermittler auf die Fährte von Verhaven, der 1962 erst Beatrice Holden und 1981 Marlene Nitsch ermordet haben soll und der Erste in Schweden war, der ohne Geständnis wegen Mordes verurteilt worden war – beide Male durch Richter Heidelbluum. Für den frisch operierten Van Veeteren und seine aktiven Kollegen stellt sich sofort die Frage nach dem Motiv. Fand Verhavens Mörder, dass der Verurteilte noch nicht genug bestraft worden sei?
Oder war Verhaven tatsächlich unschuldig, und der wahre Täter beabsichtigte mit dem Mord an Verhaven, dass dieser nichts mehr ausplaudern könnte, das auf den wirklichen Mörder hingewiesen hätte? Van Veeteren und seine Leute beschließen, die für die Verurteilung maßgeblichen Zeugen noch einmal zu befragen. Dabei erfahren sie nicht nur, dass Verhaven bereits in der Schule ein eigenbrödlerischer Sonderling war, der aber als Mittelstreckenläufer sämtliche Rekorde brach, bis er des Dopings überführt wurde und nach seinem abrupten Karriereende zurückgezogen in einem Dorf eine Hühnerzucht betrieb. Mit seiner Lebensgefährtin Beatrice Holden stritt er sich oft. Deshalb wird Verhaven, als sie nackt in einem Wald tot aufgefunden wird, in einem Indizienprozess erstmals zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Ähnlich liegt der nächste Fall nach Verhavens Entlassung, als er erneut wegen des Mordes an einer Frau aus seinem Umfeld ohne stichhaltige Beweise verurteilt wird. Obwohl Van Veeteren nach seiner Operation noch vom Dienst freigestellt ist, lässt ihn die Suche nach dem wahren Mörder keine Ruhe, da er zunehmend das Gefühl bekommt, dass Verhaven tatsächlich fälschlicherweise vierundzwanzig Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hat …
„Was zum Teufel, mache ich eigentlich hier, dachte er plötzlich. Was bilde ich mir eigentlich ein, was das helfen soll, dass ich hier herumschnüffele … und selbst, wenn mir das endlich eine Vorstellung davon gibt, wer Verhaven wirklich war, dann bringt mich das doch wohl keinen Zentimeter näher an die Antwort heran?
An die Antwort auf die Frage, wer ihn ermordet hat, nämlich.“ (S. 224) 
In dem dritten Krimi nach „Das grobmaschige Netz“ und „Das vierte Opfer“ um den schon etwas ausgebrannten schwedischen Kriminalkommissar Van Veeteren übernehmen dessen Kollegen die Laufarbeit, während der für seinen guten Instinkt berüchtigte Kommissar sich von seiner Operation erholen muss. Natürlich hält ihn das nicht davor zurück, selbst auf eigene Faust mit einer vorgetäuschten Identität Erkundigungen bei den Zeugen für Verhavens Verurteilung einzuholen. Nesser beschreibt dabei sehr gekonnt, wie sich die Vorurteile in einem Dorf gegen einen Mann verdichten, der schon immer aus der Reihe gefallen ist und ja durch seine Doping-Affäre hinlänglich bewiesen habe, dass er ein Betrüger sei – warum dann nicht auch ein Mörder? Natürlich erweist sich Van Veeterens Instinkt wieder als goldrichtig. Doch so wirklich nah kommt man dem Kommissar und den vielen Figuren dabei nicht. Durch die wechselnden Zeit- und Perspektivwechsel erzeugt der Autor eher ein Gefühl für die Atmosphäre der Vorverurteilung des mutmaßlichen Täters durch die Dorfgemeinschaft als handlungsintensive Spannung.
Leseprobe Hakan Nesser - "Das falsche Urteil"

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 2) „Hunde von Riga“

Sonntag, 2. Februar 2020

(Zsolnay, 334 S., HC)
Im Februar 1991 erhält das Polizeipräsidium von Ystad einen anonymen Hinweis, dass vor der schonischen Ostseeküste ein Rettungsboot mit zwei toten Männern an Land treiben würde, das wenig später tatsächlich von einer Frau beim Hundespaziergang bei Mossby Strand entdeckt wird. Da es sich bei den jeweils mit einem Schuss ins Herz getöteten, zuvor brutal gefolterten um Letten handelt, bittet die schwedische Polizei die lettischen Behörden um Mithilfe. Ein hinzugezogener Kapitän identifiziert das nicht gekennzeichnete Rettungsboot als ein Produkt jugoslawischer Herkunft, dessen Typ er auf einmal auf einem russischen Fischerboot gesehen habe. Der mit den Ermittlungen betraute Kommissar Kurt Wallander erfährt bei dem Treffen mit einem anonymen Zeugen, dass das Boot offensichtlich schon längere Zeit auf dem Wasser getrieben sei und aus dem Baltikum stamme. Wallanders Team bekommt nicht nur Unterstützung von zwei Kollegen aus Stockholm, sondern vom Außenministerium auch Birgitta Törn zur Beobachtung entsandt.
Über Moskau wird schließlich die lettische Polizei informiert, die mit Major Karlis Liepa einen hohen Ermittlungsbeamten aus Riga nach Ystad schickt. Doch als das Rettungsboot aus dem Keller des Präsidiums gestohlen wird, gibt es für Liepa nichts weiter zu tun. Kurz nach seiner Rückkehr nach Riga wird Liepa jedoch ermordet und Wallander von der Polizei dort eingeladen, an der Aufklärung des Mordes mitzuwirken.
Liepas Vorgesetzten, die beiden Polizei-Obersten Murniers und Putnis, scheinen den Fall schnell aufgeklärt zu haben, können sie doch einen geständigen Mann vorweisen. Doch nicht nur Wallanders Instinkt sagt ihm, dass an der Sache etwas faul sein muss, auch Liepas Witwe Baiba ist überzeugt, dass ihr Mann einer gewaltigen Verschwörung auf die Spur gekommen sein muss, in die die restaurative Sowjetpolitik, die russische Mafia und die korrupte Polizei involviert ist. Wallander wird wieder nach Schweden zurückgeschickt, verspricht Baiba, in die er sich mittlerweile verliebt zu haben glaubt, dass er mit einer gefälschten Identität zurückkommen wird, um das irgendwo versteckte Testament ihres Mannes aufzuspüren. Dazu nehmen sie die Hilfe der lettischen Untergrundbewegung in Anspruch, doch kann jede Vorsicht nicht verhindern, dass Wallanders Begegnung mit Baiba nicht unbemerkt bleibt. Wallander ist überzeugt, dass entweder Murniers oder Putnis für Major Liepas Ermordung verantwortlich gewesen sein muss …
„Ich suche nach dem Wächter, und das muss Baiba Liepa erfahren. Irgendwo verbirgt sich ein Geheimnis, das nicht verloren gehen darf. So geschickt versteckt, dass es nur von ihr gefunden und gedeutet werden kann. Denn ihr hat er vertraut, sie war in einer Welt, in der alle anderen gefallene Engel waren, der Schutzengel des Majors.“ (S. 218) 
Mit dem 1992 veröffentlichten zweiten Band um den nun 43-jährigen schwedischen Kleinstadt-Kommissar Kurt Wallander hat der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell die schwierige Loslösung der baltischen Sowjetrepubliken Anfang der 1990er Jahre zum Parkett für seine außergewöhnliche Story gemacht. Durch das Antreiben der zwei lettischen Leichen an der schonischen Küste wird Wallander direkt in den Kampf um die politische Vorherrschaft in Lettland hineingezogen, wo die korrupten Bewahrer des sozialistischen Systems auf die demokratisch orientierten Erneuerer treffen. Mankell gelingt es einmal mehr, seinen Protagonisten auf sympathische Weise zu charakterisieren, wozu die seltenen Treffen mit seinem Vater zählen, der es seinem Sohn nie verziehen hat, Polizist geworden zu sein, die ebenso seltenen Telefonate mit seiner Tochter Linda, die längst ihr eigenes Leben lebt, aber auch die Frage, ob er seinen Beruf nicht an den Nagel hängen und stattdessen beim Sicherheitsdienst einer großen Reifenfirma anheuern sollte. Mankell zeichnet Wallander als Menschen aus Fleisch und Blut, als einfühlsamen Polizisten, der sich in eine jüngere Frau aus einem ihm gänzlich fremden Land verliebt, weil sie ihn braucht, um das Testament ihres ermordeten Mannes zu finden und damit die von ihm aufgedeckte Verschwörung zu entlarven.
„Hunde von Riga“ besticht in der atmosphärisch stimmigen, wenn auch bedrückenden Beschreibung der schwierigen gesellschaftspolitischen Übergangssituation in Lettland, in der es schwierig zu entscheiden war, wer zu dem restriktive und wer zu dem fortschrittlichen Lager zählt – was oft den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte. In dieses düstere Szenario hat Mankell einen packenden Krimi-Plot gepackt, der den Leser bis zum Epilog zu fesseln versteht.