Jilliane Hoffman – (C.J. Townsend: 4) „Nemesis“

Dienstag, 26. März 2019

(Wunderlich, 524 S., HC)
Als die New Yorker Studentin Lana mit drei weiteren Mädchen aus ihrem Wohnheim in Miami Urlaub macht und sich schon zu langweilen beginnt, freut sie sich über einen Tinder-Match mit dem 30-jährigen Business-Manager Reid. Er lädt sie in seiner Mercedes-Benz-Stretch-Limo zu einer exklusiven Party ein, die sich für Lana allerdings zu einer Todesfalle erweisen soll. Als ihre kopflose Leiche auf einer Mülldeponie in Südflorida gefunden wird, erfährt die Staatsanwältin C.J. Townsend durch einen früheren Kollegen ihres Mannes Dominick Falconetti bei der Cupido-Taskforce von dem Vorfall, der böse Erinnerungen an William „Cupido“ Bantling bei ihr wachruft.
Bantling hat nicht nur Townsend als 25-Jährige vergewaltigt und ihr Leben in den vergangenen zwanzig Jahren zur Hölle gemacht, sondern noch elf Frauen sexuell misshandelt und getötet. Nach einer zehnjährigen Auszeit ist sie vor zwei Jahren dem Ruf ihres alten Freundes Lou Todd zurück nach Miami gefolgt, wo sie als Chief Assistant State Attorney rund 250 Anwälte zu managen und ihre eigenen Fälle zu verhandeln hat. Cupido wurde 2015 für seine grausamen Taten zum Tode verurteilt, konnte aber bei seiner Überstellung vom Florida State Prison nach Miami, wo er als Zeuge in einem Prozess aussagen sollte, während eines Hurrikans fliehen. Offiziell ist Bantling weiterhin auf der Flucht, nur C.J. Townsend weiß es besser, denn sie hat ihn getötet.
Doch der sadistische Club, dem Bantling damals angehörte, treibt noch immer sein Unwesen, wie das Brandzeichen auf der Schulter des jüngsten Opfers beweist. Vor seinem Tod hatte Bantling Townsend noch die Zugangsdaten und eine Liste der Namen übergeben, die dem elitären Club angehören, dessen prominente Mitglieder vor laufenden Kameras beobachten, wie junge Mädchen gefoltert, vergewaltigt und getötet werden. Townsend, die mit ihrem Mann Dominick auch ihre Beziehung und noch eine Adoption auf die Reihe bekommen will, macht sich auf eigene Faust auf die Jagd nach den Bestien und schert sich dabei nicht um eine gesetzeskonforme Vorgehensweise …
„Manche Rollen waren die Nietenjobs, die sonst keiner wollte. Aber sie mussten trotzdem übernommen werden, damit die Gesellschaft funktionierte. Irgendwer musste den Dreck wegräumen, den Tatort reinigen, den Giftmüll entsorgen. C.J.s Rolle war es, für Recht und Ordnung zu sorgen. Niemand wollte tun, was sie tat, aber es musste getan werden.
Denn sonst, wenn niemand Vergeltung übte, würde die Welt im Chaos versinken.“ (S. 159) 
Nachdem C.J. Townsend ihrem Peiniger Bill Bantling vor mehr als zwanzig Jahren entkommen konnte, hat sich die taffe Staatsanwältin selbst zum Killer in eigener Sache entwickelt und sowohl den psychopathischen Psychiater Dr. Gregory Chambers als auch Bill Bantling getötet. Nun macht sie Jagd auf die weiteren gesellschaftlich hochgeschätzten Club-Mitglieder aus Politik, Sport, Justiz, Wirtschaft und Showgeschäft. Ihre eigene Geschichte macht dieses fragwürdige Selbstjustiz-Szenario zwar plausibel, doch die Ausführung des Rachefeldzugs beschreibt die ehemalige Staatsanwältin Hoffman schon nicht mehr so glaubwürdig. Nichtsdestotrotz ist dieses Katz-und-Maus-Spiel höchst spannend inszeniert, denn mittlerweile befindet sich ein weiteres Mädchen in der Gewalt des elitären Clubs, den Townsend von innen heraus zerstören will. Townsends private Angelegenheiten kommen dabei etwas kurz, und die Adoption des noch ungeborenen Kindes einer Meth-Süchtigen wirkt nicht besonders überzeugend. Hoffman versteht es allerdings, in ihrer schnörkellosen Sprache den Leser mitzureißen und ihn bei ihrer Jagd nach den Peinigern junger Frauen bis zum Schluss mitfiebern zu lassen.
  Leseprobe Jilliane Hoffman - "Nemesis"

Alan Hollinghurst – „Die Sparsholt-Affäre“

Freitag, 22. März 2019

(Blessing, 542 S., HC)
Die Oxford-Studenten Freddie Green, Charlie Farmonger, Evert Dax und der Maler Peter Coyle betreiben einen Club, in dem sie berühmte Schriftsteller dazu bewegen, aus ihren jüngsten Werken vorzutragen und vor den Studenten zu sprechen, wobei im Oktober 1940 der Name von Everts Vater, den gefeierten Romancier A.V. Dax, fällt. Doch dann lenkt Coyle die Aufmerksamkeit seiner Kommilitonen auf einen der neuen Studenten, den gutaussehenden Ruderer David Sparsholt, den er unbedingt portraitieren möchte.
Aber auch Evert findet besonderen Gefallen an dem athletischen Mann, der Oxford schon bald für eine militärische Karriere verlassen würde. Doch auch wenn der junge Sparsholt mit Connie liiert ist, freundet sich Evert mit ihm auf eine Weise an, die damals für einen Skandal gesorgt hätte.
„Evert hatte keinen anderen Mitwisser, davon konnte ich ausgehen, und dass Sparsholt von sich aus mit einem Freund darüber reden würde, war undenkbar. Die Affäre hatte bereits ihr ganzes Ausmaß erreicht, etwas Flüchtiges und ganz und gar Privates, allzu verborgen, um als Fußnote in die Geschichte dieser Zeit einzugehen.“ (S. 108) 
Tatsächlich hinterlässt die sogenannte Sparsholt-Affäre auch Generationen später noch ihre Spuren, als sein Sohn Johnny seine homosexuellen Neigungen nicht mehr ganz so zu verstecken braucht wie noch sein Vater, und eine weitere Generation später wird die Liebe zwischen Männern noch offener ausgelebt …
Der britische Schriftsteller Alan Hollinghurst ist auch hierzulande durch den 2004 mit dem Man Booker ausgezeichneten und ebenfalls bei Blessing erschienenen Roman „Die Schönheitslinie“ bekannt geworden, und auch in seinem neuen Werk widmet sich Hollinghurst den Herausforderungen, denen sich Homosexuelle in der Gesellschaft stellen müssen.
Dabei zeichnet der Brite ein Sittenportrait, das in den Kriegswirren des Jahres 1940 beginnt und sich in großen Sprüngen über die Jahre 1966, 1975 und 1995 bis (fast) in die Gegenwart des Jahres 2012 erstreckt. Vor allem der erste Teil, in dem die befreundeten Kunst- und Literaturliebhaber den attraktiven David Sparsholt kennenlernen und begehren, zeigt der Autor mit seinem wunderbar ausgefeilten Schreibstil differenziert auf, wie sich das Begehren der Männer untereinander noch in heimlichen Gefilden abspielt und die eigene sexuelle Ausrichtung hinter einer gesellschaftlich anerkannten Beziehung zwischen Mann und Frau verborgen werden muss, aus der schließlich auch Kinder hervorgehen.
Die titelgebende Affäre, die sich in einer Bombennacht zwischen David Sparsholt und Evert Dax abspielt, zieht sich ebenso wie Sparsholt selbst zwar wie ein roter Faden durch die Handlung, doch im Zentrum der Geschichte stehen die anderen, Evert Dax zum Beispiel, aber auch Sparsholts Sohn Johnny. So gut es Hollinghurst gelingt, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beschreiben, unter denen sich homosexuelle Liebe verstecken bzw. zunehmend öffentlich entfalten kann, bringt er doch unnötig viele Personen ins Spiel, denen man schwer über die meist zehn- bis zwanzigjährigen Zeitsprünge folgen kann, zumal sich die Charakterisierung der handlungsrelevanten Figuren eher auf ihre Begierden reduziert. Wurde dem Autor bei „Die Schönheitslinie“ immer mal wieder noch Pornographie vorgeworfen, hält sich Hollinghurst bei der Beschreibung sexueller Begegnungen zwar nicht zurück, doch bleibt dem Leser dabei so viel der Phantasie überlassen, dass sich die Szenen ganz harmonisch in den Kontext aus gesellschaftlichen Umgangsformen und der Auseinandersetzung mit Portraitmalerei und Literatur einfügt. Bei aller Brillanz im Stil und der guten Beobachtungsgabe gesellschaftlichen Wandels weist „Die Sparsholt-Affäre“ aber gerade nach dem ersten Teil immer wieder Längen auf, die nicht immer durch die komplexe Sprachkomposition aufgefangen werden.
Leseprobe Alan Hollinghurst - "Die Sparsholt-Affäre"

Antoine Laurain – „Ein Tropfen vom Glück“

Montag, 18. März 2019

(Atlantik, 254 S., HC)
Als der Amerikaner Bob Brown vor dreißig Jahren noch einfacher Mechaniker war und die damals dreiundzwanzigjährige Goldie Delphy in einer Bar kennenlernte, war es ihr gemeinsamer Traum, einmal in ihrem Leben nach Paris zu reisen, doch dann machte Bob Karriere bei Harley Davidson, zwei Kinder kamen zur Welt, und ihre Reisen führten sie nie über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus. Und nun war Goldie unheilbar an Leukämie erkrankt und seit zwei Monaten in einem tiefen Koma, aus dem sie wahrscheinlich nicht wieder aufwachen würde.
Also unternimmt Bob die längst geplante Reise allein und landet in der Ferienwohnung einer kleinen Hausgemeinschaft am Montmartre. Dort überrascht der kleinkarierte Hausvorsteher Hubert zwei jugendliche Einbrecher, worauf die aufgeregte Gemeinschaft zur Beruhigung erst einmal ein edles Tröpfchen zu sich nehmen muss. Das sind neben Hubert und Bob die Restauratorin Magalie (die wegen ihres Gothic-Looks wie die bekannte Darstellerin aus „Navy CIS“ aussieht und deshalb nur Abby genannt wird) und der unsterblich in sie verliebte Barmann Julien, der sich gerade erst eine Eigentumswohnung dort gekauft hat. Interessanterweise handelt es sich bei dem Wein um eine Flasche vom Weinberg Saint-Antoine stammende Cuvée aus dem Jahr 1954, jenem Jahr, an dem ein UFO über den Weinbergen gesichtet wurde.
Und so landet die situationsbedingt zusammengewürfelte Trinkgemeinschaft plötzlich im Jahr 1954, wo sie sich völlig neu orientieren müssen, aber auch hier, in einer anderen Zeit, tiefe Gefühle für sich entdecken …
„Sie standen einander in der Stille der Nacht gegenüber, mit diesem Schwindelgefühl, das dem ersten Kuss vorangeht. Man weiß, dass er stattfinden und die Liebe, die keine Worte braucht, besiegeln wird. Es ist unausweichlich, nur noch eine Frage von Sekunden. Etwas kaum Merkliches wird das Signal geben – eine Bewegung, ein Wimpernschlag, ein plötzliches Aufleuchten der Pupillen.“ (S. 194) 
Der in Paris lebende Drehbuchautor und Buchhändler Antoine Laurain („Liebe mit zwei Unbekannten“, „Der Hut des Präsidenten“) versteht es auch mit seinem neuen Roman, einem wieder recht schmalen Bändchen von gerade mal 250 Seiten, seinen Lesern die Stadt der Liebe in ebenso poetischer wie fantasievoller Weise nahezubringen. In „Ein Tropfen vom Glück“ bringt er vier ganz unterschiedliche Charaktere zu einem geselligen Abend zusammen, der außergewöhnliche Folgen nach sich zieht, nämlich eine Zeitreise ins Jahr 1954, wohin auch übrigens Juliens Urgroßvater reist, der 1978 von dem 54er Jahrgang getrunken hatte. Das bringt natürlich einige Komplikationen mit sich, aber auch wunderbare, unverhoffte Begegnungen mit Prominenten wie Jean Gabin, Édith Piaf und Audrey Hepburn, vor allem aber berauschende Gefühle, die sich vor den charmanten Kulissen der französischen Metropole ganz besonders entfalten können. Bei all den Herausforderungen, die so eine Zeitreise mit sich bringt, und den zwischenmenschlichen Leidenschaften, kommen die Charakterisierungen der einzelnen Figuren etwas kurz, so dass sich der Leser vor allem an den poetischen Schilderungen der nostalgischen Eindrücke und der emotionalen Turbulenzen erfreut.

John Grisham – „Das Bekenntnis“

Samstag, 16. März 2019

(Heyne, 592 S., HC)
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg setzt der in Clanton, Mississippi, lebende Baumwollfarmer Pete Banning eines Morgens im Oktober 1946 einen folgenschweren Plan um, der ihm selbst eine traurige Berühmtheit einbringen und seiner alteingesessenen Familie eine schwere Bürde auferlegen würde. Doch nachdem der 43-Jährige lange an die Zimmerdecke gestarrt und wie viele Male zuvor überlegt hatte, ob er den Mut aufbringen würde, zieht er sich langsam an, brüht Kaffee auf und macht seine Kniebeugen, die seine im Krieg zerschossenen Beine mit Schmerzen durchziehen.
Mit dem Kaffee in der Hand blickt er von der Veranda seines Hauses über die Ländereien, die seit Jahrhunderten im Besitz der Bannings sind. Er denkt an seinen Sohn Joel, der in diesem Semester noch seinen Abschluss in Jura an der Vanderbilt University in Nashville machen würde, und an seine Tochter Stella, die seit einem Jahr das Hollins College in Virginia besucht und Lehrerin werden will. Er besucht seine fünf Jahre ältere Schwester Florry, die als geschiedene Frau in der benachbarten Parzelle der Besitztümer lebt und ihre Farm durch Pete bewirtschaften lässt. Dann steigt er in seinen brandneuen Ford Pick-up und fährt nach Clanton zur Methodistenkirche, wo er das Arbeitszimmer von Reverend Dexter Bell betritt und ihn mit seinem langläufigen Revolver erschießt.
Der schwarze Angestellte Hop benachrichtigt Sheriff Nix Gridley, der Pete auf seiner Farm festnimmt und nach Clanton ins Gefängnis überfährt. Doch weder gegenüber dem Sheriff noch seinem Anwalt erzählt Pete etwas über seine Beweggründe. Der Prozess vor dem Geschworenengericht scheint nur eine Formsache zu sein, und Pete Banning, der auf den Philippinen gegen die Japaner jeden Tag um sein Leben gekämpft hatte, gibt seinem Verteidiger nicht die geringste Möglichkeit, die von Staatsanwalt Dunlap geforderte Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe runterzuhandeln …
„Die Geschworenen, die alle bestenfalls aus der Mittelschicht stammten, wussten schon, was Sache war. Reicher Farmer ermordet armen Prediger. Das Thema war von Anfang der Verhandlung an vorgegeben und würde den Geschworenen bis zu deren Ende nicht aus dem Kopf gehen.“ (S. 464) 
Mit seinem neuen Roman „Das Bekenntnis“ scheint Bestseller-Autor John Grisham („Die Firma“, „Die Akte“) auf für den Leser sehr vertrautem Terrain zu wandeln. Doch der Prozess, bei dem der Angeklagte einfach nicht mit der Sprache über seine Beweggründe herausrückt und auch keine Entlastungszeugen aussagen, nimmt nicht mal die Hälfte des Romans ein. Auf gewohnt souveräne Art beschreibt Grisham einen Gerichtsprozess, der im ländlichen Mississippi seinen gewohnten Gang geht und der bis zum Ende ohne jede Überraschung auskommt.
Doch dann schlägt Grisham ein ganz neues Kapitel auf, nämlich wie Pete Banning im Jahr 1925 im Peabody Hotel in Memphis bei einer Abendveranstaltung Liza Sweeney kennenlernte, die er wenig später heiraten sollte, als sie mit Joel schwanger wurde. Doch dann wurde Banning mit dem 26. Kavallerieregiment auf die philippinische Halbinsel Bataan beordert, wo er in japanische Gefangenschaft geriet und nicht mehr nach Hause schreiben konnte, so dass Liza ihren Mann irgendwann für tot halten musste.
Doch so interessant die eindringlichen Schilderungen der Kämpfe, Folterungen, Entbehrungen, Verletzungen und Krankheiten auch sind, tragen sie nicht im Geringsten dazu bei, Bannings kaltblütig geplanten und ausgeführten Mord an dem Methodistenprediger zu erklären. Erst im letzten Viertel, als vor allem Joel als angehender Jurist zusammen mit seiner Schwester darum kämpfen muss, dass die Witwe des Predigers mit ihrem neuen Lebensgefährten im Zivilprozess nicht das gesamte Familienvermögen verliert, wird der eingangs nur kurz thematisierte Verdacht, dass der Ermordete während Bannings Abwesenheit eine Affäre mit seiner Frau unterhielt, etwas aufgearbeitet, aber im Zentrum dieses Kapitels stehen eher die Auswirkungen, die Pete Bannings Tat auf die zurückgebliebene Familie nach sich zieht.
Dabei kommen auch die Rassenunterschiede zur Sprache, die ihren Teil zu dem gesellschaftlichen Umgang mit Tätern und Opfern beitragen, aber auch wenn Grisham am Ende noch die obligatorische Überraschung bei der Auflösung des Mordfalls präsentiert und sich als glänzender Erzähler präsentiert, der mit seiner geradlinigen, ungekünstelten Sprache den Leser wie magisch in den Bann zu schlagen versteht, wird die ungewöhnliche Struktur dem Roman letztlich zum Verhängnis, da der sehr lang geratene Teil über Bannings Erlebnisse im Krieg überhaupt keine Verbindung zum übrigen Geschehen herstellen kann.
Leseprobe John Grisham - "Das Bekenntnis"

Don Winslow – (Art Keller: 3) „Jahre des Jägers“

Sonntag, 10. März 2019

(Droemer, 992 S., HC)
Seit Art(uro) Keller Mitte der 1970er Jahre als junger DEA-Agent in einer Außenstelle im mexikanischen Sinaloa eingesetzt wurde und beobachten musste, wie Miguel Ángel Barrera mit der Federación das erste echte Drogenkartell gründete, hat er sich ganz dem mexikanisch-amerikanischen Drogenkrieg verschrieben. Bislang hat der Kampf gegen das Krebsgeschwür aber nur dafür gesorgt, dass es Metastasen bildete. In den vergangenen vierzig Jahren musste Keller nicht nur miterleben, wie sein Partner Ernesto Hidalgo von den Barreras, Rafael Caro und weiteren Beteiligten zu Tode gefoltert wurde, sondern viele weitere Verluste hinnehmen. Keller setzte alles daran, die Verantwortlichen der Gerechtigkeit zuzuführen.
Nachdem er sowohl Barrera als auch die Zetas zu Fall gebracht hat, wird er zum Direktor der DEA ernannt und kann doch nicht verhindern, dass immer neue Allianzen unter den mexikanischen Kartellen entstehen, neue Drogen über die Grenze in die USA geschmuggelt werden und sich die Zahl der Drogentoten vervielfacht hat. Doch schon bei seiner Amtsübernahme wackelt Kellers Stuhl, denn Obamas Tage als Präsident sind gezählt, mit dem republikanischen Immobilienmagnaten und Reality-TV-Star John Dennison bekommt Keller kräftigen Gegenwind.
Durch den Undercover-Einsatz von NYPD-Detective Bobby Cirello versucht Keller, dem Geldfluss in Mexiko nachzuspüren und stößt auf einen Immobiliendeal, in den auch Dennisons Schwiegersohn Jason Lerner verwickelt ist, der keine Hemmungen hat, das millionenschwere Park-Tower-Projekt mit Drogengeldern zu finanzieren. Während in Mexiko das von Tito Ascención geführte Nuevo-Jalisco-Kartell und das Sinaloa-Kartell von Ricardo Nuñez um die Vorherrschaft auf dem Drogenmarkt kämpfen, proklamiert Präsidentschaftskandidat Dennison, mit dem Bau einer Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko den Strom der Drogen und illegalen Einwanderer in die USA eindämmen zu wollen. Und Sean Callan, ehemaliger Auftragskiller im Dienst von Adán Berrara, geht wieder auf die Jagd.
„Aber es nicht so einfach, einen Kartellboss zu ermorden. Callan weiß, dass er zum Kopf des Unternehmens nur vordringt, wenn er sich zunächst dem Unterbau nähert. Du musst ackern, dich hocharbeiten, die Basis aushöhlen, schwächen, die Profite schmälern, die Mitarbeiter überzeugen, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt haben, und die Verlierer ihre Wettschulden nicht mit Geld, sondern mit Blut begleichen.“ (S. 739) 
Nach „Tage der Toten“ und „Das Kartell“ präsentiert Bestseller-Autor mit dem knapp 1000-seitigen Epos „Jahre des Jägers“ den fulminanten Abschluss seiner Trilogie um den DEA-Agenten Art Keller, der nun an die Spitze seiner Behörde gerückt ist und mit Hugo Hidalgo selbst den engagierten Sohn seines ermordeten Partners in den Krieg gegen Drogen und Korruption hineinzieht. Winslow führt unzählige Personen (die er einem umfangreichen Verzeichnis im Anhang vorstellt) in diesen komplex ineinander verwobenen Plot ein, um die Dimensionen des Krieges aus der Perspektive von Kartellbossen, Drogenkurieren, Auftragskillern, Bandenmitgliedern und Konsumenten aufzuzeigen. Die ständigen Orts- und Perspektivenwechsel machen die Lektüre zwar nicht gerade leicht, unterstreichen aber Winslows ehrenwerten Anspruch, die vielfältigen Tragödien des Drogenkrieges in ihren ganzen bedrohlichen, gewalttätigen Facetten aufzuzeigen.
Besonders brutal wirken dabei vor allem die Schilderungen all der Folterungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen zwischen den einzelnen Kartellen in Mexiko, aber beispielsweise auch die Erlebnisse des zehnjährigen Nico Ramirez, der der Müllhalde in Guatemala City entkommen will und mit seiner Freundin Delmy mit dem Zug „La Bestia“ zu seinen Verwandten nach New York zu gelangen versucht.
Doch Winslow blickt mit „Jahre des Jägers“ auch hinter die politischen Kulissen und zerpflückt nicht nur genüsslich die Argumentation von US-Präsident Donald Trump (der unschwer das Vorbild für die Figur von John Dennison abgibt) für den Bau der Grenzmauer, sondern bringt auch noch eine Korruptionsaffäre ins Spiel, bei der Drogengelder eines von Dennisons Immobilienprojekten finanzieren sollen. Auch wenn „Jahre des Jägers“ teilweise etwas sehr weitschweifig ausgefallen ist, ist Art Kellers letzter und wichtigster Kampf im Krieg gegen die Drogen und Korruption packend geschrieben und geht in der Beschreibung und Analyse der Ereignisse tiefer als beispielsweise so populäre Fernsehserien wie „Narcos“ und „El Chapo“.
Leseprobe Don Winslow - "Jahre des Jägers"

Joey Goebel – „Irgendwann wird es gut“

(Diogenes, 314 S., HC)
Der fünfundzwanzigjährige Anthony Dent arbeitet im Lager eines Baumarkts in Moberly, Kentucky, und hat bislang – auch wegen seines Stotterns - noch kein Glück bei den Frauen gehabt, aber das Objekt seiner Begierde in der attraktiven Fernsehmoderatorin Olivia Abbott von Channel Seven gefunden. Jeden Abend „verabredet“ er sich um Punkt 18 Uhr mit ihr am Fernsehbildschirm, schenkt zwei Whiskeys für sie beide ein und „unterhält“ sich mit ihr nach seinem eigenen Drehbuch. Eines Abends wagt er es, seine Angebetete nach den Zehn-Uhr-Nachrichten, auf dem Parkplatz des Studios abzupassen – und stößt dort mit Carlisle auf einen erbitterten Konkurrenten um die Olivia Abbotts Gunst. Doch die beiden Olivia-Verehrer legen ihren Konkurrenzkampf bei und tauschen sich über Olivias Gewohnheiten und Leben aus, wobei Anthony auch erfährt, dass seine Traumfrau regelmäßig zur Entspannung in eine Karaoke-Bar geht, wo er sie vor den Toiletten anspricht. Erstaunlicherweise lässt sich Olivia von Anthony zu einem Drink einladen …
Mit „Unsere Olivia“ beginnt der in Henderson, Kentucky, geborene und immer noch lebende Schriftsteller Joey Goebel eine Sammlung von Geschichten, die allesamt im fiktiven, aber seiner Heimatstadt Henderson nachempfundenen Kleinstadt Moberly im Fly-over-Staat Kentucky angesiedelt sind und einzelne Figuren – wie die Fernsehmoderatorin Olivia Abbott, der Radio-DJ Tug oder der Videoverleih-Angestellte Matt – gelegentlich auch in anderen Storys auftauchen, die sich als Ganzes wie ein Episoden-Roman lesen.
In „Es wird alles schlecht werden“ wird die Lebensgeschichte der verwitweten Elena Bockelmann und ihres mit im Haus lebenden Sohnes Paul erzählt, der nach seinem Abschluss an der Uni von Kentucky seinen Lebensunterhalt als Jazzpianist verdienen wollte, durch den Tod seines Vaters bei einem Autounfall aber seine Mutter nicht verlassen konnte. Während Elena in Rente ging, bekam Paul nur einen Job als Hotelrezeptionist in der Nachtschicht des Ramada Inn am Highway 71, wo er aber immerhin die Sängerin Pam kennenlernte, mit der er vier Jahre verheiratet war. Doch sein nächstes Date mit Jillian entwickelt sich im Beisein von Pauls Mutter zum Desaster.
In „Sei nicht dumm“ bietet Stephanie, Englisch-Dozentin am College, in einem ihrer Kurse ihren Schülern an, dass sie sie jederzeit anrufen können, wenn sie auf einer Party gewesen sind und Alkohol getrunken haben, damit sie sie nach Hause fährt. Der achtzehnjährige Nick Clines nimmt dieses Angebot an und bekommt wegen ihres Mannes Dan zunehmend ein schlechtes Gewissen, je besser sie sich mit Nick versteht.
Dan wiederum ist der Protagonist in „Die Moral von Nerds“. Als Angestellter in einem Secondhand-Laden der Heilsarmee ist er irgendwann so von der musikalischen Berieselung und dem selbstgefälligen Gequatsche von Radio-DJ Tug genervt, dass er im Büro seiner Chefin ätzende Mails an den Moderator versendet. In „Antikmarktmädchen“ trifft sich die zehnjährige Außenseiterin Carly mit Mr. Baynham, der in Hollywood Farbberater bei Filmen mit Doris Day, James Stewart, Henry Fonda und James Dean gewesen war und dem ungewöhnlichen Mädchen regelmäßig in einem Restaurant von seinen Erfahrungen in Hollywood erzählt.
Goebel erweist sich einmal mehr als stilsicherer Chronist des gewöhnlichen Kleinstadtlebens und beschreibt in den zehn Geschichten die oft nicht verwirklichten Träume und ganz gewöhnliche Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung seiner Figuren.
„Wenn ich es recht bedenke, verkörpern diese Figuren entweder Aspekte von mir, die ich gern verbergen möchte, oder Aspekte von mir, die mir im Laufe der Jahre abhandengekommen sind und die ich gern zurückhaben würde“, erzählt Goebel im abschließenden exklusiven Interview, das der deutsche Diogenes-Autor Benedict Wells („Die Wahrheit über das Lügen“) mit dem Amerikaner geführt hat.
Weil die Figuren aus dem Inneren des Autors zu kommen scheinen, wirken die zerbrechlichen, von verschiedenen Tragödien und Rückschlägen gezeichneten Protagonisten in Goebels Moberly so authentisch und lassen bei aller Melancholie doch noch Hoffnung aufkeimen, dass am Ende doch, wenn nicht alles, so doch einiges gut wird.
Leseprobe Joey Goebel - "Irgendwann wird es gut"

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 3) „Alles, was heilig ist“

Dienstag, 5. März 2019

(Diogenes, 425 S., Pb.)
Nach ihrem letzten Fall, bei dem unter anderem Angies Ex-Mann Phil ums Leben kam, haben Patrick Kenzie und seine Partnerin Angie Gennaro ihre Detektei geschlossen und würden bald auf dem Trockenen sitzen. Doch gerade als ihr Handyman Bubba Rogowski eine einjährige Haftstrafe antreten muss, werden sie durch den schwerkranken Milliardär Trevor Stone entführt und mit einem Startkapital von 50.000 Dollar ausgestattet, um sich auf die Suche nach seiner Tochter Desiree zu machen.
Seit ihrer Mutter bei einem missglückten Carjacking-Manöver ums Leben kam, das Trevor knapp überlebt hat, ist sie spurlos verschwunden. Selbst Patricks alter Mentor bei Hamlyn & Kohl, Jay Becker, hat Desiree nicht finden können und wird nun selbst vermisst. Mittlerweile hat Hamlyn & Kohl ihren Mandanten fallengelassen, weshalb Kenzie & Gennaro auf einmal wieder im Geschäft sind. Als sie sich Jays Berichte zu seiner Suche vornehmen, stoßen sie auf die mysteriöse Organisation „Trauer & Trost“, bei der jedoch nicht nur Hilfestellung zur Trauerbewältigung geleistet wird, sondern auch Rekrutierungsarbeit für die sektenähnliche Kirche der Wahrheit und Offenbarung.
Als sich Patrick in diese Organisation als Hilfesuchender einschleust, werden ihm und Angie zunehmend bewusst, dass ihr Auftraggeber mit falschen Karten spielt. Und je tiefer sich die beiden Detektive in den Fall hineinarbeiten, umso mehr werden sie mit Lügen, Mord und raffinierten Täuschungsmanövern konfrontiert, bis sie überhaupt niemanden mehr glauben können …
„Vielleicht hatte Everett Hamlyn recht gehabt. Vielleicht war die Ehre kurz davor auszusterben. Vielleicht war es mit ihr schon immer bergab gegangen. Oder, noch schlimmer, sie war sowieso nur eine Illusion.
Alle sind verdächtig. Alle sind verdächtig. So langsam wurde das zu meinem Mantra.“ (S. 248) 
Bevor Dennis Lehane mit seinen verfilmten Romanen „Mystic River“ und „Shutter Island“ zu einem internationalen Bestseller-Autor avancierte und noch die Vorlagen zu den Filmen „Live by Night“ und „The Drop – Bargeld“ und Drehbücher zu den preisgekrönten Fernsehserien „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“ schrieb, hatte er Mitte der 1990er Jahre mit einer Reihe um die beiden Detektive Kenzie & Gennaro seine ersten Erfolge feiern können. Nachdem Diogenes bereits die ersten beiden Bände mit neuen Titeln („Ein letzter Drink“ und „Dunkelheit, nimm meine Hand“) und in neuer Übersetzung veröffentlichte, erscheint nun in ebenfalls überarbeiteter Fassung mit „Alles, was heilig ist“ der dritte von insgesamt sechs Bänden.
Es ist eine wunderschön verschachtelte, komplexe Detektivgeschichte, bei der sich die beiden sympathischen Protagonisten in einer geschickt konstruierten Lügenwelt zurechtfinden und letztlich abwägen müssen, wem sie überhaupt noch Glauben schenken können. Der Plot ist raffiniert konstruiert, die Ermittlungsarbeit von Kenzie & Gennaro mit humorvollen Dialogen und nicht zuletzt amourösen Episoden garniert, denn nach siebzehn Jahren finden die beiden Detektive auch im Bett wieder zueinander. Wortwitz, Tempo und Spannung halten sich in „Alles, was heilig ist“ auf gleichbleibend hohem Niveau, so dass sich das Warten auf die drei noch verbleibenden Abenteuer von Kenzie & Gennaro auf jeden Fall lohnt.
Leseprobe Dennis Lehane - "Alles, was heilig ist"

Ray Bradbury – „Der Tod ist ein einsames Geschäft“

Freitag, 1. März 2019

(Diogenes, 320 S., Tb.)
Während im Jahr 1949 in der kalifornischen Kleinstadt Venice das große Vergnügungsviertel abgerissen wird, findet ein siebenundzwanzigjähriger Schriftsteller im Kanal die Leiche eines Mannes. Später erinnert sich der Autor, der mit seinen gelegentlich verkauften Kurzgeschichten gerade so über die Runden kommt, dass der Tote zu den netten alten Männern gehörte, die immer in dem Fahrkartenladen am Bahnhof für die Vorortzüge sitzen.
Der Kriminalkommissar Elmo Crumley übernimmt die Ermittlungen und hat es bald mit weiteren mysteriösen Todesfällen zu tun, hier eine alte Dame, die einst Kanarienvögel zu verkaufen hatte, dort die umfangreiche Diva Fannie Florianna. Der Schriftsteller fühlt sich nun inspiriert, seinen vor drei Monaten begonnenen Roman in Angriff zu nehmen. Er nennt ihn nach einem flüsternden Stöhnen, das er im Zug in der Nacht gehört hatte, als er die Leiche fand, „Der Tod ist ein einsames Geschäft“. Der Schriftsteller beginnt ein Muster bei der Auswahl der Opfer beim Täter zu erkennen und erstellt eine Liste mit weiteren potentiellen Opfern. Der Kommissar, in dem auch ein verhinderter Schriftsteller steckt, mag den Ahnungen des jungen Mannes nicht so recht trauen, doch dann werden weitere Namen auf der Liste tot aufgefunden …
„Manche Menschen werden fünfunddreißig, vierzig Jahre alt, aber weil niemand je von ihnen Notiz nimmt, brennt ihr Leben so schnell ab wie eine Kerze, ist es winzig, praktisch unsichtbar.
Dieses Mietshaus beherbergte eine ganze Reihe solcher überhaupt nicht oder kaum sichtbarer Menschen, Menschen, die hier lebten, und die eigentlich doch nicht lebten.“ (S. 143) 
Mit seinem 1985 (und zwei Jahre später auch hierzulande) veröffentlichten Roman „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ verbeugt sich der amerikanische Autor Ray Bradbury (1920-2012) vor den „Hardboiled“-Krimiautoren Raymond Chandler, Dashiell Hammett, James M. Cain und Ross McDonald, mischt seine eigenwillige Kriminalgeschichte aber mit der Nostalgie der goldenen Jahre in Hollywood und den düsteren Stimmungen von Edgar Allan Poe, den der Ich-Erzähler immer wieder auch namentlich erwähnt.
Die Jagd nach dem Mörder gerät hier allerdings fast zur Nebensache. Weitaus lesenswerter sind die beeindruckend poetischen, einfühlsamen und irgendwie sonderbar melancholischen Stimmungen, die der Schriftsteller nicht nur wegen der räumlichen Trennung von seiner geliebten Peg empfindet, die in beruflicher Mission gerade in Mexiko unterwegs ist, sondern auch angesichts der beunruhigenden Serie von Todesfällen, bei dessen Opfern keine äußerliche Gewalt anzusehen ist.
Zwar wird das „Whodunit“-Rätsel am Ende wie in den klassischen Hardboiled-Krimis ebenfalls gelöst, doch Bradbury sind die emotionalen Auswirkungen der Ereignisse auf die Protagonisten viel wichtiger als die Kriminalfälle und deren Auflösung. Bradbury geht es eher um die Beschreibung von Verfall und Zerrüttung, beginnend mit dem Abriss des Vergnügungsviertels, dann der Thematisierung von Hollywoods Niedergang und der pessimistischen Lebenseinstellung der Figuren, die Crumley und seinem Hobby-Detektiv-Gefährten so über den Weg laufen. Liebhaber klassischer Hardboiled-Detektivromane werden hier nicht unbedingt auf ihre Kosten kommen, weil Bradbury einer eher gefühlsmäßigen Logik folgt und ihm ohnehin mehr an der Schilderung von Seelenlandschaften und feinsinnigen Empfindungen gelegen ist. Das ist ihm so gut gelungen, dass er fünf Jahre später mit „Friedhof für Verrückte“ noch eine Fortsetzung folgen ließ.