John Irving – „Das Hotel New Hampshire“

Samstag, 26. September 2020

(Diogenes, 600 S., Tb.) 
Um die Studiengebühren für seinen Aufenthalt in Harvard zu finanzieren, nimmt Win Berry im Sommer einen Aushilfsjob in dem Hotel Arbuthnot-by-the-Sea an, wo er neben seiner späteren Frau Mary auch den jüdischen Schausteller Freud und dessen Motorrad fahrenden Bären Earl kennenlernt. Für 200 Dollar und seine besten Kleider kauft Win dem Schausteller sowohl das Gefährt als auch den leidlich dressierten Bären ab und beginnt, seine Leidenschaft für Hotels auszuleben. Anfangs zieht er mit seiner rasch anwachsenden Familie mit den Kindern Frank, Frannie, John, Lilly und Egg noch von Hotel zu Hotel, dann funktionieren sie in Dairy, Maine, eine ehemalige Mädchenschule zu einem Hotel um. Zwar erweisen sich die Räumlichkeiten und deren Ausstattung als denkbar ungeeignet für den Hotelbetrieb, aber von solchen Widrigkeiten lassen sich die Berrys nicht abschrecken, auch wenn das erste Hotel New Hampshire alles andere als Gewinn abwirft. 
So nimmt Win gern das Angebot von Freud an, ihm bei seinem Hotel in Wien als Manager unter die Arme zu greifen. Allerdings nehmen Mary und Egg einen anderen Flug und stürzen ab. In Wien müssen die anderen Berrys mit dem Umstand fertig werden, dass das Hotel, in das das Familienoberhaupt schon viel Geld für den Umbau investiert hat, vor allem einerseits von Prostituierten wie Kreisch-Annie, die Alte Billig und die Dunkle Inge bewohnt wird, andererseits von sogenannten „Radikalen“, deren politische Absichten allerdings nicht näher definiert werden. Freud ist nicht nur sichtlich gealtert, sondern auch erblindet, Hilfe bekommt er vor allem von einem sprechenden Bären, der sich als Susie entpuppt, die sich als so hässlich empfindet, dass sie ihr Leben nur in einem Bärenkostüm erträgt. Doch als die Berrys auf beherzte Weise einen verheerenden Bombenanschlag der Radikalen auf die nahe gelegene Oper verhindern, werden sie so prominent, dass ihnen auf einmal alle Türen offenstehen. 
Der homosexuelle Frank, der sich während seiner Zeit in Wien für die Volkswirtschaftslehre erwärmt hat, handelt einen lukrativen Vertrag für die stets klein gebliebene Lilly und ihren autobiographischen Debütroman „Wachstumsversuche“ aus, so dass Familie Berry wieder in die USA zurückkehren kann. Dank Lillys Einkommen kann es sich die Familie leisten, im New Yorker Stanhope Hotel zu wohnen, wo die Kinder endlich damit beginnen, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die in Maine von ihrem Schwarm Chipper Dove und seinen beiden Kumpels bei einem Bandenstich vergewaltigte Frannie sieht endlich eine Möglichkeit, sich an ihrem Peiniger zu rächen. John, der schon seit der Kindheit ein besonders inniges, mehr als nur geschwisterliches Verhältnis zu Frannie gepflegt hat, bekommt endlich die Gelegenheit, auf ungewöhnliche Weise über seine Schwester hinwegzukommen. Nur Lilly droht an ihrem eigenen literarischen Anspruch zu scheitern … 
„… wir waren es natürlich alle gewohnt, mit Phantasien zu leben. Vater ging ganz darin auf: seine Phantasie war sein eigenes Hotel. Freud konnte nur dort sehen. Franny, in der Gegenwart ganz gefasst, blickte ebenfalls in die Zukunft – und ich blickte immer vor allem auf Franny (und erhoffte mir Signale, wichtige Zeichen, Anweisungen). Von uns allen gelang es Frank wohl am besten, seine Phantasie umzusetzen; er erdachte sich seine eigene Welt und blieb dort für sich.“ (S. 391f.) 
Drei Jahre nach seinem internationalen Bestseller „Garp und wie er die Welt sah“ veröffentlichte John Irving 1981 mit „Das Hotel New Hampshire“ eine irrwitzige Familienchronik, in der sich Humor und Tragik stets die Waage halten. Genüsslich portraitiert Irving eine Familie, deren durch und durch skurrile Mitglieder zunächst von dem Traum ihres Oberhauptes Win durch ein abenteuerliches Leben geführt werden. Win Berrys Traum von einem eigenen Hotel führt die Familie vom unscheinbaren Dairy in Maine nach Wien und zurück in die USA, zunächst in die Metropole New York und abschließend nach Arbuthnot-by-the-Sea, wo sich der Kreis schließt und eine ereignisreiche Reise ihren versöhnlichen Abschluss findet. Auch wenn es Irving mit dem Inzest-Marathon in New York vor allem die US-amerikanischen Sittenwächter erzürnte, ist ihm mit „Das Hotel New Hampshire“ ein durchweg amüsantes Panoptikum kurioser Charaktere gelungen, unter denen die beiden Bären Earl und Susie noch am harmlosesten erscheinen. 
Irving erweist sich als Meister darin, jede seiner Hauptfiguren mit so vielen sympathischen Eigenschaften zu versehen, dass man als Leser nie das Gefühl bekommt, er würde sich über sie lustig machen. Stattdessen folgt er ihnen auf sehr unbeständigen Wegen zu ihrem jeweils eigenen Glück oder zumindest ihrer wesentlichen Bestimmung.


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