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Dirk Kurbjuweit – „Haarmann“

Montag, 17. Februar 2020

(Penguin, 318 S., HC)
Zwischen dem 12. Februar 1923 und Ende Oktober sind in Hannover zehn Jungs zwischen 13 und 18 Jahren spurlos verschwunden. Als Robert Lahnstein aus Bochum zur Unterstützung bei den Ermittlungen in Hannover eintrifft, entdeckt er keine Zusammenhänge zwischen den Jungen. Also hofft er insgeheim auf den nächsten Fall, auf eine Leiche oder eine andere Spur. Auch die politische Atmosphäre ist angespannt. Die Wunden des Ersten Weltkriegs sind noch nicht verheilt, die Weimarer Republik noch nicht etabliert, aufständische Kräfte nicht unter Kontrolle. Es herrschen Hunger und Armut. Ein Putschversuch in München schlägt fehl. Während Herman Göring flüchten konnte, sitzt Adolf Hitler in Untersuchungshaft.
Neben den Nationalsozialisten gefährden auch die Monarchisten und Kommunisten die Stabilität der jungen Demokratie. Dann melden Jakob Hannappel und seine Frau ihren fünfzehnjährigen Adolf als vermisst. Bei Lahnstein verhärtet sich allmählich der Verdacht, dass der Täter aus dem Schwulen-Milieu kommt, und seine Zimmerwirtin bringt ihn auf die Spur von Haarmann, der auf Jungs steht und die bei ihm verschwinden, wie der Zigarrenhändler Klobes bestätigen kann, der gegenüber wohnt. Doch die Polizei ist diesen Hinweisen bislang nicht ernsthaft nachgegangen und bedient sich auch gewalttätiger Praktiken in den Verhören, um bei den Ermittlungen endlich voranzukommen. Lahnstein ist das alles zuwider.
Natürlich ist auch er frustriert über den ausbleibenden Fortschritt bei der Suche nach dem Täter, freundet sich aber mit der Mutter eines Jungen an, dessen Tabakladen er immer wieder aussucht, nachdem Lahnstein einen aufdringlichen Kunden in die Flucht schlagen konnte. Vot allem setzt sich der Kommissar mit Fritz Haarmann auseinander, findet endlich seine untergetauchte Akte und erfährt von dessen ersten Strafverfahren wegen unzüchtigen Verhaltens. Später stellt ein Stadtarzt bei Haarmann „unheilbaren Schwachsinn“ fest. Lahnstein bestellt Haarmann immer wieder zum Verhör ein, doch bestreitet er stets die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe. Schließlich bittet Lahnstein einen seinen alten Kollegen Georg, Haarmann zu beschatten, da er den Kollegen in Hannover um den zwielichtigen Müller nicht trauen kann.
„Ich dachte erst, ich müsse einen Täter suchen, der im Krieg war, dem die Maßstäbe verrutscht sind, für den der Tod eine Alltäglichkeit ist, auch der Tod in Massen. Im Krieg ging einem doch zwangsläufig das Gefühl dafür verloren, dass es ein Recht auf Leben gibt, dass jedes Leben wertvoll ist.
Das stimmt, sagt Georg, aber man kann sich dieses Gefühl zurückerobern, wie man an uns und den meisten anderen Kameraden sieht. Wir haben das Töten beendet.“ (S. 204) 
Der „Zeit“- und „Spiegel“-Reporter Dirk Kurbjuweit hat sich seit seinem Debüt als Schriftsteller mit „Die Einsamkeit der Krokodile“ (1995) konstant als vielseitiger und gefeierter Autor etabliert, der mit seinem wahren Kriminalroman „Haarmann“ in die faszinierende Welt der 1920er Jahre taucht, die nicht zuletzt durch Tom Tykwers grandiose Fernsehserie „Babylon Berlin“ in aller Munde ist. Kurbjuweit nimmt den spektakulärsten Serienmord der deutschen Kriminalgeschichte als Aufhänger für einen packendes Krimi-Drama, das vor allem von Verunsicherung, Ohnmacht und Gewalt geprägt ist. Dabei portraitiert der Autor seinen leitenden Kommissar Lahnstein als ehemaligen Flieger, der in Yorkshire in Kriegsgefangenschaft geraten ist und während seiner Abordnung nach Hannover sich nicht nur an die Erlebnisse in England zurückdenkt, sondern auch an seine Lissy und ihr gemeinsames Kind August. Doch diese Erinnerungen verblassen immer mehr angesichts der schrecklichen Ereignisse in Hannover, wo sich Lahnstein nicht nur mit der eigenen Unfähigkeit konfrontiert sieht, die Serie von verschwundenen Jungen zu beenden und den dafür verantwortlichen Täter aufzuhalten, sondern auch mit einem korrupten Polizeiapparat, der angesichts der unruhigen politischen Verhältnisse meint, in einem rechtslosen Raum nach eigenem Gutdünken agieren zu können.
Ebenso faszinierend wie die Jagd nach dem Täter ist aber auch Haarmanns Psychogramm ausgefallen. Indem Kurbjuweit immer wieder auch Haarmann selbst zu Wort kommen lässt und so seine Perspektive verständlich macht, verschwindet zunehmend der Eindruck, dass Haarmann schwachsinnig sei. Stattdessen wird deutlich, wie abhängig er von seinem Geschäftspartner Hans Grans war, von dem er doch nur geliebt werden wollte, und wie rasend er bei den Zusammenkünften mit den Jungen wurde, dass er ihnen in den Hals biss, bis sie tot waren. Kurbjuweit schildert in „Haarmann“ nicht nur einen faszinierenden Kriminalfall, sondern fesselt dabei durch eindringliche Charakterstudien und akzentuierte Beschreibungen der gesellschaftspolitischen Atmosphäre in der jungen Weimarer Republik.
Leseprobe Dirk Kurbjuweit - "Haarmann"