„Ihre vorsätzliche Nacktheit war bedrückend, allerdings nicht, weil sie ihn wirklich gereizt hätte, Sex mit ihr zu haben (allein schon der Gedanke) erschien ihm plötzlich als der Inbegriff des Bösen. Er wollte gar keinen Sex mit ihr – er verspürte nur eine ganz flüchtige Begierde -, aber ihre überdeutliche Verfügbarkeit betäubte seine anderen Sinne. Dabei war er sich bewusst, dass sich ein so reines Übel, etwas so eindeutig Verkehrtes, wohl selten so folgenlos darbot. Das war ja gerade das Entsetzliche: Wenn er ihr gestattete, ihn zu verführen, würde das kein negatives Nachspiel haben – außer dass er sich, immer und ewig – daran erinnern und schuldig fühlen würde.“ (S. 759)
John Irving – „Zirkuskind“
Montag, 13. Januar 2025
John Irving – „Der letzte Sessellift“
Sonntag, 7. Mai 2023
„In den folgenden Jahren kamen harte Zeiten auf jede Art von Comedy zu. Für Em und mich als Schriftsteller wie für Nora und Em im Gallows würde es immer schwieriger werden, uns über irgendetwas lustig zu machen, egal, was. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie wollten sich heutzutage Zwei Lesben, eine spricht nennen. Heute kann man keine Witze mehr über Hass machen. Ich sage Ihnen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, als der Hass von heute noch in den Kinderschuhen steckte, war die Gegenreaktion schon da.“ (S. 581)
John Irving – „Eine Mittelgewichts-Ehe“
Mittwoch, 6. April 2022
„Ich sagte ihr, dass die schnellste Art, unsere Beziehung zu beenden, darin bestehe, unser Zusammensein als eine Art Provokation von Severin zu missbrauchen. Da schmollte sie mit mir. Ich wollte in diesem Moment sehr gern mit Edith schlafen, weil ich wusste, dass Utsch und Severin nicht konnten, aber ich erkannte, dass ihre Wut auf ihn sie wütend auf alles gemacht hatte und dass es unwahrscheinlich war, heute mit ihr zu schlafen.“ (S. 120)
John Irving – „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“
Sonntag, 24. Januar 2021
„Er hatte Lust, nach Maine zu gehen, sich das neue Baby anzusehen und seine Zeit mit Colm zu verbringen. Er wusste, dort war er eine Zeitlang ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bleiben konnte. Er hatte auch Lust, nach New York zu gehen und Tulpen zu besuchen, aber er wusste nicht, wie er ihr entgegentreten sollte. Er stellte sich eine Art Rückkehr vor, die ihm gut gefallen würde: triumphierend, wie ein geheilter Krebskranker. Aber er war sich nicht klar, welche Krankheit er bei seinem Weggang gehabt hatte, und so konnte er auch schwerlich wissen, ob er nun geheilt war.“ (S. 456)
John Irving – „Das Hotel New Hampshire“
Samstag, 26. September 2020
„… wir waren es natürlich alle gewohnt, mit Phantasien zu leben. Vater ging ganz darin auf: seine Phantasie war sein eigenes Hotel. Freud konnte nur dort sehen. Franny, in der Gegenwart ganz gefasst, blickte ebenfalls in die Zukunft – und ich blickte immer vor allem auf Franny (und erhoffte mir Signale, wichtige Zeichen, Anweisungen). Von uns allen gelang es Frank wohl am besten, seine Phantasie umzusetzen; er erdachte sich seine eigene Welt und blieb dort für sich.“ (S. 391f.)
John Iriving – „Witwe für ein Jahr“
Montag, 27. Juli 2020
Im Alter von vier Jahren wird Ruth Cole eines Nachts Zeugin davon, wie der der sechzehnjährige Eddie O’Hare ihre Mutter von hinten besteigt. Es ist für alle Beteiligten ein merkwürdiger Sommer im Jahr 1958. Der berühmte Kinderbuchautor Ted Cole und seine Frau Marion haben sich schon vor dem Tod ihrer beiden Jungen Timothy und Thomas auseinandergelebt, die Opfer der Tatsache geworden sind, dass ihre Eltern sich mal wieder gestritten und betrunken haben, so dass sie den Wagen fahren mussten, der schließlich in einen tödlichen Unfall verwickelt wurde. Während sich die schöne Marion zunehmend in sich selbst zurückzog, nutzte Ted seine Kunstfertigkeit als Illustrator dazu, Mütter zu verführen, die er zunächst mit ihren Kindern portraitierte, dann allein und schließlich als Akt zeichnete und sie verführte. Um in der bevorstehenden Scheidung von Marion das Sorgerecht für Ruthie zu bekommen, engagierte er vorgeblich als Assistenten für sich selbst, im Grunde aber als Liebhaber für Marion.
Sein Plan geht auf. Eddie verliebt sich in die viel ältere Frau, die wenig später ohne ein Wort des Abschieds verschwindet – mit all den Bildern ihrer Söhne, die das Haus geschmückt haben. Eddie bleibt nach Marions spurlosem Verschwinden untröstlich und fortan auf ältere Frauen fixiert, ohne je die tiefen Gefühle entwickeln zu können, die ihn mit Marion verbunden haben. Aber er wird ebenso wie Ruth Cole Schriftsteller, längst nicht so erfolgreich wie sie, aber er kommt in den Genuss, Ruth Cole bei einer ihrer Autorenlesungen vorzustellen und sie so im Frühjahr 1990 endlich wiederzusehen. Doch die Freude des Wiedersehens währt nur kurz, denn Ruth stellt ihr neues Buch auch in Europa vor. Mit ihrem Lektor Allan, der sie unbedingt heiraten möchte, hat sie noch nicht mal geschlafen, was für ihre beste Freundin, die fast schon promiskuitive Journalistin Hannah, absolut unverständlich bleibt.
In Amsterdam ist Ruth nicht nur von einem jungen Holländer fasziniert, der sie verehrt, sondern lässt sich für die Recherchen zu ihrem neuen Buch auch dazu überreden, hinter einem Vorhang versteckt eine Prostituierte dabei zu beobachten, wie sie einen Freier bedient. Doch der Freier entpuppt sich als Mörder der rothaarigen Rooie und entkommt zunächst unentdeckt. Die anonymen Hinweise, die Ruth dem Polizisten Harry Hoekstra zukommen lässt, führen Jahre später zu dessen Ergreifung, doch Harry ist vielmehr an der Zeugin als an dem Täter interessiert und macht sich auf die Suche nach ihr. Ruth kehrt nach ihrer Lesereise in Europa wieder nach Hause zurück, heiratet Allan und bekommt mit ihm einen Sohn. Doch das Leben hält noch etliche Überraschungen für sie bereit …
„Eines Tages würde sie keine junge Mutter mehr sein, und dann würde sie wieder schreiben. Bisher hatte sie erst rund hundert Seiten von ,Mein letzter schlimmer Freund‘ zu Papier gebracht. Noch war sie nicht bis zur Szenen gekommen, in der der Freund die Schriftstellerin dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen. Ruth arbeitete noch darauf hin. Auch diese Szene wartete auf sie.“ (S. 585)Mit seinem neunten, 1998 veröffentlichten und ein Jahr darauf auch auf Deutsch veröffentlichten Roman „Witwe für ein Jahr“ hat der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving („Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“) ein Epos kreiert, das die Lebensgeschichte der Cole-Familienmitglieder Ted, Marion und Ruth sowie Eddie O’Hare über fast vier Jahrzehnte abdeckt und ihre vielschichtigen Liebesbeziehungen beschreibt, die vor allem von der Sehnsucht nach dem Verlorenen geprägt sind.
Ted Cole scheint sich in seinen unzähligen Affären mit jüngeren Frauen in eine glücklichere Zeit zurückzuversetzen, als seine Söhne noch lebten, während Marion ihre Liebe für ihre Söhne gänzlich verbraucht hat und in dem sechzehnjährigen Eddie einen kurzzeitigen Ersatz für diesen Verlust findet. Ruth wiederum arbeitet den Tod ihrer Brüder, die sie nie kennengelernt hat, die sie aber durch die allgegenwärtigen Fotos zuhause ihr Leben lang begleitet haben, in ihren autobiografisch gefärbten Büchern auf, in denen Väter und Mütter keine Rolle spielen, dafür aber Beziehungen mit schlimmen Freunden. Eddie sehnt sich nur nach Marion zurück.
Irving erweist sich als humorvoller und detailfreudiger Beobachter, der auch weniger liebenswerten Figuren wie Ted und Marion Cole und sowie Hannah sympathische Züge zu verleihen versteht. Es ist aber vor allem das Verhältnis zur Sexualität, das Irving in „Witwe für ein Jahr“ (dessen Titel auf eine verärgerte und natürlich verwitwete Leserin zurückgeht) thematisiert. Das beginnt mit der lustvoll beschriebenen Eröffnungsszene und setzt sich über die zahllosen Affären von Ruth‘ Vater und ihrer Freundin Hannah ebenso fort wie in Ruth‘ eigenen eher verklemmten Beziehungen, in denen Sex eher etwas ist, das hinter sich gebracht werden sollte und dann teilweise auch mit schlimmen Erfahrungen enden.
Irvings Kunstfertigkeit besteht einmal mehr darin, ganze Lebensgeschichten nicht nur unterhaltsam zu erzählen, sondern die Figuren, selbst wenn sie nicht immer überzeugend ausgestaltet sind, in ihren spannenden Verwicklungen untereinander zu begleiten. „Witwe für ein Jahr“ unterhält durch seinen meist charmanten Humor, seine ebenso lebensnahen wie skurrilen Figuren, die interessanterweise durch ihren jeweils persönlichen Werdegang allesamt zu Schriftstellern werden. So ist dieses wieder mal über 700 Seiten lange Epos ein vielschichtiger Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der eindringlich aufzeigt, wie früheste Beziehungen und Entscheidungen den Lebensweg eines Menschen prägen.
Leseprobe John Irving - "Witwe für ein Jahr"
John Irving – „Garp und wie er die Welt sah“
Samstag, 11. Mai 2019
Statt sich dem Willen ihrer Eltern zu beugen und das Wellesley College zu besuchen, um nach ihrem Abschluss als vorzügliche Heiratskandidaten zu gelten, schmeißt Jenny Fields das College zugunsten einer Karriere in der Krankenpflege, zumal sie bei ihren Kommilitonen im Hauptfach Anglistik ohnehin nur den Eindruck gewonnen hat, dass sie neben der Bildung vor allem den sicheren Umgang mit Männern erlernen wollen. An Männern ist Jenny überhaupt nicht interessiert. 1942 wird sie in Boston sogar festgenommen, weil sie einen Mann, der ihr im Kino zu aufdringlich wurde, verletzte. Um sich trotzdem ihren Kinderwunsch zu erfüllen, bedient sie sich im Krankenhaus bei dem Technical Sergeant Garp, der als britischer Kugelturmschütze über Rouen abgeschossen wurde und sich mit schwerer Hirnverletzung in Jennys Obhut befindet.
Für seine kleine Statur besitzt der schwachsinnige Vollwaise, der nur noch seinen Namen sprechen kann, einen erstaunlich großen Penis, den Jenny sich eines Abends einführt. Das Ergebnis dieser Vereinigung mit Garp, der kurz darauf stirbt, nennt sie T. S. Garp und zieht ihn allein auf, während er die Steering School besucht, wo seine Mutter als Krankenschwester arbeitet. Von seinem Vater weiß Garp nur, dass er Soldat war, im Krieg gefallen war und dass seine Eltern während des Krieges keine Zeit zum Heiraten hatten. Seine Mutter legt eine von ihrer Umwelt skeptisch wahrgenommene Ernsthaftigkeit an den Tag, liest unzählige Bücher und besucht in ihren Freistunden Kurse, die den Lehrern, Mitarbeitern und ihren Ehegatten an der Steering School kostenlos zur Verfügung stehen. Zu den prägenden Erfahrungen während seiner Schulzeit zählt die Begegnung Cushie Percy, der Tochter des Schulsekretärs Stewart Percy, mit der Garp seine erste sexuelle Erfahrung teilt, aber vor allem Helen Holms, die belesene Tochter seines Ringen-Lehrers, hat es ihm angetan. Da sie nur einen „richtigen“ Schriftsteller zu heiraten beabsichtige, steht Garps Entschluss fest.
Mit seiner Mutter zieht er nach seinem Schulabschluss nach Wien, wo Jenny Fields an ihrer Autobiographie mit dem Titel „Eine sexuell Verdächtige: Die Autobiographie von Jenny Fields“ schreibt, mit der sie schließlich zur Gallionsfigur der Frauenbewegung avanciert. Garp selbst verfasst die Kurzgeschichte „Die Pension Grillparzer“ und gewinnt so das Herz seiner geliebten Helen, die nach der Hochzeit Literaturgeschichte an einer Universität lehrt, während Garp mit „Zaudern“ seinen ersten Roman veröffentlicht. Es folgen zwei Kinder und Partnertausch mit den befreundeten Fletchers, was Garp zu seinem zweiten Roman „Der Hahnrei fängt sich“ inspiriert.
„Der Roman handelte zwar nicht von Helen und Garp und Harry und Alice, aber er handelte von vier Menschen, deren letztlich ungleiche und sexuell angespannte Beziehung ein Reinfall ist. Alle vier sind körperlich gehandikapt. Einer der Männer ist blind. Der andere Mann stottert dermaßen, dass seine Dialogpartien eine quälende Lektüre sind. Jenny verübelte Garp diesen billigen Hieb auf den armen verblichenen Mr. Tinch, aber Schriftsteller, sagte Garp traurig, seien bloß Beobachter – gute und rücksichtslose Nachahmer des menschlichen Verhaltens.“ (S. 315)Helen beginnt eine Affäre mit dem selbstgefälligen Studenten Michael Milton ein, die in einer Katastrophe endet und Garp zu seinem nächsten Roman inspiriert, „Bensenhaver und wie er die Welt sah“. John Wolf, Garps Verleger, legt seinem Schützling nahe, die USA für eine Weile zu verlassen, bis sich der zwangsläufige Medienrummel gelegt hat, doch bei einer Wahlkampfveranstaltung, bei der seine Mutter die Kandidatur einer Frau für das Gouverneursamt in Maine unterstützt, ereignet sich die nächste Tragödie …
Mit seinem vierten Roman nach „Lasst die Bären los!“, „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ beschreibt der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving nicht nur verschiedene Aspekte der Frauenbewegung und Geschlechter-Identität, sondern auch den Zusammenhang von Dichtung und Wahrheit. Die Beweggründe der Frauenbewegung werden dabei durchaus kritisch thematisiert. Während Irving auf der einen Seite starke Frauen als Protagonistinnen etabliert, handeln sich beispielsweise die Ellen-Jamesianerinnen harsche Kritik ein. Aus Solidarität zu dem damals elfjährigen Mädchen Ellen James, dem nach seiner Vergewaltigung auch noch die Zunge entfernt wurde, damit sie ihren Peiniger nicht verraten konnte, lassen sich auch ihrer Anhängerinnen die Zungen rausschneiden. Um sich von dieser ungewollten Aufmerksamkeit durch die grotesken Selbstverstümmelungen zu distanzieren, hat nicht nur Ellen James einen Aufsatz mit dem Titel „Warum ich keine Ellen-Jamesianerin bin“ veröffentlicht, auch Garp äußerst sich kritisch gegenüber dieser Bewegung und macht sich ebenso wie seine Mutter zur Zielscheibe eines Attentats.
Welche Probleme die Fragen nach der eigenen sexuellen Identität bereiten, muss auch Roberta Muldoon erfahren, die zuvor als Mann noch ein erfolgreicher Football-Spieler gewesen war und von ihren alten Fans mit hämischen, verächtlichen Kommentaren bedacht wird. Einen besonderen thematischen Schwerpunkt bildet darüber hinaus das Wechselspiel von Wirklichkeit und Fiktion bzw. die Frage, inwieweit das reale Leben das Schreiben inspiriert. Das wird gleich bei der vollständigen Wiedergabe von Garps erster Erzählung, die von Marc Aurel mitgeprägte Geschichte „Die Pension Grillparzer“ demonstriert, die nicht nur auf die eigenen Erfahrungen von Garp und seiner Mutter während ihrer Zeit in Wien verweist, sondern auch auf Irvings nachfolgenden Roman „Das Hotel New Hampshire“. Aber auch die nachfolgenden Romane und auf besonders drastische Weise „Bensenhaver und wie er die Welt sah“ machen deutlich, wie epochale Ereignisse im Leben des Schriftstellers sich auf sein Werk auswirken, und interessanterweise finden sich die Themen, die Irving/Garp in „Zaudern“ und „Ein Hahnrei fängt sich“ angerissen hat, in Irvings früheren Büchern „Lasst die Bären los!“ und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ wieder.
Was „Garp und wie er die Welt sah“ aber über die epische Länge von über 800 Seiten aber neben den interessanten Figuren und Themen jederzeit so lesenswert macht, ist die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, so wie es Jillsy, die Putzfrau von Garps Verlegers John Wolf, beschreibt, der Wolf die Manuskripte seiner Klienten vorab zur Begutachtung zu lesen gibt.
„,Bei den meisten Büchern weiß man, dass nichts passiert‘, sagte Jillsy. ,Gott, das wissen Sie doch. Bei anderen Büchern‘, sagte sie, ,weiß man schon, was passiert, die braucht man also auch nicht zu lesen. Aber dieses Buch‘, sagte Jillsy, ,dieses Buch ist so krank, dass man weiß, es passiert was, aber man kann sich nicht vorstellen, was. Man muss selbst krank sein, um sich vorstellen zu können, was in diesem Buch passiert‘, sagte Jillsy.“ (S. 624)
John Irving – „Straße der Wunder“
Sonntag, 10. April 2016
Vierzig Jahre später ist aus Juan Diego ein bekannter Schriftsteller geworden. Er unternimmt eine Reise auf die Philippinen, die sein ehemaliger Student und in Manila mit seinen erbaulichen Romanen recht bekannte Autor Clark French organisiert hat, und erinnert sich an seine Kindheit auf der Deponie, die Zeit im Zirkus und seine Begegnung mit Miriam und ihrer Tochter Dorothy, die ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchen.
„Miriam und Dorothy waren so sehr mit seinen Träumen verwoben, dass er sich sogar fragte, ob die beiden Frauen etwa nur in seinen Träumen existierten. Nur – existieren mussten sie, denn schließlich hatten andere sie ja auch gesehen!“ (S. 484)
Der amerikanische Bestseller-Autor John Irving, dessen Romane „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ auch erfolgreich verfilmt worden sind, hat schon immer ein feines Gespür dafür gehabt, außergewöhnliche Figuren zu kreieren, die in ihrem ganz eigenen Universum leben und fast schon berauschend magische Geschichten erleben. Im Mittelpunkt seines neuen Romans steht vor allem der auf einer Müllkippe aufgewachsene Schriftsteller Juan Diego Guerrero, der sich während seiner Philippinen-Reise an die Geschichte seines Lebens erinnert, das untrennbar mit seiner außergewöhnlichen Schwester, dem Deponiechef el jefe, den Jesuitenpriestern und einigen Frauen verbunden ist.
Da Juan Diego aber ein geborener Geschichtenerzähler ist, wird gerade im späteren Verlauf des Romans nicht ganz klar, was er tatsächlich erlebt oder vielleicht nur erfunden oder geträumt hat, zumal er unter dem wechselnden Einfluss von Betablockern und Viagra steht. Interessant herausgearbeitet ist dabei vor allem das Verhältnis von Juan und seiner Schwester Lupe. Dadurch, dass nur er versteht, was Lupe für die meisten anderen unverständlich von sich gibt, entsteht zwischen den beiden Waisen eine so innige Bindung, dass Lupe eine folgenschwere Entscheidung trifft, um ihrem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen.
Aber auch die Beziehung zwischen dem autodidaktisch gebildeten Juan und seinen jesuitischen Lehrern bietet viel Raum für die Auseinandersetzung mit dem Glauben an sich, dem Glauben an Wunder, dem Tod und der Literatur. In letzter Hinsicht wird auch die Beziehung zwischen Juan und Clark, zwischen Lehrer und ehemaligem Studenten interessant, wenn es um die Qualität und die Wurzeln der Literatur geht. Kann gute Literatur nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz des Schriftstellers gedeihen, oder ist es eher die Phantasie, die Autoren zu großen Werken inspiriert?
Und schließlich thematisiert Irving in seinem umfangreichen Roman auch den Umgang mit der eigenen Biografie. Was macht das Individuum aus? Sind es seine Taten, seine Erinnerungen, seine Träume, seine Erfahrungen? All diese Fragen und Themen verwebt Irving zu einem schillernden, in jeder Hinsicht Grenzen sprengenden Roman, dessen einzige Schwäche darin besteht, dass er seine sympathischen Hauptfiguren nie wirklich zur Ruhe kommen lässt und die Geschichte(n) stellenweise unnötig ausschweifend erzählt, so dass hin und wieder der Faden verloren geht. Zum Ende hin bekommt Irving wieder die Kurve und zu alter Stärke zurück, führt die losen Enden gekonnt zusammen. „Straße der Wunder“ ist ein Roman über das Wunder des Lebens und die grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie im Glauben und in der Literatur, in Träumen und Erzählungen zum Ausdruck kommen. Es geht aber auch um Liebe und Tod, Sex, Opfer und Verlust, die Heimat und das Fremde. Irving erweist sich einmal mehr als Meister, all diese großen Themen in einem bunten Fabulierkunstwerk zu vereinen und den Leser mit Figuren bekannt zu machen, die man so schnell nicht vergisst.
John Irving - „Die vierte Hand“
Montag, 4. Mai 2009
In seinen bisherigen neun Romanen hat sich der amerikanische Schriftsteller John Irving als Meister skurriler Geschichten erwiesen, man denke nur an verfilmte Welterfolge wie „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ oder zuletzt „Gottes Werk und Teufels Beitrag“. In „Die vierte Hand“ erzählt Irving die bemerkenswerte Geschichte des amerikanischen Fernsehjournalisten Patrick Wallingford, der bislang stets eine bemerkenswerte Wirkung auf Frauen hatte.