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Donal Ryan – „Seltsame Blüten“

Mittwoch, 21. Februar 2024

(Diogenes, 272 S., HC) 
Dafür, dass sich Hartnäckigkeit durchaus auszahlen kann, ist der Ire Donal Ryan ein vorzügliches Beispiel. Von dem Umstand, dass seine ersten Romane 47-mal abgelehnt wurden, ließ er sich nicht beirren. Nachdem Lilliput Press ab 2012 Ryans ersten beiden Werke veröffentlicht hatte, wurde auch der Diogenes Verlag auf das Talent aufmerksam und legt nach „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“, „Die Lieben der Melody Shee“ und „Die Stille des Meeres“ nun mit „Seltsame Blüten“ bereits den fünften Roman eines Autors vor, der für seine früheren Werke gleich mehrmals mit dem Irish Book Award ausgezeichnet worden ist. 
Irland im Jahr 1973. Mit ihren jeweils um die 60 Jahren leben Kit und Paddy Gladney gottesfürchtig, einfach, aber zufrieden in einem kleinen Cottage in Knockagowny, County Tipperary. Paddy fährt morgens mit der Post durch den Ort und arbeitet nachmittags als Knecht auf der Jackmans, während Kit sich neben dem eigenen Haushalt um die Buchführung einiger Kaufleute in der Gegend kümmert. 
Dass ihre einzige Tochter Moll als Zwanzigjährige vor fünf Jahren ohne etwas zu sagen eines Morgens den Bus nach Dublin genommen hat, lastet schwer auf der Seele des Ehepaars, zumal ihre eigenen Versuche, ihre Tochter in Dublin ausfindig zu machen, kläglich scheiterten. Doch fünf Jahre später taucht Moll ebenso plötzlich wieder vor ihrer Tür auf. Überglücklich lassen Kit und Paddy die Heimgekehrte erst einmal in Ruhe, bis sie selbst eine Erklärung zu ihrem Verschwinden und ihrer Rückkehr abzugeben bereit ist. 
Doch bevor Moll auch nur ein Wort dazu abgibt, taucht ein Mann in der Gegend auf, der sich nach Moll erkundigt, und wenig später steht auch er vor der Tür der Gladneys. Doch das sind nicht die beunruhigendsten Neuigkeiten, mit denen Kit und Paddy konfrontiert werden… 
„Kit löst die Finger aus der Gebetshaltung, ballt die Hände zu Fäusten, faltet sie erneut und fährt mit dem Takt ihres Rosenkranzes fort, sie versucht, die Gedanken auszublenden, die ihre Gebete überlagern, doch es gelingt ihr nicht. Es ist einer dieser Abende, an denen sich ungebetene Erinnerungen in dein Vordergrund drängen und ihre Gedanken in Beschlag nehmen.“ (S. 241) 
Mit seinem neuen Roman setzt sich Ryan einmal mehr mit dem Leben und den Schicksalen einfacher Menschen im stark katholisch geprägten Irland auseinander und beschreibt in fast schon verschwenderisch ausgereizter Sprachkunst, wie sich die fünfjährige Abstinenz einer geliebten Tochter und ihre unerwartete Rückkehr auf das Leben eines ganzen Dorfes auswirkt. Dabei geht Ryan nicht chronologisch vor. Tatsächlich unternimmt er in der Erzählung mehr als gewagte Sprünge ebenso in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, um die Geheimnisse rund um Molls Verhalten und weit darüber hinaus zu lüften. 
Vor allem der erste Teil ist dem Autor gut gelungen, wenn er die Lebensumstände und die Menschen in Knockagowny beschreibt. Als Moll, inzwischen 25-jährig, plötzlich zu ihren Eltern zurückkehrt, ändert sich natürlich einiges, doch wirken die nun beschriebenen Ereignisse sehr robust zusammengewürfelt. Ein funktionierender Erzählfluss will sich da nicht einstellen. Stattdessen wird man als Leser immer wieder mit neuen, lange zurückliegenden oder weit voraus geeilten Ereignissen konfrontiert, die erst im Laufe der nächsten Kapitel aufgeschlüsselt werden. 
„Seltsame Blüten“ stellt insofern einen programmatischen Titel dar, als Donal Ryan die Dramaturgie seiner Erzählung(en) kräftig durchrüttelt und sein Publikum dazu zwingt, sich immer neu auf die Ereignisse nach zunächst unbestimmt wirkenden Zeitsprüngen einzustellen. Das kann man machen, führt hier aber neben dem abgehackten Erzählfluss vor allem dazu, dass man bei all den verpassten Ereignissen, die im Nachhinein nur skizzenhaft rekapituliert werden, die emotionale Bindung zu den Figuren verliert. So überzeugt Ryans neuer Roman zwar einmal mehr durch seine sprachliche Virtuosität, doch fesselt der Plot längst nicht so wie in seinen vorangegangenen Werken.  

Donal Ryan – „Die Stille des Meeres“

Sonntag, 6. Juni 2021

(Diogenes, 276 S., HC) 
Bereits mit seinen drei vorangegangenen, oft preisgekrönten Büchern „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“ und „Die Lieben der Melody Shee“ hat sich der 1976 geborene Ire Donal Ryan zu einer international gefeierten eigenständigen Stimme in der irischen Literatur entwickelt. Nachdem er mit seinem letzten Roman „Die Lieben der Melody Shee“ das Schicksal zweier Frauen erzählte, stehen in seinem neuen Werk drei Männer im Mittelpunkt, deren jeweilige Geschichten zunächst nacheinander in eigenen Kapiteln thematisiert werden, bevor sie im vierten und abschließenden Kapitel auf fast magische Weise zusammengeführt werden. 
Der syrische Arzt Farouk kommt schwer damit klar, dass seine Frau sich nicht verhüllt und sich so offensichtlich der Begierde anderer Männer zur Schau stellt, während seine Tochter bereits die westliche Kultur mehr als die eigene wertzuschätzen scheint. Als sich die Zeichen für einen Bürgerkrieg mehren, die Polizei zur Miliz wird und immer mehr bewaffnete Fremde das Stadtbild prägen, lässt er sich von einem Schleuser überreden, sich und seine Familie in Sicherheit bringen zu lassen, bevor seine Frau und Tochter vergewaltigt werden und er selbst getötet wird. Doch das Schiff, in das Farouks Familie mit anderen gut gekleideten Passagieren steigt, entpuppt sich nicht als das sichere Boot, das sie nach Europa bringt, sondern dockt auf dem Meer an einen alten Holzkahn an, wo die Passagiere die Überfahrt unter Deck verbringen sollen, bis der Sturm das Boot zwischen den Wellen zerschellen lässt. In Irland muss sich Farouk schließlich damit abfinden, ein neues Leben ohne seine Frau und Tochter zu beginnen. 
Der junge Laurence „Lampy“ Shanley lebt mit seiner Mutter Florence und seinem temperamentvollen Großvater Dixie in einer irischen Kleinstadt lebt, wo er als Busfahrer für ein Altenheim arbeitet und die Tatsache verkraften muss, dass seine Freundin Chloe mit ihm Schluss gemacht hat, weil sie in Dublin studieren will. Immerhin hat er mit Eleanor einen kurzfristigen Ersatz mit großen Brüsten aufgetan, begeht allerdings einen fürchterlichen Fehler, als er nach einer Panne den Bus wechseln muss. 
„Wie sollte er seinem Großvater klarmachen, dass er doch nur nach einem Ort suchte, an dem an einen Mann andere Maßstäbe angelegt wurden. Die nichts mit Geld oder Sport oder einer Straße in einer Stadt zu tun hatten. Oder war das überall gleich? Er wollte keine Vergangenheit haben, keine Adresse, er wollte einfach nur irgendein Ire sein.“ (S. 140) 
Das Trio ganz unterschiedlicher Männer wird durch den von Grund auf bösen John abgerundet, der sich schon bei der Beichte nicht an das Reuegebet erinnern konnte, obwohl er es wenige Stunden zuvor noch in der Schule gesungen hatte. Später sah er tatenlos zu, wie sein sechs Jahre älterer Bruder Edward zuhause nach der Hurling-County-Meisterschaft zusammenbrach und an einem Herzversagen verstarb. John setzte den Kindern in der Schule böse zu, verleumdete auch als Erwachsener Menschen, denen er nicht wohlgesonnen war, verfolgte als Lobbyist gnadenlos seine eigenen Interessen und die seiner Klienten, bis er selbst krank und reumütig wird … 
Im letzten, „Seeinseln“ betitelten Kapitel führt Ryan die drei Männerschicksale auf furiose Weise zusammen und findet auch dafür eine eigene Sprache, so wie er für die Geschichten seiner Protagonisten mit je einer eigenen Stimme erzählte. Ryan ist ein Meister darin, sein Publikum mit eindringlichen Schilderungen in die Psyche seiner Figuren hineinzuziehen. Hier sind es vor allem die auch kulturell unterschiedlichen Vorstellungen von Männlichkeit, die die Handlungen von Farouk, Lampy und John prägen und ihr Schicksal bestimmen, und so sehr sie auch an ihren moralischen Grundsätzen festhalten, hadern sie früher oder später mit der Unausweichlichkeit ihres Tuns. 
Donal Ryan ist mit „Die Stille des Meeres“ ein Buch gelungen, dessen Seelenfrieden, sehnsuchtsvoll verheißender Titel trügerisch wirkt, denn die Sehnsucht nach Erlösung bleibt für seine Protagonisten unerfüllt. 

Donal Ryan – „Die Lieben der Melody Shee“

Sonntag, 8. April 2018

(Diogenes, 296 S., HC)
Die dreiunddreißigjährige Melody Shee trägt sich mit dem Gedanken, sich und ihr noch ungeborenes Kind umzubringen. Die Ehe mit ihrem Highschool-Schwarm Pat liegt in Trümmern, nachdem sich ihr Mann nach zwei Fehlgeburten heimlich sterilisieren lassen und seine Bedürfnisse nicht mehr im Ehebett, sondern bei Prostituierten befriedigt hat.
Melody, die ihren Traum von einer Karriere als Journalistin an den Nagel hängen musste und stattdessen als Nachhilfelehrerin arbeitet, rächt sich, indem sie einen ihrer Schüler, den siebzehnjährigen Traveller Martin Toppy, verführt und schwanger wird.
Sie hadert mit ihrem Schicksal, will wieder in ihr Elternhaus zu ihrem Vater ziehen, der sie beschwichtigt, dass alles gut wird. Tatsächlich freundet sich Melody allmählich mit dem Gedanken an, ihr Baby zur Welt zu bringen. Und dann lernt sie die neunzehnjährige Mary Crothery kennen, die sich selbst als eine „Schande für die Familie“ bezeichnet, die ihrem Mann keine Kinder schenken konnte und ihre einst beste Freundin Breedie in den Selbstmord getrieben hat.
Melody ist hin- und hergerissen, wie sie mit ihren Sünden, die sie in ihrer erzkatholischen Heimat begangen hat, umgehen soll, wie sie sich ihrem eigenen Kind und vor allem Pat gegenüber verhalten soll, und trifft eine außergewöhnliche Entscheidung.
„Pat hatte Sex mit Prostituierten: Das ist Fakt. Ich hatte Sex mit einem Jugendlichen, einem Schutzbefohlenen: Auch das ist Fakt. Welche Worte hätten etwas an der Tatsache ändern sollen, dass wir zu solchen Dingen fähig wären? Menschen tun einander Schlimmeres an, aber viel schlimmer wird es nicht. Wir haben Greueltaten begangen. In unserem Einfamilienhaus hat ein Holocaust stattgefunden, eine Auslöschung der Liebe.“ (S. 125) 
Der irische Schriftsteller Donal Ryan wurde für seinen Roman „Die Gesichter der Wahrheit“ mit dem Irish Book Award, dem Guardian First Book Award und dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet. Wie in seinem Debüt „Die Sache mit dem Dezember“ und seinem preisgekrönten Zweitwerk erweist sich Ryan auch in „Die Lieben der Melody Shee“ als feinfühliger Beobachter menschlicher Befindlichkeiten. Im Gegensatz zu „Die Gesichter der Wahrheit“, wo der Autor eine ganze Reihe von Ich-Erzählern aufgefahren hat, die von ihren durch die Finanzkrise geprägten Schicksalen berichten, konzentriert sich Ryan in seinem neuen Roman auf zwei Frauengestalten, die ihre Vorstellung vom Liebesglück nicht realisieren konnten und als Konsequenz für ihr moralisch verwerfliches Verhalten von der Gesellschaft ausgestoßen worden sind.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht zwar die titelgebende Melodie Shee, aber das Schicksal ihrer Schülerin Mary wird immer enger mit ihrem eigenen verbunden. Ryan bedient sich der einfachen Sprache seiner Protagonisten und entwirft so ein stimmiges Portrait verzweifelter Frauen, die an den gesellschaftlichen Normen zugrunde zu gehen drohen, aber am Ende stark genug sind, mit den Entscheidungen, die sie treffen mussten, leben zu können.
Geschickt verwebt der Autor dabei ebenso Vergangenheit und Gegenwart wie die Schicksale seiner Figuren, die er weder verurteilt noch mit Mitleid überhäuft. Stattdessen bewegt er sich sehr subtil und einfühlsam zwischen all den verwirrenden Gefühlsregungen von Liebe, Trauer, Leidenschaft, Verrat, Verlust und Enttäuschung. 
Leseprobe Donal Ryan - "Die Lieben der Melody Shee"

Donal Ryan – „Die Gesichter der Wahrheit“

Dienstag, 4. Oktober 2016

(Diogenes, 245 S., HC)
Vor zwei Monaten hat der Bauunterunternehmer Pokey Burke in einer irischen Kleinstadt seine Angestellten entlassen und ist über alle Berge getürmt, ohne die Sozialleistungen für seine Leute abgeführt zu haben. Entsprechend mies ist die Stimmung in der Bevölkerung, die auf unfertigen Häusern und unbezahlten Rechnungen sitzt. Um den Frust abzubauen, beschäftigt sich das Meer der Arbeitslosen und unzufriedenen Frauen mit sich selbst, vornehmlich aber mit seinen Nachbarn.
Da werden Affären gesponnen, Missgunst geerntet und Hass gesät. Am Ende wird der gewalttätige Vater von Burkes ehemaligen Vorarbeiter Bobby Mahon tot aufgefunden und sein Sohn mit dem blutigen Holzscheit in der Hand als sein Mörder ausgemacht.
„O Herr, segne und behüte uns, ist es nicht eine Gottschande, dass innerhalb weniger Tage Kinder geraubt und gute Männer in ihrer eigenen Küche totgeschlagen werden und Vergewaltiger freikommen? Und jetzt ist auch noch die Rede davon, dass die Renten gekürzt werden sollen! Ist es nicht eine Beleidigung für Gottes Augen, dass er zusehen muss, wie Menschen ohne Schutz bleiben vor Elend und vor Wahnsinnigen? Was ist überhaupt aus unserem Land geworden?“ (S. 206f.) 
In seinem 2012 erschienenen und nun durch Diogenes in deutscher Übersetzung veröffentlichten Episodenroman „Die Gesichter der Wahrheit“ lässt der aus dem Süden Irlands stammende Bauingenieur, Jurist und Autor in 21 Kapiteln jeweils ausgesuchte Personen in der nicht näher benannten irischen Kleinstadt die Ereignisse rekapitulieren, die seit der Pleite des Bauunternehmers für Unruhe gesorgt hat.
Dabei werden nicht nur allein die wirtschaftlichen Sorgen einzelner Familien thematisiert, sondern vor allem der Blick vom eigenen Elend weg hin zum vermeintlich verabscheuungswürdigen Verhalten der Nachbarn. Munter werden hier Affären ausgeschmückt, Mitbürger diffamiert, sexuelle Gelüste und Frustrationen ersonnen.
Zwar gelingt es Ryan mit seinem Zweitwerk, die vielfältigen Stimmungen in der Kleinstadt einzufangen und durch die jeweiligen Ich-Erzählungen die Atmosphäre aus Neid, Verzweiflung, Hoffnung, Hass und Begehren facettenreich zu beschreiben, aber durch die lockere Aneinanderreihung der kurzen Kapitel kann der Leser stets nur von außen auf die einseitigen Monologe schauen und sich nie wirklich mit einzelnen Figuren identifizieren.
Durch die Kapitel werden die Puzzleteile des wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Niedergangs in der Kleinstadt zwar nach und nach zusammengesetzt, aber eine dramaturgisch sinnvolle Handlung darf der Leser nicht erwarten. Erst in den letzten Kapiteln kommt der Mord an Bobbys alten Herrn und das Verschwinden des Kindes zur Auflösung.
Sprachlich hat Ryan versucht, jeder Figur eine eigene Stimme zu verleihen, was durchaus Abwechslung in den Roman bringt und für ein großes Maß an Authentizität sorgt, aber wirklich fesseln vermag „Die Gesichter der Wahrheit“ nicht.
 Leseprobe Donal Ryan - "Die Gesichter der Wahrheit"