Ian Haydn Smith – „Eine kurze Geschichte des Films“

Dienstag, 25. August 2020

(Laurence King, 224 S., Pb.)
Über das Medium Film lässt sich bekanntlich vortrefflich schreiben, allerdings gibt dieses Medium in seiner über 120-jährigen Geschichte so viel her, dass es schon einen interessanten Ansatz braucht, um Filmbücher auch an das richtige Publikum zu bringen. Während Verlage wie Bertz + Fischer und Schüren ausführliche und analytische Bände zu ausgesuchten Themen oder Regisseuren für Hardcore-Cineasten veröffentlichen, stehen bei Taschen beispielsweise die Filmbilder im Vordergrund, die von längst nicht so in die Tiefe gehenden, aber durchaus kompakten Texten begleitet werden.
Ian Haydn Smith, der in der Berliner Dependance des britischen Laurence King Verlags bereits „Eine kurze Geschichte der Fotografie“ vorgelegt hat und neben seiner Arbeit für die Kinomagazine „Curzon“ und BFI Filmmakers“ vor allem für seinen Bestseller „1001 Movies You Must See Before You Die“ bekannt ist, wählt für seinen Überblick „Eine kurze Geschichte des Films“ einen bemerkenswerten Ansatz, der vor allem Filmliebhaber ansprechen dürfte, die in die theoretischen Grundlagen einsteigen möchten und nach einem kurzen Abriss über die Geschichte des Mediums sowie dessen im Laufe der Zeit ausgestalteten Genres suchen.
„Der Experimentalfilm, die Dokumentation, der Kurzfilm, die Animation – alle verdienen eine eigene geschichtliche Darstellung. Mit einer oberflächlichen Einordnung würde man ihnen nicht gerecht. Dieses Buch versucht zu beschreiben, wie kommerzielles, unabhängiges und künstlerisches Kino im Laufe eines turbulenten Jahrhunderts entstand, florierte und sich anpasste“, schreibt der Autor in seiner Einleitung und handelt seine ausgewählten Themen jeweils auf gerade mal einer Seite ab.
So bekommt der Leser zunächst einen knackigen Überblick über eine Vielzahl von Filmgenres, vom Western und Monumentalfilm über den Kriegs-, Horror-, Gangster- und Propagandafilm bis zur Dokumentation, dem Blockbuster, Ghettodrama, Italowestern und Musical, wobei auch weniger populäre Genres wie der Mockumentary, Jidai-Geki (Samuraifilm), Racefilm und Kino der Langsamkeit Berücksichtigung finden – jeweils mit einer kurzen Charakterisierung und geschichtlichen Entwicklung, illustriert durch einen stilbildenden Meilenstein (wie „Ben Hur“ für den Monumentalfilm, „Stagecoach“ für den Western und „Der Leopard“ für den Kostümfilm) und Nennung bekannter Regisseure, die das jeweilige Genre geprägt haben.
Den Hauptteil nimmt die Vorstellung von 50 ausgesuchten Filmen auf jeweils zwei Seiten in chronologischer Reihenfolge ein. Hier zeigt sich ebenso wie bei den zuvor ausgewählten „Meilensteinen“ der einzelnen Filmgenres der sehr persönliche Geschmack des Autors, wobei auch in der Filmgeschichte recht gut bewanderte Leser sicher den einen oder anderen Film finden werden, der ihnen bislang noch nicht untergekommen ist. Neben allseits bekannten Werken wie Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, Langs „Metropolis“, Hitchcocks „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“, Godards „Außer Atem“, Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“, Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, Spielbergs „Der weiße Hai“, Scorseses „Taxi Driver“, Ridley Scotts „Blade Runner“, Tarantinos „Pulp Fiction“ und zuletzt Cuaróns preisgekrönter Netflix-Produktion „Roma“ begegnen uns hier auch allgemein weniger vertraute Filme wie Murnaus „Sonnenaufgang“, Vigos „Atalante“, Bertoluccis „Der große Irrtum“, Akermans „Jeanne Dielman“ und Claire Denis‘ „Der Fremdenlegionär“.
Es ist gerade diese Mischung aus dem Wiedersehen mit vertrauten Meisterwerken und der Neugierde auf noch unbekannte, aber offensichtlich sehenswerte Filme, die „Eine kurze Geschichte des Films“ so interessant machen. Ian Haydn Smith erweist sich dabei als äußerst sachkundiger Autor, der nicht nur Genres und die 50 ausgesuchten Filme fundiert und kompakt zu umreißen versteht, sondern auch technische Sachverhalte gut verständlich beschreibt. Wer sich nämlich noch tiefer in die Materie begeben möchte, kann sich im Anschluss noch mit verschiedenen Strömungen wie Deutscher Expressionismus, Nouvelle Vague, Neuer Deutscher Film, Cinéma du Look, New Queer Cinema, Dogma 95 oder New French Extremity beschäftigen und sich filmischen Mitteln und Techniken wie Method Acting, Cinéma vérité, 3D, Schärfentiefe, Parallelmontage, Unsichtbarer Schnitt und Panoramaschwenk annähern. Ein ausführliches Register rundet dieses informative Buch für Filmfreunde jedweder Ausprägung ab. Bestenfalls macht „Eine kurze Geschichte des Films“ Lust auf weiterführende Literatur oder animiert einen dazu, die vorgestellten Listen, die per se keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben können, mit eigenen Lieblings-Filmen zu ergänzen.

Stephen King – „Blutige Nachrichten“

Montag, 10. August 2020

(Heyne, 560 S., HC) 
Stephen King hatte seit Mitte der 1970er Jahre nicht nur dem Horror-Genre mit seinen Bestseller-Romanen wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand“, „Feuerkind“, „Cujo“ sowie der Kurzgeschichten-Sammlung „Nachtschicht“ seinen Stempel aufgedrückt, sondern war so erfolgreich, dass er – wie er mal erwähnte -, auch seine Wäscheliste hätte veröffentlichen können. So verfasste er dann nicht nur das Sachbuch „Danse Macabre“, sondern mit „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ eine erste Sammlung mit vier Kurzromanen, die im Horror-Bereich erfahrungsgemäß schlecht an den Mann zu bringen sind. Der Erfolg gab King aber auch diesmal recht, obwohl es sich bis auf „Atemtechnik“ nicht um Horror-Geschichten handelte. „Die Leiche“ wurde sehr erfolgreich von Rob Reiner verfilmt, „Der Musterschüler“ von Bryan Singer
Seither hat King in seiner äußerst produktiven Schriftsteller-Karriere immer wieder mal zwei bis vier Novellen zu Büchern zusammengefasst. Nach „Langoliers“, „Nachts“ und „Zwischen Nacht und Dunkel“ liegt mit „Blutige Nachrichten“ nun ein weiteres Buch mit vier Novellen des „King of Horror“ vor, durch die sich als Roter Faden irgendwie der Fluch und Segen des technologischen Fortschritts zieht. 
Das wird vor allem bei „Mr. Harrigans Telefon“ deutlich. Der Ich-Erzähler Craig erinnert sich daran, wie er 2004 im Alter von neun Jahren für den wohlhabenden Ex-Unternehmer Mr. Harrigan zu arbeiten begann. Er bekam fünf Dollar die Stunde dafür, für den alten Mann Einkäufe zu erledigen und ihm vorzulesen, dazu erhielt er vier Mal im Jahr Karten zum Valentinstag, zum Geburtstag, zu Thanksgiving und zu Weihnachten – jeweils mit einem förmlichen Glückwunsch und einem Ein-Dollar-Rubbellos. Craigs Dad fand diese Geste immer sehr geizig, schließlich besaß der Arbeitgeber seines Sohnes früher u.a. eine Schifffahrtslinie, mehrere Einkaufszentren und eine Kinokette, aber keinen Laptop oder Fernseher. Dagegen freut sich Craig, dass er am ersten Weihnachtstag 2007 das erste iPhone geschenkt bekommt und wenig später sogar durch das Rubbellos von Mr. Harrigan dreitausend Dollar gewinnt. Craig revanchiert sich bei Mr. Harrigan, indem er ihm ebenfalls ein iPhone schenkt, worauf der alte Mann vor allem über die Echtzeit-Übermittlung des Dow-Jones-Index fasziniert ist, aber auch von dem Umstand, dass Zeitungen ihre Storys umsonst im Netz anbieten. 
Als Mr. Harrigan stirbt, steckt ihm Craig das iPhone in den Anzug, in dem dieser beerdigt wird, Was Craig beunruhigt, ist die Tatsache, dass er nicht nur nach der Beerdigung von Mr. Harrigan nach wie vor Kurznachrichten von seinem Handy erhält, sondern auch Menschen, die Craig das Leben schwer machen, unter mysteriösen Umständen sterben, nachdem Craig sein Leid auf die Mailbox von Mr. Harrigans Handy gesprochen hat … 
„Chucks Leben“ spielt in einer vielleicht gar nicht so fernen Zukunft, in der nicht nur ganze Vögel- und Fischarten aussterben, sondern auch Kalifornien und das Internet verschwindet. Marty Andersons Aufmerksamkeit wird von einer Reklametafel in Beschlag genommen, auf der statt einer Werbung für eine Fluggesellschaft geworben wurde, nun aber das Foto eines mondgesichtigen Mannes anzeigt, über dessen Kopf die Botschaft verkündet wird: „Charles Krantz. 39 wunderbare Jahre! Danke, Chuck!“. Und auch im Fernsehen prangt statt des Begrüßungsbildschirms von Netflix die gleiche Botschaft, die ebenso von einem Flugzeug in den Himmel geschrieben wird. Doch niemand scheint diesen Chuck zu kennen. Nur Chucks engste Vertrauten wissen, dass Chuck im Krankenhaus im Sterben liegt und vor seiner Krankheit für etwas Aufsehen gesorgt hat, als er zu der rhythmischen Musik von Jared Franck an der Boylston Street in Boston zu tanzen anfing. Er nahm an einer Tagung von Buchhaltern teil, als er während eines Nachmittagsspaziergangs bei dem Musiker stehenblieb und auf spektakuläre Weise zu tanzen anfing und eine junge Frau namens Janice einlädt, es ihm gleichzutun. 
„Später wird er den Namen seiner Frau vergessen. Erinnern wird er sich jedoch – gelegentlich – daran, wie er stehen blieb, die Aktentasche fallen ließ und anfing, die Hüften zum Rhythmus des Schlagzeugs zu bewegen, und dann wird er denken, dass Gott dafür die Welt erschaffen hat. Genau dafür.“ (S. 169) 
In der Titelgeschichte „Blutige Nachrichten“ gibt es ein Wiedersehen mit Holly Gibney, der Geschäftspartnerin von Bill Hodges, einem ehemaligen Detective, der nach seinem Ruhestand die Detektei „Finders Keepers“ gegründet hat. Nach den drei Romanen „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ rückte Holly Gibney in dem Roman „Der Outsider“ mehr in den Vordergrund. Sie will sich gerade ihre Lieblings-Gerichtsshow im Fernsehen ansehen, als das Programm wegen einer Eilmeldung unterbrochen wird. Chet Ondowsky, der als erster Reporter vor Ort von einem Bombenattentat an einer Schule in Pineborough berichtet, erinnert Holly an den gestaltwandlerischen Outsider, den sie einst mit Detective Ralph Anderson zur Strecke gebracht zu haben glaubte. Durch ihren Psychiater kommt sie zu einem anderen Patienten in Kontakt, der ähnliche „Wahnvorstellungen“ über Gestaltwandler zu haben scheint, allerdings viel konkretere Beweise für die Existenz weiterer Outsider vorlegen kann … 
In der abschließenden Novelle „Ratte“ wird der Literaturdozent Drew Larson von der Idee gepackt, nach einem fürchterlich gescheiterten Versuch, neben seinen bisher veröffentlichten Kurzgeschichten auch einen Roman zu schreiben, es erneut zu versuchen, und zwar mit einem Western. Um die nötige Ruhe zu haben, fährt er in die Hütte seines vor zehn Jahren verstorbenen Dads, wo seine Arbeit zunächst flott von der Hand geht. Doch dann stellen sich wie schon beim ersten Mal die ersten Probleme ein, und Drew geht einen faustischen Pakt ein … 
Es ist vor allem das Wiedersehen mit der sympathischen Detektivin Holly Gibney in der titelgebenden Geschichte, die „Blutige Nachrichten“ für Stephen-King-Fans lesenswert macht. In dieser Geschichte entwickelt King die beunruhigende Story von „Der Outsider“ konsequent weiter, füllt die Figur mit Charakter und einer Biografie, die vor allem durch die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter geprägt ist. Vor allem erweist sich King hier als Meister der Spannung, die in den übrigen Geschichten kaum zur Entfaltung kommt. 
Während „Mr. Harrigans Telefon“ noch ein nostalgisches Gefühl von „The Twilight Zone“ aufkommen lässt, verpufft die nichtlinear erzählte Geschichte über Chuck Kurtz abgesehen von der lebendig beschriebenen Tanz-Einlage auf offener Straße ohne große Pointe. „Ratte“ greift das bei King beliebte und vor allem aus „Shining“ bekannte Motiv des Möchtegern-Romanautors auf, der in der Isolation unkluge Entscheidungen trifft und dafür die fürchterlichen Konsequenzen tragen muss. Letztlich ist die Qualität der einzelnen Geschichten zu unterschiedlich, um „Blutige Nachrichten“ zu einem guten Stephen-King-Werk zu machen. Stattdessen hätte der Bestseller-Autor die Titelgeschichte zu einem richtigen Roman ausbauen sollen. 

Lee Child – (Jack Reacher: 22) „Der Bluthund“

Donnerstag, 6. August 2020

(Blanvalet, 447 S., HC) 
Nach drei gemeinsamen Tagen in Milwaukee trennen sich die Wege von Jack Reacher und Michelle Chang. Während Chang, die sich mit Reachers langjährigem Nomadentum nicht anfreunden kann, zurück nach Seattle fährt, schnappt sich der ehemalige Top-Ermittler der Militärpolizei seine Zahnbürste und nimmt den nächstbesten Bus, der ihn in Richtung Nordwesten bringen würde. Bei einer Pinkelpause in der trübseligen Kleinstadt Rapid City entdeckt Reacher im Schaufenster eines Leihhauses den auffällig kleinen Ring einer West-Point-Absolventin des Jahres 2005. 
Reacher ist sich sicher, dass dieser Ring nur aus der Not heraus in diese Pfandleihe gelangt ist, legt vierzig Bucks auf den Tisch und macht sich auf die Suche nach der Geschichte hinter diesem Ring. Der einzige Anhaltspunkt sind die in den Ring eingravierten Initialen S.R.S. Vom Pfandleiher erfährt der hünenhafte Hobby-Ermittler, dass er den Ring vor ein paar Wochen mit anderen Schmuckstücken von einem Mann namens Jimmy Rat gekauft hat. 
Eine Schlägerei mit sieben Bikern später hat Reacher auch dessen Kontaktmann ausfindig gemacht: Arthur Scorpio. Hinter dem sind die Cops bereits einige Zeit her. Auch Detective Gloria Nakamura ist mit der Überwachung des Dealers betraut, nur konnte dem Mann, der in der Stadt einen Waschsalon betreibt, bislang nichts nachgewiesen werden. 
Vom Superintendenten in West Point erfährt Reacher, dass sich hinter den Initialen der Name Serena Rose Sanderson verbirgt, die nach fünf Kampfeinsätzen im Irak und in Afghanistan offensichtlich verletzt worden ist und nun nicht mehr auffindbar ist. Ihre wohlhabende Zwillingsschwester Tiffany Jane Mackenzie hat den ehemaligen FBI-Agenten Terrence Bramall, der sich als Privatdetektiv auf das Aufspüren vermisster Personen spezialisiert ist, engagiert. Mit vereinten Kräften machen sich Reacher, Bramall und Mackenzie auf die Suche nach Serena Rose und stoßen mit ihren Ermittlungen in ein Wespennest einer nahezu perfekten Organisation, die mit Betäubungsmitteln handelt und alles daran setzt, sich von Reacher und seinen Leuten nicht die Suppe versalzen zu lassen … 
„Reacher war kein abergläubischer Mann. Er hielt auch nichts von geistigen Höhenflügen oder plötzlichen Vorahnungen oder Existenzängsten jeglicher Art. Aber er wachte bei Tagesanbruch auf und blieb noch im Bett. Er hatte keine Lust, sich zu bewegen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete seinen Schatten in dem Spiegel an der Wand gegenüber. Eine entfernte Gestalt. Einer dieser Tage. Nicht nur eine militärische Sache. Auch viele andere Berufe kannten dieses Gefühl. Manchmal wachte man auf und wusste bestimmt – geschichtlich bedingt, aus Erfahrung und resignierter Intuition -, dass der eben angebrochene Tag überhaupt nichts Gutes bringen würde.“ (S. 274) 
Seit 1997 liefert Lee Child eigentlich jedes Jahr einen neuen Roman um seinen beliebten Helden Jack Reacher, den Hollywood-Star Tom Cruise bereits zweimal auf der Leinwand verkörpern durfte. So ungewöhnlich Reachers Karriere beim 110th MP verlief, bildet seine Entscheidung, nach seiner ehrenhaften Entlassung keiner geregelten Arbeit nachzugehen und ohne festen Wohnsitz und sonstige Besitztümer einfach durch quer die Staaten zu trampen oder mit Bus und Zug zu reisen, die Grundlage für seine privaten Engagements. In dem mittlerweile 22. Band der Bestseller-Reihe zieht also ein West-Point-Ring und die offensichtlich tragische Geschichte hinter seinem Weg in die Pfandleihe seine Aufmerksamkeit auf sich. Nach der fast schon obligatorischen kämpferischen Auseinandersetzung mit zahlenmäßig überlegenen, Reacher aber in jeder anderen Hinsicht nicht gewachsenen Kleinganoven entwickelt Lee Child einen ebenso packenden wie komplexen Plot, in dem Reacher ausnahmsweise mal nicht im Alleingang oder mit Unterstützung einer ebenso taffen wie hübschen Frau den bösen Jungs auf der Spur ist, sondern sich gleich auf mehrere durchaus kompetente Begleiter verlassen kann. Vor allem die taktischen und strategischen Überlegungen, die er mit dem Ex-FBI-Agenten Bramall anstellt, machen in knackigen Dialogen deutlich, wie die routinierten Ermittler gegen das raffiniert organisierte Netz von Dealern vorgehen und sich der eigentlichen Besitzerin des West-Point-Ringes annähern. Dabei rückt schließlich das Verhältnis zwischen den beiden Zwillingsschwestern zunehmend in den Vordergrund und verleiht „Der Bluthund“ eine für Childs Verhältnisse ungewöhnlich menschliche Note. Überhaupt zeigt sich der frühere Produzent von Fernsehserien wie „Brideshead Revisited“, „The Jewel in the Crown“ und „Prime Suspect“ in seinem neuen Roman wieder auf der Höhe seines Schaffens, nachdem hin und wieder schon Ermüdungserscheinungen in seinen letzten Werken auszumachen gewesen sind. 
Zwar macht es Child zum Finale hin etwas arg kompliziert, aber „Der Bluthund“ zählt nicht nur fraglos zu den spannendsten und vielschichtigsten Romanen der Reihe, sondern thematisiert auch die fragwürdige Art und Weise, wie in den USA mit schwer verletzten Kriegsveteranen umgegangen wird. 

Anthony McCarten – „Englischer Harem“

Sonntag, 2. August 2020

(Diogenes, 582 S., HC)
Die Familie Pringle stammt aus einfachen Verhältnissen und lebt in einer hellhörigen Einheitswohnung im 23. Stock eines heruntergekommenen Wohnblocks in London, dessen Fahrstuhl seit Monaten defekt ist. Während Eric Pringle sein Geld damit verdient, immer wieder Reparaturen in diesem Gebäude auszuführen, setzt seine Frau Monica alles daran, mit einer Petition unter den Bewohnern dafür zu sorgen, dass die Stadt die Bruchbude ganz abreißt, allerdings haben ihre Bemühungen erst zu vier Unterschriften gebracht. Doch diese Alltagssorgen verblassen, als ihre zwanzigjährige Tochter Tracy zum vierten Mal in zwei Jahren ihren Job verliert. Als Kassiererin im Supermarkt hing sie den von ihren Leseabenteuern inspirierten Tagträumen so intensiv nach, dass sie einen offensichtlichen Ladendiebstahl übersah.
Auf der Suche nach einem neuen Job landet sie im vegetarischen Restaurant des Persers Saaman „Sam“ Sahar, Sohn des berühmtesten Schlachters in Teheran. Der recht kleine, aber rundliche Sam, der nach einer Lebensmittelvergiftung durch einen vergammelten Hamburger genug von Fleisch in seinem Leben hat, versucht, Tracy vergeblich abzuwimmeln, und lässt sich auf ein einwöchiges Probearbeiten mit der resoluten jungen Frau ein, und ist schnell von ihrer schnellen Auffassungsgabe begeistert. Auch seine beiden Frauen Yvette und Firouzeh schließen Tracy in ihre Herzen und drängen Saaman dazu, auch Tracy zur Frau zu nehmen, als sich die beiden ineinander verlieben. Das bringt nicht nur Tracys Eltern aus der Fassung, sondern auch Tracys Ex-Freund Ricky, der sich leider in flagranti mit einer anderen Frau hat von Tracy erwischen lassen, seinen Fehltritt aber bereut und Tracy aus den Fängen des offensichtlichen Polygamisten aus dem Orient befreien will.
Als das Jugendamt in Gestalt von Mr. Partridge einem anonymen Hinweis nachgeht, dass Firouzehs vier Kinder unter den wüsten Verhältnissen in Sams Harem leiden würden. Damit beginnt eine Auseinandersetzung, die alle Beteiligten in ihren Grundfesten erschüttert …
Wir verbringen unser Leben in einer Festung, sinnierte Sam, und lassen nur selten die Zugbrücke herunter. Was für eine Verschwendung! Was wir da alles verpassen! Wir halten nur Abstand voneinander, weil wir uns nicht trauen. Die großen Verführer, zu denen er sich nicht zählte, verstanden das und nutzten es aus. Diese Mauern gab es nur in der Phantasie. Jeder abgewandte Blick war in Wirklichkeit eine Einladung, jeder unerwiderte Anruf eine Bitte, jede Gehässigkeit eine Aufforderung zum Streicheln …“ (S. 185) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten ist nicht nur als Mit-Autor des erfolgreichen Theaterstücks, das später als „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ noch erfolgreicher verfilmt worden ist, populär geworden, sondern auch durch weitere Romane/Drehbücher wie zu „Die dunkelste Stunde“, „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, „Bohemian Rhapsody“ und „Die zwei Päpste“. Mit „The English Harem“ legte er 2002 seinen zweiten Roman vor, der eindrucksvoll unterstreicht, dass McCarten nicht nur über eine feine Figurenzeichnung verfügt, sondern auch mit viel Sympathie, Humor und Toleranz ihre durchaus komplexen Dramen schildert.
„Englischer Harem“ zeichnet dabei außerdem das Bild einer multikulturellen Gesellschaft einer Weltmetropole, in der Menschen verschiedenster Hautfarben, Kulturen, religiöser Gesinnung und regionaler Herkunft zwar alltäglich miteinander zu tun haben, aber trotzdem voller Vorurteile stecken. McCarten treibt diese kulturellen Missverständnisse in seinem warmherzigen Roman gekonnt auf die Spitze, lässt auch den Leser über die wahre Beziehung der drei Frauen und ihrem Ehemann lange im Dunkeln, macht aber auch klar, dass Sams Zuhause alles andere als einen Harem darstellt.
Geradezu genüsslich beschreibt er die verschiedenen Versuche von Ricky und Eric, Tracy wieder zur Vernunft zu bringen und dem vermeintlichen persischen Haremsbetreiber eins auszuwischen. Auf der anderen Seite seziert der Autor gekonnt die Nöte und Sehnsüchte einer normalen britischen Familie sowie ebenso einfühlsam die jeweils ganz unterschiedlichen Umstände, unter denen sich Sam seiner drei Frauen angenommen hat. Wenn „Englischer Harem“ eine Botschaft vermittelt, dann die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit uns fremden Kulturen, so wie Tracy in einem Erwachsenenstudium versucht, den Koran zu verstehen.
Doch neben dem Appell an mehr Toleranz überzeugt der Roman auch als multikulturelle Liebesgeschichte mit ungewöhnlichen Figuren, die man als Leser einfach schnell ins Herz schließen muss.