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Kent Haruf – „Abendrot“

Montag, 12. Februar 2024

(Diogenes, 416 S., HC) 
Mit seinem 1984 veröffentlichten Debütroman „The Tie That Binds“ (der 2023 bei Diogenes in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das Band, das uns hält“ erschienen ist) entführte der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf sein Publikum erstmals in den Mikrokosmos der fiktiven Kleinstadt Holt in den Great Plains von Colorado, in der auch die fünf nachfolgenden Romane des 2014 verstorbenen Autors angesiedelt sind. In „Abendrot“, dem vierten Band der Holt-Saga, begegnen wir meist Figuren, die uns bereits aus früheren Bänden bekannt sind, wie die McPheron-Brüder. 
Harold und Raymond McPheron haben nach dem frühen Tod ihrer Eltern ihr Leben lang gemeinsam auf der von ihnen bewirtschafteten Ranch gelebt und waren sich stets selbst genug. Nachdem sie vor zwei Jahren die damals schwangere Victoria Roubideaux bei sich aufgenommen haben, bereiten sie sich nun darauf vor, dass die alleinerziehende junge Frau mit ihrer Tochter Katie wieder ausziehen, ins über hundert Kilometer entfernte Fort Collins, wo Victoria das College besuchen will. 
Als Harold bei einem Zwischenfall mit den Rindern so schwer verletzt wird, dass er stirbt, muss Raymond auf einmal lernen, nicht nur auf sich allein gestellt zu sein, sondern auch erstmals wieder bewusst Kontakt zu anderen Menschen in der Stadt zu suchen. 
Derweil versuchen die von Sozialhilfe abhängigen Betty und Luther, Wallace irgendwie gemeinsam mit ihren Kindern Richie und Joy Rae durchs Leben zu kommen, wobei ihnen die engagierte Sozialarbeiterin Rose Tyler zur Hand geht. Doch als die Familie Bettys zu Gewaltausbrüchen neigenden Onkel Hoyt Raines nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bei sich aufnimmt, gerät das ohnehin fragile Familiengefüge völlig aus dem Gleichgewicht. Betty kann es kaum ertragen, keinen Kontakt mehr zu ihrer Erstgeborenen haben zu dürfen, nun kann sie nicht verhindern, dass Hoyt auch ihre Kinder misshandelt. Und dann ist da der elfjährige DJ, der sich liebevoll um seinen 75-jährigen Großvater Walter kümmert, seit seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Wenn sein Grandpa mit dem Rentenscheck von der Eisenbahngesellschaft in die Eckkneipe geht, erledigt DJ seine Hausaufgaben am Tresen. Mit der gleichaltrigen Nachbarstochter Dena Wells erlebt DJ schließlich die zarten Knospen der ersten Liebe. 
Bei seinen Ausflügen in die Stadt lernt Raymond tatsächlich auch Frauen kennen, doch der Umgang mit ihnen ist ihm überhaupt nicht vertraut. Zudem vermisst er seinen Bruder schmerzlich… 
„… plötzlich wurde ihm bewusst, dass sich das Zimmer, in dem er lag, direkt unter dem leeren Zimmer seines Bruders befand, und so starrte er an die Decke und fragte sich, wie es seinem Bruder im fernen Jenseits wohl ergehen mochte. Dort müsste es irgendwie Rinder geben und wohl auch eine Arbeit für seinen Bruder in der hellen wolkenlosen Luft inmitten von diesen Rindern. Ohne das wäre sein Bruder nie zufrieden. Er betete darum, dass es Rinder gab, seinem Bruder zuliebe.“ (S. 162) 
Mit „Abendrot“ gibt Kent Haruf einmal mehr einen einfühlsamen Einblick in das Leben der Einwohner des Präriekaffs Holt. Er schaut aus sicherer Distanz hinter Türen und Fenster der Häuser und Kneipen, Krankenhauses und des Sozialamts, bringt uns das Leben der McPheron-Brüder, der bedürftigen Wallace-Familie, dem Großvater-Enkel Gespann von Walter und DJ und beschreibt, was sie in ihrem Leben so beschäftigt. 
Der Autor ist dabei absolut neutral, verurteilt weder die Gewalttätigkeit von Hoyt Raines noch die Art, wie Betty und Luther Wallace tatenlos zusehen, wie Hoyt ihre Kinder vertrimmt. „Abendrot“ präsentiert sich vielschichtiges Panoptikum unterschiedlichster Menschen mit jeweils eigenen Ängsten und Sehnsüchten. Da ist für Liebe und Freundschaft genauso viel Platz für Trauer, Wut und Schmerz. Es sind Momentaufnahmen eines guten Jahres, die neugierig darauf machen, wie die Menschen in Holt ihr Schicksal in Zukunft meistern.  

Kent Haruf – „Das Band, das uns hält“

Dienstag, 6. Juni 2023

(Diogenes, 310 S., HC) 
Der aus Pueblo, Colorado stammende Kent Haruf war bereits 41 Jahre alt, als er 1984 mit „The Tie That Binds“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Es war der erste von insgesamt sechs Romanen, die allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados angesiedelt sind. Berühmt wurde er durch seinen letzten, 2015 – posthum - veröffentlichten Roman „Our Souls at Night“, der hierzulande als „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen und 2017 mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt worden ist. Nun erscheint mit „Das Band, das uns hält“ endlich die deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kent Haruf, der 2014 verstarb. 
Kurz vor ihrem achtzigjährigen Geburtstag liegt Edith Goodnough im Krankenhaus und wartet darauf, dass ihr der Prozess gemacht wird. Ihr Nachbar Sanders Roscoe scheint der einzige in Holt, Colorado, zu sein, der die Geschichte hinter dem mutmaßlichen Verbrechen kennt, doch lässt er auch einen Reporter von der Denver Post abblitzen. Stattdessen erzählt Roscoe dem in der Stadt weilenden Leser die wahre Geschichte, die im Jahr 1895 mit der Heirat des 25-jährigen eigenbrötlerischen und raubeinigen Roy Goodnough und der zwei Jahre älteren Ada Twamley beginnt, mit einer Reise von Iowa nach Colorado, wo Roy ein Stück Land erwirbt, das er bewirtschaften kann, und seiner Frau ein Holzhaus baut. Wenig später bringt die zarte Ada erst Edith und dann Lyman zur Welt. 
Als Ada 1914 stirbt und Lyman Haus und Hof verlässt, um die Welt kennenzulernen, ist es an Edith, sich um den Haushalt und das Melken der Kühe zu kümmern. Eine Beziehung zu ihrem Nachbarn John Roscoe unterbindet der griesgrämige Roy, der bei einem Unfall fast alle Finger verliert und Edith noch mehr terrorisiert. Den einzigen Trost findet sie in den Postkarten, die Lyman ihr aus all den Städten schickt, die er besucht. Als er nach zwanzig Jahren zurückkehrt, nimmt das Drama seinen Lauf… 
„Egal, wie sehr man es sich wünschte, dass sie mal für eine Weile losließ, wenn auch nur für eine Woche, sagen wir, oder einen Tag oder bloß eine Stunde, sie tat es nicht. Sie tat es einfach nicht. Ich glaube, sie hätte auch gar nicht gewusst, wie man das macht. Es war, als hielte sie die Zügel der Welt mit beiden Händen fest und hätte genug Alte-Männer-Finger gesehen, verstümmelt und mit Spreu bedeckt in den Stoppeln hinter der Mähmaschine, genug Krankenhäuser mit toten Babys, Fehlgeburten nach einem Autounfall, und hätte einfach Angst loszulassen, wenn auch nur für eine Minute.“ (S. 260) 
Bereits mit seinem Romanerstling bewies Haruf Mitte der 1980er Jahre ein ausgeprägtes Gespür für die seelischen Befindlichkeiten seiner Landsleute im ländlichen Colorado. Aus der Perspektive eines Nachbarn, der in der Rolle des Ich-Erzählers von allen Außenstehenden die Lebensgeschichte der Goodnough-Familie am besten kennt, entfaltet der Autor die zermürbende Eintönigkeit eines fremdbestimmten Lebens, das unter durchaus vorstellbaren anderen Umständen einen glücklicheren Verlauf hätte nehmen können. Mit einfühlsamer Präzision schildert Haruf das Psychogramm eines narzisstischen Patriarchen, der nicht nur seine Frau frühzeitig unter die Erde gebracht hat, sondern auch das Leben seiner Kinder zur Tortur werden ließ. In vielen kleinen, lebensnah inszenierten Episoden wird nach Lymans Weggang deutlich, wie Ediths Lebenskraft unter dem ständigen Druck, die Farm am Laufen zu halten und sich um den psychisch wie physisch angeschlagenen Vater zu kümmern, dahinwelkt, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, dem Leid ein Ende zu bereiten. 
Auch wenn Haruf und sein Ich-Erzähler früh erkennen lassen, welchen Verlauf die Geschichte nimmt, entfaltet die Erzählung einen packenden Sog um Themen wie Pflichtbewusstsein, zerstörerische Familienbande, aufgegebene Träume und tödliche Verzweiflung, die aus jahrzehntelanger Entbehrung erwächst.  

Kent Haruf – „Ein Sohn der Stadt“

Montag, 25. Oktober 2021

(Diogenes, 284 S., HC) 
Der am 24. Februar 1943 in Pueblo, Colorado, geborene Schriftsteller Kent Haruf schrieb leider nur sechs Romane, bevor er 2014 verstarb, und alle sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt, ebenfalls in Colorado gelegen. Nachdem sich sein letzter Holt-Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ nicht zuletzt durch die erfolgreiche Verfilmung mit Robert Redford und Jane Fonda in den Hauptrollen ein internationaler Bestseller wurde, erscheinen nach und nach auch die vorangegangenen Bände, mit „Ein Sohn der Stadt“ nun der zweite Roman in der Holt-Chronologie. 
Acht Jahre lang war der ehemalige Highschool-Footballstar Jack Burdette verschwunden – mit 150.000 Dollar, die er als Geschäftsführer der Farmerkooperative unterschlagen hat. Am späten Samstagnachmittag Anfang November kehrt der ehemalige Frauenschwarm in einem roten Cadillac überraschend nach Holt zurück, wobei er sich in jeder Hinsicht zum Nachteil verändert hat, gelbgesichtig, fettleibig, schmuddelig und mit schütterem Haar schindet er trotz seiner einschüchternden körperlichen Erscheinung keinen Eindruck mehr. Sheriff Bud Sealy nimmt Burdette sofort fest. Dabei ist dessen Vergehen längst verjährt. 
Pat Arbuckle, Herausgeber des „Holt Mercury“, erinnert sich, wie Jack Burdette bereits in der Schule alle für sich einnahm und vor allem von der hübschen Wanda Jo Evans angeschmachtet wurde, die ihm die Hausaufgaben machte und ihn mit Spickzetteln für die Seminararbeiten. Als Gegenleistung durfte sie ihn bei den Straßenrennen am Freitag- und Samstagabend begleiten. Nach dem Tod seines Vaters, der im betrunkenen Zustand von einem Güterzug erfasst wurde, brach er mit seiner streng religiösen Mutter und bezog ein Zimmer im Hotel Letitia, wo er regelmäßig Pokerrunden veranstaltete. 
Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich damit, nach der Schule und an den Wochenenden im Getreidesilo der Farmer-Kooperative zu arbeiten, wo er sich so gut machte, dass ihm später der Job als Manager angeboten wurde, doch zunächst leistete er seinen Wehrdienst ab, bevor er nach Holt zurückkehrte, wo Wanda Jo weiterhin vergeblich darauf wartete, dass Jack sie zur Frau nahm. Stattdessen kehrte er in seiner Funktion als Manager nach einer Tagung von Kooperative-Managern in Tulsa nicht nur um Tage verspätet zurück, sondern präsentierte dabei mit Jessie auch noch seine Ehefrau, die er bei dem Kongress kennengelernt hatte. Das war nicht nur für Wanda Jo ein schwerer Schlag, sondern zeigte auch, aus welchem Holz Jack wirklich geschnitzt war. Schließlich ließ er Jessie mit den zwei Kindern sitzen und verschwand nach Kalifornien … 
„Offenbar wollte sie in Holt bleiben, um dies durchzustehen, aus nur ihr selbst bekannten Gründen. Als wäre sie entschlossen, auch auf solche Ereignisse in ihrer eigenen ruhigen und selbständigen Art zu reagieren, als hinge ihr Selbstbild allein davon ab. Als würde sie etwas beweisen wollen. Daher war es letztendlich tragisch. Es ging um mehr als nur Geld. Als es vorbei war, schmerzte es dermaßen, darüber nachzudenken, dass es nur sehr wenige Leute in Holt gab, die bereit waren, sich überhaupt daran zu erinnern.“ (S. 184f.) 
Während der 1., 1984 veröffentlichte Holt-Roman „The Tie That Binds“ noch auf seine deutsche Übersetzung wartet, erzählt Kent Haruf mit „Ein Sohn der Stadt“ aus der Perspektive des örtlichen Zeitungsverlegers Pat Arbuckle die Geschichte eines Idols, das nicht nur erst die Mädchen und später die Frauen in der Stadt verrückt machte, sondern seinen Charme mit krimineller Energie verband, bis er sich um 150.000 Dollar bereicherte und ohne ein Wort sowohl die Stadt als auch seine Familie verließ. 
Was Jack Burdettes Verschwinden und seine unerwartete Rückkehr nach acht Jahren bei den Bewohnern der Stadt auslöst, beschreibt Haruf in gewohnt einfacher, aber eindringlicher Sprache, die vor allem die Emotionen der Stadtbewohner einfühlsam beschreibt. Dabei geht es weniger darum, wie die Kooperative nach dem ungeheuerlichen Betrug weiter ihre Arbeit verrichtete, sondern um das Schicksal der Zurückgebliebenen, wobei Wanda Joe und Burdettes Frau Jessie besonders im Fokus der Erzählung stehen. 
Wirklich dramatisch entwickelt sich die Geschichte nach Burdettes Rückkehr. Hier macht der Autor deutlich, wie stark Burdette die Geschicke in Holt, die Schicksale der Menschen, die er betrogen und verlassen hat, noch immer zu lenken versteht.  
„Ein Sohn der Stadt“ dokumentiert auf beeindruckende Weise, mit welch großer Empathie Kent Haruf seine Figuren und ihre Entwicklung gestaltet, so dass man sich als Leser direkt im Geschehen, in den Herzen und Köpfen der Menschen glaubt. 

Kent Haruf – „Kostbare Tage“

Mittwoch, 27. Mai 2020

(Diogenes, 348 S., HC)
Nach der erschütternden Diagnose bei seinem Arzt in Denver heißt es Abschiednehmen für Dad Lewis, Abschied von seiner Frau Mary, seinen Töchtern Lorraine und Alene und dem 1904 am Rand der Kleinstadt Holt erbauten und 1948 von ihm gekauften Haus. Damals war er zweiundzwanzig Jahre alt und arbeitete in der Eisenwarenhandlung in der Main Street, die er später von dem fast gelähmten Besitzer übernahm. Einen letzten Sommer hat er vielleicht noch vor sich, möglicherweise auch nur vier Wochen, die er in der Abgeschiedenheit seines Hauses verbringt.
Eine fürsorgliche Krankenschwester schaut regelmäßig nach dem Rechten, versorgt ihn mit Morphium, doch seine letzten Tage will Dad Lewis bei so klarem Bewusstsein wie möglich verbringen. Von Bob und Rudy, seinen langjährigen treuen Angestellten, lässt er sich nun die Geschäftsbücher nach Hause bringen und versucht, die letzten Angelegenheiten in seinem Leben zu regeln. Dazu zählt auch, dass der allein lebenden Miss Sprague, die die Raten für ihre Kühltruhe nicht mehr zahlen kann, die ausstehenden Zahlungen zu erlassen und dafür zu sorgen, dass sie Unterstützung im Haushalt erhält. Währenddessen geht das Leben um den sterbenden Mann herum weiter.
Seine Töchter haben zwar ihre eigenen Probleme, nehmen sich aber fürsorglich des Nachbarkindes Alice an, das erst kürzlich ins das Haus ihrer Großmutter gezogen ist. Und Reverend Lyle, der sich von Dad und Mary die Geschichte ihres gemeinsamen Lebens erzählen lässt, wird nicht nur wegen seiner kontroversen Gedanken von der Gemeinde aus der Stadt gejagt, sondern überwirft sich auch mit seiner Frau und seinem Sohn.
Während seine Kräfte schwinden, hängt Dad Lewis seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Dabei spielt das Schicksal seines ehemaligen Angestellten Clayton und seiner Frau ebenso eine große Rolle wie das Zerwürfnis mit seinem Sohn Frank, der schon vor Jahren den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hat …
„Er saß auf der Veranda, trank und hielt die Hand seiner Frau. Er würde also sterben. Das war es, was sie gesagt hatten. Noch ehe der Sommer vorbei war, wäre er tot. Anfang September würde man draußen auf dem Friedhof, drei Meilen östlich von der Stadt, Erde über ihn schütten, auf das, was von ihm übrig war. Man würde seinen Namen auf einen Grabstein meißeln, und dann wäre es so, als hätte es ihn nie gegeben.“ (S. 10) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf veröffentlichte erst im Alter von 41 Jahren seinen ersten, bislang noch nicht auf Deutsch erschienenen Roman „The Tie That Binds“, auf die letztlich nur fünf weitere folgte, ehe er 2014 in Salida, Colorado, im Alter von 71 Jahren verstarb. Sein fünfter Roman „Kostbare Tage“ spielt ebenso wie all seine anderen Werke in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, und beweist einmal mehr, wie der Sohn eines methodistischen Pfarrers mit großem Einfühlungsvermögen und ausgefeilter Sprache ganz gewöhnliche Geschichten ganz alltäglicher Leute zu erzählen vermag. So handelt „Kostbare Tage“ nicht nur vom Sterben eines Mannes, der sein Leben gelebt hat, der seinen Angestellten und seiner Familie in guter Erinnerung bleiben wird, der stets versucht, unglückliche Entscheidungen und deren unabsehbare Folgen wieder zurechtzubiegen. Der Roman handelt ebenso von den Menschen, die Dad Lewis in seinem Leben begleitet haben und die ihn überleben werden. Ebenso eindringlich wie die Erinnerungen und Visionen des sterbenden Mannes widmet sich der Autor dem Schicksal des in Ungnade gefallenen Reverends und seinen so unterschiedlichen Kindern, von denen es der früh abtrünnig gewordene Frank sichtlich am schwersten getroffen hat.
„Kostbare Tage“ erzählt von den ganz gewöhnlichen Herausforderungen des Lebens, von Liebe, die eine lange Ehe überdauert, von Vergebung und den Möglichkeiten, im Leben neue Wege gehen zu können. Kent Haruf gelang mit „Kostbare Tage“ das Kunststück, dem Sterben seinen Schrecken zu nehmen, Trost zu spenden und aufzuzeigen, wie Mitgefühl und Verständnis uns alle zu besseren Menschen machen kann. Dabei beschreibt er die Menschen und die sie umgebende Landschaft so eindringlich, dass man sich als Leser sofort ins Geschehen hineingezogen fühlt und sich mit den so lebensnah gezeichneten Figuren problemlos identifizieren könnte. Das ist einfach zauberhaft schöne Lektüre!
Leseprobe Kent Haruf - "Kostbare Tage"

Kent Haruf - "Lied der Weite"

Freitag, 12. Januar 2018

(Diogenes, 384 S., HC)
In der Kleinstadt Holt in den Great Plains muss sich der Lehrer Tom Guthrie mit dem Umstand anfreunden, dass seine kränkliche Frau Ella für unbestimmte Zeit nach Denver zu ihrer Schwester zieht und ihn mit den beiden Jungen Ike und Bobby alleinlässt. Sie tragen morgens die Denver News aus, freunden sich mit der alten Mrs. Stearns an und bekommen es mit dem aufmüpfigen Russell Beckman zu tun, der bereits ihren Vater in der Schule zur Verzweiflung treibt.
Währenddessen wird die siebzehnjährige schwangere Victoria von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt. Verzweifelt wendet sie sich an die Lehrerin Maggie Jones, die das Mädchen raus auf die Farm der beiden alten Junggesellen Harold und Raymond McPheron bringt.
Sie wissen zwar nichts mit der jungen Frau anzufangen, nehmen sie aber bei sich auf, umsorgen sie, kaufen mit ihr ein und versuchen sogar, Gespräche mit ihr zu führen, obwohl sie darin völlig ungeübt sind. Doch dann taucht der leibliche Vater des Babys plötzlich auf und bringt die zunächst aus Not geborene, mittlerweile aber liebevolle Konstellation bei den Viehzüchtern aus dem Lot. Toms Frau Ella zieht die Konsequenzen aus den Jahren der Unzufriedenheit und kehrt nicht mehr zurück.
„Ich will mehr vom Leben. Das ist mir jetzt klargeworden. Ich war gar nicht mehr da, mir selbst entfremdet. Die ganzen Jahre habe ich noch etwas anderes von dir gewollt, mehr. Ich wollte jemanden, der mich so will, wie ich bin. Nicht seine eigene Version von mir.“ (S. 147) 
Der amerikanische Bestseller-Autor Kent Haruf (1943-2014) hat nur sechs Romane veröffentlicht, von denen „Unsere Seelen bei Nacht“ im vergangenen Jahr mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt worden ist. Wie alle anderen von Harufs Romanen spielt auch das 1999 veröffentlichte und 2001 bei btb erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Werk „Lied der Weite“ in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, und beschreibt in schlichter, aber eindringlicher Sprache das Leben einer kleinen Schar von ganz normalen Menschen mit ihren ganz alltäglichen Problemen.
Im Mittelpunkt stehen dabei zunächst Tom Guthrie mit seinen beiden Söhnen, die miterleben müssen, wie ihre Eltern sich nicht mehr menschlich, sondern auch räumlich voneinander entfernen; dann die beiden alten McPheron-Brüder, deren Leben durch die schwangere Victoria völlig auf den Kopf gestellt wird.
Interessanterweise widmet der Autor den Tieren in seinem Roman fast genauso viel Raum und Interesse. Detailliert beschreibt er verschiedene Untersuchungen, Geburten und vor allem die Obduktion eines Pferdes, das elendig an einem Darmverschluss verstarb. Das Gebaren der Tiere folgt ganz natürlichen Prozessen, und ebenso lässt sich das Verhalten der hier vorgestellten Menschen vorhersehen, der Umgang mit einer ungewollten Schwangerschaft, Trennungen, den Versuchen, Beziehungen aufzubauen, Unsicherheiten und mangelnden Erfahrungen zu begegnen.
Wie Haruf mit ganz alltäglichen Ereignissen und Empfindungen umgeht, allzu menschliche Schwächen und Bedürfnisse beschreibt, präsentiert überhaupt keine moralisierenden Einsichten oder schlichte Lebensweisheiten, sondern ein nüchtern erscheinendes Portrait menschlicher Wesenszüge. Doch in Harufs schnörkelloser wie poetischer Art wachsen dem Leser die Figuren schnell ans Herz.
Leseprobe Kent Haruf - "Lied der Weite"