Als der Zirkus Ringling Bros. and Barnum & Bailey am 6. Juli 1944 in Hartford, Connecticut, sein Gastspiel gab, kamen geschätzte 8700 Besucher zur Nachmittagsvorstellung an diesem heißen Sommertag. Er war einer der wenigen Eisenbahn-Zirkusse, die die Weltwirtschaftskrise überlebt haben und darauf bauen konnte, dass durch die Kriegsindustrie die Lohntüten der Menschen gut gefüllt waren. Zu den Höhepunkten des Programms zählten das von Strawinsky geschriebene und von Balanchine choreographierte Elefantenballett, die Stars Emmett Kelly und Löwen-Dompteur Alfred Court, die Wallendas, die Cristianis, die Fliegenden Concellos und Menagerieattraktionen wie der Riesengorilla Gargantua und seine Braut M’Toto. Das Programm war sehr patriotisch ausgerichtet, Soldaten hatten freien Eintritt, und es gab Freikarten für die Haupttribüne für diejenigen, die Kriegsanleihen gezeichnet haben.
Für viele Menschen sollte der Besuch dieser Vorstellung allerdings zum Verhängnis werden: Gerade als May Kovar und Joseph Walsh in zwei getrennten Käfigen ihre Raubtiervorführungen beendeten und die Wallendas zehn Meter nach oben kletterten, um mit ihrer Drahtseilakrobatik zu beginnen, da fing ein Feuer an der unbehandelten Zeltwand hinter der südwestlichen Seitentribüne ungefähr zwei Meter über dem Boden zu lodern an. Als es bemerkt wurde, versuchten einige Platzanweiser mit gefüllten Wassereimern den Brand zu löschen, doch erreichten sie nur den unteren Rand der Flammen, die in der wasserdichten Mischung aus Paraffin und Benzin schnell weitere Nahrung fanden.
Zwar spielte Merle Evans mit ihrem Orchester noch „The Stars and Stripes Forever“, doch die Panik ließ sich nicht mehr aufhalten. Wer auf den unteren Plätzen nicht schnell genug ins Freie rannte, wurde gnadenlos von den nachströmenden Massen zertrampelt, andere wurden von den siebzehn Meter hohen, nun herunterstürzenden Masten erschlagen, von den Laufgittern eingeklemmt, starben durch Rauchvergiftung oder schwere Verbrennungen.
Die über 400 Verletzten wurden auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt, die Toten zur Identifizierung ins Waffenarsenal gebracht.
„Das ganze Land war in ständiger Bereitschaft, und nach der Invasion der Normandie war die Moral der Leute gut. Die Ideale von Opferbereitschaft und gemeinsamer Anstrengung waren ihnen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Viele Menschen verließen ungefragt ihren Arbeitsplatz, um zu helfen, als sie vom Brand hörten. Die Blutbank des Roten Kreuzes in der Pearl Street konnte sich vor Spendern kaum retten.“ (S. 217)
Stewart O’Nan, der 1993 für seinen Debütroman „Engel im Schnee“ mit dem William-Faulkner-Preis ausgezeichnet wurde und seither zu einem der angesehensten zeitgenössischen Schriftsteller avancierte, hatte eigentlich nicht vor, ein Sachbuch über den verheerendsten Zirkusbrand in der amerikanischen Geschichte zu schreiben. Er hatte während der Recherchen zu einem Roman einen Artikel über das Feuer in einer alten „Life“-Ausgabe gelesen und erinnerte sich daran, als er mit seiner Familie nach Hartford zog, wo er neugierig nach näheren Informationen suchte, aber überraschend feststellen musste, dass diese Katastrophe niemand in Worte gefasst hatte.
Also begann er, die Menschen in der Stadt zu befragen und Material zu sammeln. Stewart O’Nan wurde zum selbsternannten „Hüter des Brandes“, hatte seinen Roman beendet und Zeit, die Geschichte des Brandes und der Überlebenden zu erzählen. Am Ende erzählt „Der Zirkusbrand“ eine gut fünfzig Jahre umfassende Geschichte der Katastrophe, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Minutiös berichtet er wie ein Dokumentarfilmer über die Vorbereitungen und – leider unzulänglichen - getroffenen Sicherheitsvorkehrungen; schildert, wie verschiedene Familien sich auf den Zirkusbesuch vorbereiteten und die Katastrophe ihren Lauf nahm. Illustriert durch unzählige Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert der Autor den Ausbruch der Panik, die selbstlosen Rettungsversuche einiger tapferer Menschen, die Schwächeren beim Verlassen des Unglücksortes halfen; beschreibt die verheerenden Verletzungen und die verzweifelten Versuche von Ärzten und Krankenschwestern, das Leider der Opfer zu lindern.
Besonders tragisch entwickelt sich die Suche nach den unidentifizierten Opfern, sechs Stück an der Zahl, darunter ein Mädchen, das als „kleine Miss 1565“ bekannt geworden ist. O’Nan nimmt sich auch hier viel Zeit, die Suche nach der Identität des kleinen Mädchens und letztlich nach den Verantwortlichen der Katastrophe zu beschreiben. Beides zog sich bis in die 1990er Jahre hinein.
Es ist ebenso bestürzendes wie faszinierendes Zeitdokument, das Stewart O’Nan mit „Der Zirkusbrand“ vorgelegt hat, eine Art Reportage in Romanform, die manchmal zu sehr ins Detail geht, aber letztlich wirklich alle Aspekte dieser Katastrophe abdeckt. Es ist schwerverdauliche Kost, die durch O’Nans gewissenhafte Arbeit lange im Gedächtnis bleibt und vor allem den Opfern und Helden ein Denkmal setzt.
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