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John Irving – „Der letzte Sessellift“

Sonntag, 7. Mai 2023

(Diogenes, 1088 S., HC) 
Der US-amerikanisch-kanadische Schriftsteller John Irving zählte noch nie zu den Bestseller-Autoren, die im Jahrestakt einen Roman veröffentlichen. So sind seit seinem 1968, hierzulande erst 1985 unter dem Titel „Lasst die Bären los!“ veröffentlichten Debüt meist im Abstand von drei bis vier Jahren bis 2015 insgesamt vierzehn Romane erschienen, einige davon sogar sehr erfolgreich verfilmt (u.a. „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“). Mittlerweile ist der Romancier 81 Jahre alt und legt sieben Jahre nach „Straße der Wunder“ mit „Der letzte Sessellift“ sein fast 1100 Seiten umfassendes Opus Magnum vor, ein Generationen und Präsidenten wie Ronald Reagan, Bill Clinton, Barack Obama und Donald Trump übergreifendes Werk, das im vertrauten Ton ebenso vertraute Themen wie Sport, Film, Sex, Gewalt und Tod miteinander vereint. 
Da seine ledige Mutter Rachel „Little Ray“ Brewster als Skilehrerin gerade in den Wintermonaten oft abwesend ist, wächst der am 18. Dezember 1941 und damit, wie seine Mutter immer wieder betont, zehn Tage zu spät geborene Adam bei seinen Großeltern in Exeter, New Hampshire, auf. Für Adam hat der Spruch, das Leben sei ein Film, deshalb eine besondere Bedeutung, weil sein Leben als Drehbuchautor für ihn tatsächlich ein Film ist, wenn auch ein nicht gedrehter. Während seine Mutter zusammen mit der Skiretterin Molly im gut zweihundert Meilen entfernten Stowe lebt, treibt Adam vor allem die Frage nach seinem ihm unbekannten Vater um. Alles, was er darüber weiß, lässt sich auf eine Nacht im Hotel „Jerome“ zurückführen, die seine Mutter dort mit Adams Erzeuger verbracht hat. 
Doch auch ohne die Identität seines Vaters zu kennen, gestalten sich Adams Familienverhältnisse unterhaltsam. Sein Großvater Lewis war einst Rektor an der Phillips Exeter Academy, spricht aber nicht, so dass der Junge früh den Eindruck gewann, sein Grandpa sei schon als Schuldirektor im Ruhestand auf die Welt gekommen. Adams wichtigtuerische Tanten Martha und Abigail haben ständig etwas zu nörgeln und wachen mit Argusaugen über das uneheliche Kind, während ihre Ehemänner, die beiden norwegischen Brüder Johan und Martin Vinter, letztlich dafür verantwortlich waren, dass die Brewster-Mädchen überhaupt erst zum Skifahren gekommen sind. Adam konnte sich allerdings nie fürs Skifahren begeistern und ließ sich stattdessen lieber von seiner Großmutter und Winter-Mom Mildred aus Melvilles „Moby-Dick“ vorlesen. Seine Mutter heiratet schließlich den kleinen Englischlehrer und Wrestling-Coach Elliot Barlow, der eine Geschlechtsumwandlung vollzieht und für Adam zum Ersatzvater wird. Seine lesbische ältere Cousine und Seelenverwandte Nora avanciert mit ihrer Freundin Emily „Em“ MacPherson, die sich zu sprechen weigert, in New York zum erfolgreichen Nischen-Comedy-Duo „Zwei Lesben, eine spricht“. Ein Attentat in der Gallows Lounge verändert das Leben aller Beteiligten für immer. Adam und Em verfolgen ihre Schriftstellerkarrieren und beobachten entsetzt, wie ihr Land erst unter republikanischen Präsidenten und Kardinal O’Connor vor die Hunde geht. 
„In den folgenden Jahren kamen harte Zeiten auf jede Art von Comedy zu. Für Em und mich als Schriftsteller wie für Nora und Em im Gallows würde es immer schwieriger werden, uns über irgendetwas lustig zu machen, egal, was. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie wollten sich heutzutage Zwei Lesben, eine spricht nennen. Heute kann man keine Witze mehr über Hass machen. Ich sage Ihnen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, als der Hass von heute noch in den Kinderschuhen steckte, war die Gegenreaktion schon da.“ (S. 581) 
John Irving hat in seiner langen Schriftstellerkarriere schon einige sehr umfangreiche Romane veröffentlicht. Sowohl „Garp und wie er die Welt sah“ „Owen Meany“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ als auch „Zirkuskind“ und „Bis ich dich finde“ kommen locker über 800 Seiten. 
Nun soll „Der letzte Sessellift“ der letzte „große“ Roman des Bestseller-Autors sein, der einmal mehr eine interessante Sammlung skurriler Persönlichkeiten und ihre Leidenschaften wie Literatur, den Ski- und Ringer-Sport, den Film noir und das Leben an sich vereint. 
Irvings Ich-Erzähler Adam Brewster erweist sich als das große Verbindungsglied zwischen all den Figuren, die sich durch ihre sexuelle Orientierung ebenso auszeichnen wie durch ihren respektvollen, wertschätzenden Umgang miteinander. Natürlich stattet Irving seine Figuren traditionell mit bemerkenswerten Eigenschaften aus, so wird Em nicht nur durch ihre selbstauferlegte Sprachlosigkeit, sondern auch durch ihre ohrenbetäubend lauten Orgasmen beschrieben, Adams Freundinnen scheißen sich entweder ein, bluten ständig oder sind so schwer verletzt, dass der Sex zu einer schwierigen Akrobatik-Nummer wird. 
Irving nutzt die Lebensgeschichten seiner Figuren aber auch, um die gesellschaftlichen Zustände in den USA unter die Lupe zu nehmen. Hier stechen vor allem Präsident Reagan mit seiner Ignoranz zur AIDS-Pandemie heraus, aber generell wird an Republikanern und der katholischen Kirche, aber auch an Demokraten, die die Wahl Trumps (der vor allem als „Mösengrapscher“ tituliert wird) ermöglicht haben, kein gutes Wort gelassen. 
„Der letzte Sessellift“ thematisiert immer wieder das Filmemachen und die Botschaft, dass nicht realisierte Drehbücher besonders lange nachwirken. Irvings Spätwerk wirkt dagegen wie eine erfolgreiche Fernsehserie, die sich über mehrere Staffeln ausführlich mit den Problemen, Herausforderungen, Schlüsselerlebnissen und Reifeprozessen der Figuren beschäftigen kann. Zwar weist der Roman auch einige Längen auf, doch die Figuren schließt man schnell ins Herz, und es ist spannend zu verfolgen, wie sich die Art der Beziehungen zwischen ihnen verändert. Vor allem stellt „Der letzte Sessellift“ ein feinfühliges Plädoyer für mehr Toleranz in Bezug auf sexuelle Orientierungen und Meinungen dar. 

John Irving – „Eine Mittelgewichts-Ehe“

Mittwoch, 6. April 2022

(Diogenes, 278 S., Tb.)
Der US-amerikanische Schriftsteller John Irving ist für seine oft skurril agierenden, manchmal auch körperlich deformierten und psychisch angeschlagenen Figuren bekannt, die sich in allerlei für den Normalbürger unvorstellbaren sexuellen Eskapaden hingeben. Das gelingt ihm meist so anschaulich, dass immerhin fünf seiner Werke (darunter „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“) sogar verfilmt worden sind. Mit seinem dritten, im Original 1974 veröffentlichten Roman „Eine Mittelgewichts-Ehe“ greift Irving mehrere seiner immer wiederkehrenden Topoi auf, erzählt von zwei Ehepaaren im Partnertausch-Modus und lässt dabei Ringer-Gewichtsklassen und andere Vergleiche aus dem Sport einfließen.
Die 1938 im österreichischen Eichbüchl in der Nähe von Wien geborene Anna Agathe Thalhammer hat eine traumatisierte Kindheit hinter sich. Als die Russen 1945 nach Österreich kamen, versteckte ihre Mutter sie in dem Körper einer ausgeweideten Kuh, wo sie nach einigen Tagen aber doch von einem georgischen Offizier gefunden und fortan „Utschka“ (Kuh) genannt wurde. Für den namenlosen Ich-Erzähler ist klar, dass „Utsch“, wie er sie abgekürzt zu nennen pflegt, aus demselben Grund verletzlich ist, aus dem sie stark ist. Sie ist ebenso in Wien aufgewachsen wie Severin Winter, dessen Vater wie Utschs Eltern während des Krieges starb. 
Die Tatsache, dass er einige Bilder seines verstorbenen Vaters besitzt, macht ihn mit Edith Fuller bekannt, die im Auftrag des Museum of Modern Art unterwegs ist, Gemälde zu erwerben, die die Sammlung abrunden. Sie erfährt, dass Severins Vater, Kurt Winter, während des Krieges seine Frau Katrina Marek mit einer Mappe voller erotischer Akte nach London geschickt hatte, wo sie eigentlich ihre Schauspielkarriere vorantreiben wollte, aber vor allem wegen der Akte, die Winter von ihr angefertigt hatte, als Modell engagiert wurde. 
Der mit Utsch verheiratete Ich-Erzähler, der nebenbei historische Romane schreibt, unterrichtet Geschichte am selben College wie Severin, der dort Deutsch unterrichtet und die Ringermannschaft trainiert. Die beiden Ehepaare lassen sich auf einen Partnertausch ein, schließlich scheinen die neuen Konstellationen sowohl in körperlicher Hinsicht als auch ihren Interessen nach besser zu passen. Doch als der Erzähler herausfindet, dass es dieses Arrangement wohl nicht gegeben hätte, wenn Edith ihren Mann nicht zuvor im Ringerkäfig mit einer lädierten Tanzlehrerin in flagranti erwischt hätte, verändern sich die Einstellungen der vier Beteiligten zu dem Partnertausch … 
„Ich sagte ihr, dass die schnellste Art, unsere Beziehung zu beenden, darin bestehe, unser Zusammensein als eine Art Provokation von Severin zu missbrauchen. Da schmollte sie mit mir. Ich wollte in diesem Moment sehr gern mit Edith schlafen, weil ich wusste, dass Utsch und Severin nicht konnten, aber ich erkannte, dass ihre Wut auf ihn sie wütend auf alles gemacht hatte und dass es unwahrscheinlich war, heute mit ihr zu schlafen.“ (S. 120) 
Irving nimmt sich in dem Roman viel Zeit, zunächst die Lebensgeschichten der Protagonisten aufzurollen, um ihnen ein Profil zu verleihen und eine Erklärung dafür anzubieten, warum sich die beiden Ehepaare auf einen Partnertausch einlassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Winters ihre beiden Kinder, Dorabella und Fiodiligi, nach den weiblichen Hauptpersonen in Mozarts Oper „Così fan tutte“ benannt haben, in der das Thema Partnertausch auf eine ähnliche Weise inszeniert wird wie in Irvings Roman. 
In seinem dritten Roman nach „Lasst die Bären los!“ und „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ arbeitet Irving viel mit Ringer-Vokabular, benennt einige der Kapitel sogar nach den verschiedenen Gewichtsklassen und verortet den entscheidenden Auslöser für den Partnertausch passenderweise auch in einem Ringerkäfig. Irving springt in seiner Erzählung in der Chronologie hin und her, wechselt die Perspektiven, auch wenn sie stets von dem Ich-Erzähler wiedergegeben werden, und mit sichtlichem Vergnügen beschreibt er auch diverse erotische Episoden. 
Doch letztlich nimmt die Vergangenheit der Protagonisten mehr Raum ein als die gegenwärtigen Verwicklungen, die Dialoge wirken oft gekünstelt, so dass man als Leser eher zum Betrachter einer wissenschaftlichen Operation wird und so wenig Interesse an den Problemen und Leidenschaften der mehr oder wenigen skurrilen Figuren entwickelt. 

 

John Irving – „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“

Sonntag, 24. Januar 2021

(Diogenes, 487 S., Tb.) 
Fred „Bogus“ Trumper leidet unter unspezifischen Problemen beim Wasserlassen. Nachdem ihm sein Vater, der Urologe ist, nicht weiterhelfen konnte, wendet sich Trumper in New York an den Franzosen Dr. Jean-Claude Vigneron, der seinem Patienten letztlich zwei Optionen anbietet, die seinem Leiden mit dem ungewöhnlich schmalen Urogenitaltrakt Abhilfe verschaffen könnten: eine Operation oder die Wassermethode, die vor allem darin besteht, vor und nach dem Geschlechtsverkehr viel Wasser zu trinken. Da Trumper sich nicht auf eine 48-stündige Schmerzphase nach einer Operation einlassen will, entscheidet er sich für die Wassermethode. 
Neben diesem gesundheitlichen Problem muss sich Trumper aber mit ganz existentiellen Nöten herumschlagen, nämlich seiner Doktorarbeit. Der Student der Sprachen an der University of Iowa plant, mit seiner Dissertation eine Übersetzung des Epos „Akthelt und Gunnel“ aus dem Altniedernordischen vorzulegen. Für einen Studienaufenthalt zieht es Trumper nach Österreich, wo er in Kaprun die erfolgreiche Skiläuferin Sue „Biggie“ Kunft kennenlernt. 
Als Biggie von Trumper schwanger wird und mit ihm nach Amerika zurückkehrt, streicht ihm sein Vater seine monetären Zuwendungen, so dass Trumper gezwungen ist, Aushilfsjobs wie das Verkaufen von Wimpeln in Sportstadien auszuüben. Die Beziehung zu Biggie geht in die Brüche, Trumper zieht es wieder nach Österreich, wo er seinen alten Freund Merrill Overturf besuchen will. Zwar findet er seinen Freund nicht, wird dafür aber in eine Drogengeschichte verwickelt. 
Die Rückkehr nach New York gelingt auf abenteuerliche Weise. Mit dem Drogengeld, das Trumper unerklärlicherweise zugesteckt bekommen hat, leistet er sich eine Taxifahrt nach Maine, wo Trumper seinen alten Freund Couth besuchen will. Dabei stellt er fest, dass Biggie und ihr gemeinsamer Sohn Colm bei Couth leben. Enttäuscht kehrt Trumper nach New York zurück. Ralph Tucker, für den Trumper schon früher als Tontechniker gearbeitet hat, will einen Dokumentarfilm über Trumper drehen und ihn „Der Griff in die Scheiße“ nennen. Bei den Dreharbeiten gerät auch Trumpers Beziehung zu seiner Freundin Tulpen ins Trudeln … 
„Er hatte Lust, nach Maine zu gehen, sich das neue Baby anzusehen und seine Zeit mit Colm zu verbringen. Er wusste, dort war er eine Zeitlang ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bleiben konnte. Er hatte auch Lust, nach New York zu gehen und Tulpen zu besuchen, aber er wusste nicht, wie er ihr entgegentreten sollte. Er stellte sich eine Art Rückkehr vor, die ihm gut gefallen würde: triumphierend, wie ein geheilter Krebskranker. Aber er war sich nicht klar, welche Krankheit er bei seinem Weggang gehabt hatte, und so konnte er auch schwerlich wissen, ob er nun geheilt war.“ (S. 456) 
Mit seinem zweiten, 1972 veröffentlichten Roman, erzählt John Irving („Das Hotel New Hampshire“, „Owen Meany“) die Geschichte eines Mannes, der nie wirklich etwas zu Ende gebracht hatte, der als Ringer schon kurz vor dem Triumph stand und dann doch noch seinen Kampf verlor; der vor den Frauen flüchtet, sobald sie ihm nur die leiseste Ahnung vermitteln, dass sie fremdgehen könnten; der sich letztlich ein Dissertationsthema aussucht, das ebenso uninteressant wie schwierig zu bewältigen ist. Als Leser fällt es einem schwer, Sympathien für diesen wankelmütigen Hallodri namens Fred „Bogus“ Trumper zu entwickeln. Bereits seine Einführung mit dem Problem seines verengten Urogenitaltrakt taugt nicht dazu, eine persönliche Bindung zu dem Protagonisten aufzubauen, der mal als Ich-Erzähler auftritt, dann als zu beobachtendes Objekt in der dritten Person oder auch als Rolle in einem Drehbuch. So munter wie Irving zwischen den Erzählperspektiven hin- und herspringt, so wechselt er auch die Zeitebenen, was es schwierig macht, der Geschichte zu folgen. Dazu lässt der US-Amerikaner immer wieder ausgiebige Zusammenfassungen der (fiktiven) altniedernordischen Saga in den Plot einfließen, die das Lesevergnügen weiter schmälern, was umso schmerzlicher ist, als dass Irving ein wirklich einfallsreicher, sprachlich versierter und witziger Autor mit einem Gespür für seine ungewöhnlichen Figuren ist.


John Irving – „Das Hotel New Hampshire“

Samstag, 26. September 2020

(Diogenes, 600 S., Tb.) 
Um die Studiengebühren für seinen Aufenthalt in Harvard zu finanzieren, nimmt Win Berry im Sommer einen Aushilfsjob in dem Hotel Arbuthnot-by-the-Sea an, wo er neben seiner späteren Frau Mary auch den jüdischen Schausteller Freud und dessen Motorrad fahrenden Bären Earl kennenlernt. Für 200 Dollar und seine besten Kleider kauft Win dem Schausteller sowohl das Gefährt als auch den leidlich dressierten Bären ab und beginnt, seine Leidenschaft für Hotels auszuleben. Anfangs zieht er mit seiner rasch anwachsenden Familie mit den Kindern Frank, Frannie, John, Lilly und Egg noch von Hotel zu Hotel, dann funktionieren sie in Dairy, Maine, eine ehemalige Mädchenschule zu einem Hotel um. Zwar erweisen sich die Räumlichkeiten und deren Ausstattung als denkbar ungeeignet für den Hotelbetrieb, aber von solchen Widrigkeiten lassen sich die Berrys nicht abschrecken, auch wenn das erste Hotel New Hampshire alles andere als Gewinn abwirft. 
So nimmt Win gern das Angebot von Freud an, ihm bei seinem Hotel in Wien als Manager unter die Arme zu greifen. Allerdings nehmen Mary und Egg einen anderen Flug und stürzen ab. In Wien müssen die anderen Berrys mit dem Umstand fertig werden, dass das Hotel, in das das Familienoberhaupt schon viel Geld für den Umbau investiert hat, vor allem einerseits von Prostituierten wie Kreisch-Annie, die Alte Billig und die Dunkle Inge bewohnt wird, andererseits von sogenannten „Radikalen“, deren politische Absichten allerdings nicht näher definiert werden. Freud ist nicht nur sichtlich gealtert, sondern auch erblindet, Hilfe bekommt er vor allem von einem sprechenden Bären, der sich als Susie entpuppt, die sich als so hässlich empfindet, dass sie ihr Leben nur in einem Bärenkostüm erträgt. Doch als die Berrys auf beherzte Weise einen verheerenden Bombenanschlag der Radikalen auf die nahe gelegene Oper verhindern, werden sie so prominent, dass ihnen auf einmal alle Türen offenstehen. 
Der homosexuelle Frank, der sich während seiner Zeit in Wien für die Volkswirtschaftslehre erwärmt hat, handelt einen lukrativen Vertrag für die stets klein gebliebene Lilly und ihren autobiographischen Debütroman „Wachstumsversuche“ aus, so dass Familie Berry wieder in die USA zurückkehren kann. Dank Lillys Einkommen kann es sich die Familie leisten, im New Yorker Stanhope Hotel zu wohnen, wo die Kinder endlich damit beginnen, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die in Maine von ihrem Schwarm Chipper Dove und seinen beiden Kumpels bei einem Bandenstich vergewaltigte Frannie sieht endlich eine Möglichkeit, sich an ihrem Peiniger zu rächen. John, der schon seit der Kindheit ein besonders inniges, mehr als nur geschwisterliches Verhältnis zu Frannie gepflegt hat, bekommt endlich die Gelegenheit, auf ungewöhnliche Weise über seine Schwester hinwegzukommen. Nur Lilly droht an ihrem eigenen literarischen Anspruch zu scheitern … 
„… wir waren es natürlich alle gewohnt, mit Phantasien zu leben. Vater ging ganz darin auf: seine Phantasie war sein eigenes Hotel. Freud konnte nur dort sehen. Franny, in der Gegenwart ganz gefasst, blickte ebenfalls in die Zukunft – und ich blickte immer vor allem auf Franny (und erhoffte mir Signale, wichtige Zeichen, Anweisungen). Von uns allen gelang es Frank wohl am besten, seine Phantasie umzusetzen; er erdachte sich seine eigene Welt und blieb dort für sich.“ (S. 391f.) 
Drei Jahre nach seinem internationalen Bestseller „Garp und wie er die Welt sah“ veröffentlichte John Irving 1981 mit „Das Hotel New Hampshire“ eine irrwitzige Familienchronik, in der sich Humor und Tragik stets die Waage halten. Genüsslich portraitiert Irving eine Familie, deren durch und durch skurrile Mitglieder zunächst von dem Traum ihres Oberhauptes Win durch ein abenteuerliches Leben geführt werden. Win Berrys Traum von einem eigenen Hotel führt die Familie vom unscheinbaren Dairy in Maine nach Wien und zurück in die USA, zunächst in die Metropole New York und abschließend nach Arbuthnot-by-the-Sea, wo sich der Kreis schließt und eine ereignisreiche Reise ihren versöhnlichen Abschluss findet. Auch wenn es Irving mit dem Inzest-Marathon in New York vor allem die US-amerikanischen Sittenwächter erzürnte, ist ihm mit „Das Hotel New Hampshire“ ein durchweg amüsantes Panoptikum kurioser Charaktere gelungen, unter denen die beiden Bären Earl und Susie noch am harmlosesten erscheinen. 
Irving erweist sich als Meister darin, jede seiner Hauptfiguren mit so vielen sympathischen Eigenschaften zu versehen, dass man als Leser nie das Gefühl bekommt, er würde sich über sie lustig machen. Stattdessen folgt er ihnen auf sehr unbeständigen Wegen zu ihrem jeweils eigenen Glück oder zumindest ihrer wesentlichen Bestimmung.


John Iriving – „Witwe für ein Jahr“

Montag, 27. Juli 2020

(Diogenes, 762 S., Tb.)
Im Alter von vier Jahren wird Ruth Cole eines Nachts Zeugin davon, wie der der sechzehnjährige Eddie O’Hare ihre Mutter von hinten besteigt. Es ist für alle Beteiligten ein merkwürdiger Sommer im Jahr 1958. Der berühmte Kinderbuchautor Ted Cole und seine Frau Marion haben sich schon vor dem Tod ihrer beiden Jungen Timothy und Thomas auseinandergelebt, die Opfer der Tatsache geworden sind, dass ihre Eltern sich mal wieder gestritten und betrunken haben, so dass sie den Wagen fahren mussten, der schließlich in einen tödlichen Unfall verwickelt wurde. Während sich die schöne Marion zunehmend in sich selbst zurückzog, nutzte Ted seine Kunstfertigkeit als Illustrator dazu, Mütter zu verführen, die er zunächst mit ihren Kindern portraitierte, dann allein und schließlich als Akt zeichnete und sie verführte. Um in der bevorstehenden Scheidung von Marion das Sorgerecht für Ruthie zu bekommen, engagierte er vorgeblich als Assistenten für sich selbst, im Grunde aber als Liebhaber für Marion.
Sein Plan geht auf. Eddie verliebt sich in die viel ältere Frau, die wenig später ohne ein Wort des Abschieds verschwindet – mit all den Bildern ihrer Söhne, die das Haus geschmückt haben. Eddie bleibt nach Marions spurlosem Verschwinden untröstlich und fortan auf ältere Frauen fixiert, ohne je die tiefen Gefühle entwickeln zu können, die ihn mit Marion verbunden haben. Aber er wird ebenso wie Ruth Cole Schriftsteller, längst nicht so erfolgreich wie sie, aber er kommt in den Genuss, Ruth Cole bei einer ihrer Autorenlesungen vorzustellen und sie so im Frühjahr 1990 endlich wiederzusehen. Doch die Freude des Wiedersehens währt nur kurz, denn Ruth stellt ihr neues Buch auch in Europa vor. Mit ihrem Lektor Allan, der sie unbedingt heiraten möchte, hat sie noch nicht mal geschlafen, was für ihre beste Freundin, die fast schon promiskuitive Journalistin Hannah, absolut unverständlich bleibt.
In Amsterdam ist Ruth nicht nur von einem jungen Holländer fasziniert, der sie verehrt, sondern lässt sich für die Recherchen zu ihrem neuen Buch auch dazu überreden, hinter einem Vorhang versteckt eine Prostituierte dabei zu beobachten, wie sie einen Freier bedient. Doch der Freier entpuppt sich als Mörder der rothaarigen Rooie und entkommt zunächst unentdeckt. Die anonymen Hinweise, die Ruth dem Polizisten Harry Hoekstra zukommen lässt, führen Jahre später zu dessen Ergreifung, doch Harry ist vielmehr an der Zeugin als an dem Täter interessiert und macht sich auf die Suche nach ihr. Ruth kehrt nach ihrer Lesereise in Europa wieder nach Hause zurück, heiratet Allan und bekommt mit ihm einen Sohn. Doch das Leben hält noch etliche Überraschungen für sie bereit …
„Eines Tages würde sie keine junge Mutter mehr sein, und dann würde sie wieder schreiben. Bisher hatte sie erst rund hundert Seiten von ,Mein letzter schlimmer Freund‘ zu Papier gebracht. Noch war sie nicht bis zur Szenen gekommen, in der der Freund die Schriftstellerin dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen. Ruth arbeitete noch darauf hin. Auch diese Szene wartete auf sie.“ (S. 585) 
Mit seinem neunten, 1998 veröffentlichten und ein Jahr darauf auch auf Deutsch veröffentlichten Roman „Witwe für ein Jahr“ hat der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving („Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“) ein Epos kreiert, das die Lebensgeschichte der Cole-Familienmitglieder Ted, Marion und Ruth sowie Eddie O’Hare über fast vier Jahrzehnte abdeckt und ihre vielschichtigen Liebesbeziehungen beschreibt, die vor allem von der Sehnsucht nach dem Verlorenen geprägt sind.
Ted Cole scheint sich in seinen unzähligen Affären mit jüngeren Frauen in eine glücklichere Zeit zurückzuversetzen, als seine Söhne noch lebten, während Marion ihre Liebe für ihre Söhne gänzlich verbraucht hat und in dem sechzehnjährigen Eddie einen kurzzeitigen Ersatz für diesen Verlust findet. Ruth wiederum arbeitet den Tod ihrer Brüder, die sie nie kennengelernt hat, die sie aber durch die allgegenwärtigen Fotos zuhause ihr Leben lang begleitet haben, in ihren autobiografisch gefärbten Büchern auf, in denen Väter und Mütter keine Rolle spielen, dafür aber Beziehungen mit schlimmen Freunden. Eddie sehnt sich nur nach Marion zurück.
Irving erweist sich als humorvoller und detailfreudiger Beobachter, der auch weniger liebenswerten Figuren wie Ted und Marion Cole und sowie Hannah sympathische Züge zu verleihen versteht. Es ist aber vor allem das Verhältnis zur Sexualität, das Irving in „Witwe für ein Jahr“ (dessen Titel auf eine verärgerte und natürlich verwitwete Leserin zurückgeht) thematisiert. Das beginnt mit der lustvoll beschriebenen Eröffnungsszene und setzt sich über die zahllosen Affären von Ruth‘ Vater und ihrer Freundin Hannah ebenso fort wie in Ruth‘ eigenen eher verklemmten Beziehungen, in denen Sex eher etwas ist, das hinter sich gebracht werden sollte und dann teilweise auch mit schlimmen Erfahrungen enden.
Irvings Kunstfertigkeit besteht einmal mehr darin, ganze Lebensgeschichten nicht nur unterhaltsam zu erzählen, sondern die Figuren, selbst wenn sie nicht immer überzeugend ausgestaltet sind, in ihren spannenden Verwicklungen untereinander zu begleiten. „Witwe für ein Jahr“ unterhält durch seinen meist charmanten Humor, seine ebenso lebensnahen wie skurrilen Figuren, die interessanterweise durch ihren jeweils persönlichen Werdegang allesamt zu Schriftstellern werden. So ist dieses wieder mal über 700 Seiten lange Epos ein vielschichtiger Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der eindringlich aufzeigt, wie früheste Beziehungen und Entscheidungen den Lebensweg eines Menschen prägen.

Leseprobe John Irving - "Witwe für ein Jahr"

John Irving – „Garp und wie er die Welt sah“

Samstag, 11. Mai 2019

(Diogenes, 840 S., HC)
Statt sich dem Willen ihrer Eltern zu beugen und das Wellesley College zu besuchen, um nach ihrem Abschluss als vorzügliche Heiratskandidaten zu gelten, schmeißt Jenny Fields das College zugunsten einer Karriere in der Krankenpflege, zumal sie bei ihren Kommilitonen im Hauptfach Anglistik ohnehin nur den Eindruck gewonnen hat, dass sie neben der Bildung vor allem den sicheren Umgang mit Männern erlernen wollen. An Männern ist Jenny überhaupt nicht interessiert. 1942 wird sie in Boston sogar festgenommen, weil sie einen Mann, der ihr im Kino zu aufdringlich wurde, verletzte. Um sich trotzdem ihren Kinderwunsch zu erfüllen, bedient sie sich im Krankenhaus bei dem Technical Sergeant Garp, der als britischer Kugelturmschütze über Rouen abgeschossen wurde und sich mit schwerer Hirnverletzung in Jennys Obhut befindet.
Für seine kleine Statur besitzt der schwachsinnige Vollwaise, der nur noch seinen Namen sprechen kann, einen erstaunlich großen Penis, den Jenny sich eines Abends einführt. Das Ergebnis dieser Vereinigung mit Garp, der kurz darauf stirbt, nennt sie T. S. Garp und zieht ihn allein auf, während er die Steering School besucht, wo seine Mutter als Krankenschwester arbeitet. Von seinem Vater weiß Garp nur, dass er Soldat war, im Krieg gefallen war und dass seine Eltern während des Krieges keine Zeit zum Heiraten hatten. Seine Mutter legt eine von ihrer Umwelt skeptisch wahrgenommene Ernsthaftigkeit an den Tag, liest unzählige Bücher und besucht in ihren Freistunden Kurse, die den Lehrern, Mitarbeitern und ihren Ehegatten an der Steering School kostenlos zur Verfügung stehen. Zu den prägenden Erfahrungen während seiner Schulzeit zählt die Begegnung Cushie Percy, der Tochter des Schulsekretärs Stewart Percy, mit der Garp seine erste sexuelle Erfahrung teilt, aber vor allem Helen Holms, die belesene Tochter seines Ringen-Lehrers, hat es ihm angetan. Da sie nur einen „richtigen“ Schriftsteller zu heiraten beabsichtige, steht Garps Entschluss fest.
Mit seiner Mutter zieht er nach seinem Schulabschluss nach Wien, wo Jenny Fields an ihrer Autobiographie mit dem Titel „Eine sexuell Verdächtige: Die Autobiographie von Jenny Fields“ schreibt, mit der sie schließlich zur Gallionsfigur der Frauenbewegung avanciert. Garp selbst verfasst die Kurzgeschichte „Die Pension Grillparzer“ und gewinnt so das Herz seiner geliebten Helen, die nach der Hochzeit Literaturgeschichte an einer Universität lehrt, während Garp mit „Zaudern“ seinen ersten Roman veröffentlicht. Es folgen zwei Kinder und Partnertausch mit den befreundeten Fletchers, was Garp zu seinem zweiten Roman „Der Hahnrei fängt sich“ inspiriert.
„Der Roman handelte zwar nicht von Helen und Garp und Harry und Alice, aber er handelte von vier Menschen, deren letztlich ungleiche und sexuell angespannte Beziehung ein Reinfall ist. Alle vier sind körperlich gehandikapt. Einer der Männer ist blind. Der andere Mann stottert dermaßen, dass seine Dialogpartien eine quälende Lektüre sind. Jenny verübelte Garp diesen billigen Hieb auf den armen verblichenen Mr. Tinch, aber Schriftsteller, sagte Garp traurig, seien bloß Beobachter – gute und rücksichtslose Nachahmer des menschlichen Verhaltens.“ (S. 315) 
Helen beginnt eine Affäre mit dem selbstgefälligen Studenten Michael Milton ein, die in einer Katastrophe endet und Garp zu seinem nächsten Roman inspiriert, „Bensenhaver und wie er die Welt sah“. John Wolf, Garps Verleger, legt seinem Schützling nahe, die USA für eine Weile zu verlassen, bis sich der zwangsläufige Medienrummel gelegt hat, doch bei einer Wahlkampfveranstaltung, bei der seine Mutter die Kandidatur einer Frau für das Gouverneursamt in Maine unterstützt, ereignet sich die nächste Tragödie …
Mit seinem vierten Roman nach „Lasst die Bären los!“, „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ beschreibt der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving nicht nur verschiedene Aspekte der Frauenbewegung und Geschlechter-Identität, sondern auch den Zusammenhang von Dichtung und Wahrheit. Die Beweggründe der Frauenbewegung werden dabei durchaus kritisch thematisiert. Während Irving auf der einen Seite starke Frauen als Protagonistinnen etabliert, handeln sich beispielsweise die Ellen-Jamesianerinnen harsche Kritik ein. Aus Solidarität zu dem damals elfjährigen Mädchen Ellen James, dem nach seiner Vergewaltigung auch noch die Zunge entfernt wurde, damit sie ihren Peiniger nicht verraten konnte, lassen sich auch ihrer Anhängerinnen die Zungen rausschneiden. Um sich von dieser ungewollten Aufmerksamkeit durch die grotesken Selbstverstümmelungen zu distanzieren, hat nicht nur Ellen James einen Aufsatz mit dem Titel „Warum ich keine Ellen-Jamesianerin bin“ veröffentlicht, auch Garp äußerst sich kritisch gegenüber dieser Bewegung und macht sich ebenso wie seine Mutter zur Zielscheibe eines Attentats.
Welche Probleme die Fragen nach der eigenen sexuellen Identität bereiten, muss auch Roberta Muldoon erfahren, die zuvor als Mann noch ein erfolgreicher Football-Spieler gewesen war und von ihren alten Fans mit hämischen, verächtlichen Kommentaren bedacht wird. Einen besonderen thematischen Schwerpunkt bildet darüber hinaus das Wechselspiel von Wirklichkeit und Fiktion bzw. die Frage, inwieweit das reale Leben das Schreiben inspiriert. Das wird gleich bei der vollständigen Wiedergabe von Garps erster Erzählung, die von Marc Aurel mitgeprägte Geschichte „Die Pension Grillparzer“ demonstriert, die nicht nur auf die eigenen Erfahrungen von Garp und seiner Mutter während ihrer Zeit in Wien verweist, sondern auch auf Irvings nachfolgenden Roman „Das Hotel New Hampshire“. Aber auch die nachfolgenden Romane und auf besonders drastische Weise „Bensenhaver und wie er die Welt sah“ machen deutlich, wie epochale Ereignisse im Leben des Schriftstellers sich auf sein Werk auswirken, und interessanterweise finden sich die Themen, die Irving/Garp in „Zaudern“ und „Ein Hahnrei fängt sich“ angerissen hat, in Irvings früheren Büchern „Lasst die Bären los!“ und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ wieder.
Was „Garp und wie er die Welt sah“ aber über die epische Länge von über 800 Seiten aber neben den interessanten Figuren und Themen jederzeit so lesenswert macht, ist die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, so wie es Jillsy, die Putzfrau von Garps Verlegers John Wolf, beschreibt, der Wolf die Manuskripte seiner Klienten vorab zur Begutachtung zu lesen gibt.
„,Bei den meisten Büchern weiß man, dass nichts passiert‘, sagte Jillsy. ,Gott, das wissen Sie doch. Bei anderen Büchern‘, sagte sie, ,weiß man schon, was passiert, die braucht man also auch nicht zu lesen. Aber dieses Buch‘, sagte Jillsy, ,dieses Buch ist so krank, dass man weiß, es passiert was, aber man kann sich nicht vorstellen, was. Man muss selbst krank sein, um sich vorstellen zu können, was in diesem Buch passiert‘, sagte Jillsy.“ (S. 624)

John Irving – „Straße der Wunder“

Sonntag, 10. April 2016

(Diogenes, 776 S., HC)
Juan Diego hat zwei gänzlich voneinander getrennte und völlig unterschiedliche Leben geführt, wie er sagt - eines als Müllkippenkind in Mexiko, das andere nach seinem Umzug nach Iowa in der amerikanischen Erfahrungswelt. Man könnte auch sagen, ein Leben sei real gewesen, das andere erfunden, eines in der Erinnerung, das andere in seinen Träumen …
Juan wächst mit seiner unverständlich sprechenden Schwester Lupe auf einer Mülldeponie im mexikanischen Oaxaca auf. Die als Prostituierte arbeitende Mutter hat die beiden Kinder früh im Stich gelassen und sie in die Obhut des von jesuitischen Priestern und Nonnen geführten Waisenhauses gegeben. Sie sind eine von nur zehn Familien, die in der Siedlung Guerrero leben und auf der Deponie das Sammeln und Sortieren von Glas, Aluminium und Kupfer übernehmen. Da Juan sich aber auch das Lesen selbst beigebracht hat, wird er von den beiden alten Jesuitenpriestern Alfonso und Octavio auch der „Müllkippenleser“ genannt, und Bruder Pepe fühlt sich als Lehrer an der Jesuitenschule dafür zuständig, Juan mit geeignetem Lesestoff zu versorgen.
Aber auch seine Schwester Lupe ist mit einer besonderen Gabe gesegnet. Sie kann in den Gedanken anderer Menschen lesen und – etwas weniger zuverlässig – die Zukunft vorhersagen. Ihr gemeinsames Leben nimmt eine schicksalhafte Wende, als sie eine Anstellung im Zirkus Circo las Maravillas finden, Juan, der seit einem Unfall im Alter von vierzehn Jahren hinkt, als Hochseilartist und Lupe als Wahrsagerin.

Vierzig Jahre später ist aus Juan Diego ein bekannter Schriftsteller geworden. Er unternimmt eine Reise auf die Philippinen, die sein ehemaliger Student und in Manila mit seinen erbaulichen Romanen recht bekannte Autor Clark French organisiert hat, und erinnert sich an seine Kindheit auf der Deponie, die Zeit im Zirkus und seine Begegnung mit Miriam und ihrer Tochter Dorothy, die ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchen.

„Miriam und Dorothy waren so sehr mit seinen Träumen verwoben, dass er sich sogar fragte, ob die beiden Frauen etwa nur in seinen Träumen existierten. Nur – existieren mussten sie, denn schließlich hatten andere sie ja auch gesehen!“ (S. 484) 

Der amerikanische Bestseller-Autor John Irving, dessen Romane „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ auch erfolgreich verfilmt worden sind, hat schon immer ein feines Gespür dafür gehabt, außergewöhnliche Figuren zu kreieren, die in ihrem ganz eigenen Universum leben und fast schon berauschend magische Geschichten erleben. Im Mittelpunkt seines neuen Romans steht vor allem der auf einer Müllkippe aufgewachsene Schriftsteller Juan Diego Guerrero, der sich während seiner Philippinen-Reise an die Geschichte seines Lebens erinnert, das untrennbar mit seiner außergewöhnlichen Schwester, dem Deponiechef el jefe, den Jesuitenpriestern und einigen Frauen verbunden ist.

Da Juan Diego aber ein geborener Geschichtenerzähler ist, wird gerade im späteren Verlauf des Romans nicht ganz klar, was er tatsächlich erlebt oder vielleicht nur erfunden oder geträumt hat, zumal er unter dem wechselnden Einfluss von Betablockern und Viagra steht. Interessant herausgearbeitet ist dabei vor allem das Verhältnis von Juan und seiner Schwester Lupe. Dadurch, dass nur er versteht, was Lupe für die meisten anderen unverständlich von sich gibt, entsteht zwischen den beiden Waisen eine so innige Bindung, dass Lupe eine folgenschwere Entscheidung trifft, um ihrem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen.

Aber auch die Beziehung zwischen dem autodidaktisch gebildeten Juan und seinen jesuitischen Lehrern bietet viel Raum für die Auseinandersetzung mit dem Glauben an sich, dem Glauben an Wunder, dem Tod und der Literatur. In letzter Hinsicht wird auch die Beziehung zwischen Juan und Clark, zwischen Lehrer und ehemaligem Studenten interessant, wenn es um die Qualität und die Wurzeln der Literatur geht. Kann gute Literatur nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz des Schriftstellers gedeihen, oder ist es eher die Phantasie, die Autoren zu großen Werken inspiriert?

Und schließlich thematisiert Irving in seinem umfangreichen Roman auch den Umgang mit der eigenen Biografie. Was macht das Individuum aus? Sind es seine Taten, seine Erinnerungen, seine Träume, seine Erfahrungen? All diese Fragen und Themen verwebt Irving zu einem schillernden, in jeder Hinsicht Grenzen sprengenden Roman, dessen einzige Schwäche darin besteht, dass er seine sympathischen Hauptfiguren nie wirklich zur Ruhe kommen lässt und die Geschichte(n) stellenweise unnötig ausschweifend erzählt, so dass hin und wieder der Faden verloren geht. Zum Ende hin bekommt Irving wieder die Kurve und zu alter Stärke zurück, führt die losen Enden gekonnt zusammen. „Straße der Wunder“ ist ein Roman über das Wunder des Lebens und die grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie im Glauben und in der Literatur, in Träumen und Erzählungen zum Ausdruck kommen. Es geht aber auch um Liebe und Tod, Sex, Opfer und Verlust, die Heimat und das Fremde.  Irving erweist sich einmal mehr als Meister, all diese großen Themen in einem bunten Fabulierkunstwerk zu vereinen und den Leser mit Figuren bekannt zu machen, die man so schnell nicht vergisst.


John Irving - „Die vierte Hand“

Montag, 4. Mai 2009

(Diogenes, 439 S., HC)
In seinen bisherigen neun Romanen hat sich der amerikanische Schriftsteller John Irving als Meister skurriler Geschichten erwiesen, man denke nur an verfilmte Welterfolge wie „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ oder zuletzt „Gottes Werk und Teufels Beitrag“. In „Die vierte Hand“ erzählt Irving die bemerkenswerte Geschichte des amerikanischen Fernsehjournalisten Patrick Wallingford, der bislang stets eine bemerkenswerte Wirkung auf Frauen hatte.
Sein Leben ändert sich schlagartig, als ihm während einer Indienreportage im Zoo die linke Hand von einem Löwen abgebissen wird. Wallingford muss aber nicht lange auf Ersatz warten. Ein ebenso ehrgeiziger wie verschrobener Handchirurg und eine junge Frau, die von ihrem Mann keine Kinder bekommen kann, aber gern welche hätte, sorgen gemeinsam für eine neue linke Hand. Der eben noch kerngesunde, aber zeugungsunfähige Spender stirbt unversehens, so dass einer erfolgreichen Transplantation nichts mehr im Wege steht. Einzige Bedingung: die junge Frau verlangt ein Besuchsrecht für die Hand. Wallingford merkt aber recht schnell, dass mit diesem Recht noch etwas verbunden ist. Ehe er sich versieht, fällt die Frau in der Praxis über ihn her und bekommt, was sie will – ein Kind. Und auf einmal entwickelt der Frauenschwarm Wallingford, der beruflich von seinen Kolleginnen langsam ausgebootet wird, familiäre Gefühle. Irving hat mit diesem Buch eine treffende Mediensatire wie ungewöhnliche Liebesgeschichte geschrieben, die einfach Spaß macht.