John Katzenbach – „Der Verfolger“

Montag, 31. Dezember 2018

(Droemer, 492 S., Pb.)
Am Abend seines 53. Geburtstages fand der New Yorker Psychiater Dr. Frederick Starks im Wartezimmer seiner Praxis einen Brief mit der Überschrift „Willkommen am ersten Tag Ihres Todes“ vor – unterschrieben von „Rumpelstilzchen“. Was Starks zunächst für einen üblen Scherz gehalten hatte, entwickelte sich zu einem mörderischen Katz-und-Maus-Spiel, denn der Psychiater hatte nur fünfzehn Tage Zeit, die wahre Identität des Briefeschreibers zu ermitteln, sonst würde er Starks‘ Familie umbringen - wenn er sich nicht selbst opfern wollte.
Am Ende konnte Starks die Konfrontation mit einer mörderischen Familie überleben, nachdem er mit Richard Lively eine neue Identität angenommen hatte.
Fünf Jahre später hat Starks zwar wieder seinen eigentlichen Namen angenommen, aber die Welt der Upper-Class-Psychiatrie in Manhattan verlassen, um in New Orleans nach dem Wüten des Hurrikans schwer traumatisierte Kinder zu behandeln. Mittlerweile hat er in Miami eine neue Praxis unter seinem richtigen Namen eröffnet, doch auf den Tag genau kehrt der Alptraum in das Leben des Psychiaters zurück. Der Mann, den er als Rumpelstilzchen kannte und eigentlich erschossen hatte, begrüßt ihn am Jahrestag der vermeintlich tödlichen Konfrontation mit einer Video-CD, auf der die Geschwister von Mr R, die Schauspielerin Virgil und der Anwalt Merlin, in einer inszenierten Szene zu sehen sind, die Starks schließlich deuten soll.
Offensichtlich werden Mr Rs Geschwister nun selbst von einem Unbekannten bedroht, und Starks fällt die Aufgabe zu, das Bedrohungspotenzial auszuschalten. Erst dann würden sich die Wege zwischen ihnen für immer trennen. Marks setzt Stück für Stück die auf der CD präsentierten Puzzleteile zusammen, die ihn zum Bühnenstück „Der Tod und das Mädchen“ und schließlich zu einem Mann führen, den Starks insgeheim als Jack the Paddington Ripper bezeichnet.
Doch Starks geht es nicht nur darum, die Identität des unbekannten Killers zu lüften. Ebenso will er sich ein für allemal die drei Geschwister vom Leib halten, die ihm vor fünf Jahren das Leben zur Hölle machten.
 „Ihm war klar, dass sich zwei Mörder lebhaft für seine Pläne interessierten. Einen kannte er bereits. Einen würde er noch kennenlernen. Doch beide musste er abschütteln, um die Motive für das drohende Verbrechen zu ergründen, eine Möglichkeit zu finden, wie es sich vereiteln ließ, und dem Gegner immer einen Schritt voraus zu sein.“ (S. 148) 
2006 ebnete der Thriller „Der Patient“ (ebenso wie „Die Anstalt“) dem ehemaligen Gerichtsreporter John Katzenbach den Weg zum Bestseller-Autor in Deutschland und bildete die Grundlage für das Geschehen, mit dem der Psychiater Dr. Frederick Starks nun in der Fortsetzung „Der Verfolger“ konfrontiert wird. Nach etwas umständlichen Beginn mit den Beschreibungen der rätselhaften Szenen, die Starks auf der CD präsentiert werden, die das neue Katz-und-Maus-Spiel eröffnet, gewinnt der Thriller deutlich an Klasse. Dabei verbindet Katzenbach in seinem Protagonisten sowohl psychologische Analysemethoden als auch detektivischen Spürsinn. Schließlich hat es Dr. Starks auch mit äußerst raffinierten Psychopathen zu tun, für die er kein leichtes Opfer sein will, sondern denen er selbst das Handwerk legen muss, um zu überleben.
Dabei hat er am Ende nicht nur seine ebenso reiche wie liebenswerte Patientin Mrs. Heath, sondern auch die Vollwaise Roxy und den ebenfalls durch ihn betreuten Charlie auf seiner Seite. Bis zum Showdown bei einer Beerdigung schlägt die Handlung so einige überraschende Haken, doch da Katzenbach seinen Protagonisten so glaubwürdig charakterisiert hat, folgt ihm der Leser gern mit atemloser Spannung durch den komplexen Plot. 
Katzenbachs Thriller heben sich durch ihre psychologische Vielschichtigkeit und die klug inszenierten Plots wohltuend von der Masse der Genre-Literatur ab. „Der Verfolger“ macht da zum Glück keine Ausnahme.
Leseprobe John Katzenbach - "Der Verfolger"

Philippe Djian – „Doggy Bag. Eins“

Mittwoch, 26. Dezember 2018

(Diogenes, 274 S., Tb.)
Vor zwanzig Jahren hätten sich die beiden Brüder Marc und David Sollens wegen Édith beinahe umgebracht. Mittlerweile führen sie gemeinsam und sehr erfolgreich ein Autohaus, das seine Verkäufe vor allem der umtriebigen Sekretärin Béa verdankt, die ihren Kunden durch sexuelle Gefälligkeiten immer wieder Rabatte unterzuschieben versteht, aber eigentlich in ihre Chefs verschossen ist. Als Édith wie versprochen auf den Tag genau nach zwanzig Jahren wieder auftaucht, gerät das Leben der Sollens-Familie arg ins Wanken.
Nach unsachgemäßen Tiefbauarbeiten, in deren Folge Marcs Büro in der Erde verschwindet, will der 41-Jährige die gesamte Stadtverwaltung verklagen, beginnt aber eine neue Beziehung mit Édith, die ihre zwanzigjährige Tochter Sonia im Schlepptau hat, bei der sowohl David als auch Marc als Vater in Frage kommen. David unterhält dagegen eine Affäre mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne, die sich nach einem traumatischen Erlebnis aber auf keinen Geschlechtsverkehr einlässt …
„Er fühlte, dass Édith und Marc in diesem Augenblick zusammen waren, und das machte die Sache nicht besser. Es war zwar zunächst nur ein leichter Stich, ein verschwommener Schatten, der dem Nebel entwich, den die Reibereien mit Josianne erzeugten und der alles einhüllte. Aber dennoch ein Stich, eine zusätzliche Last, die er sich gern erspart hätte.“ (S. 200) 
Mit Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ oder „Blau wie die Hölle“ hat sich der französische Autor Philippe Djian eine treue Fangemeinde erschlossen, die vor allem seine lebendige Sprache und das erotische Prickeln in den komplizierten Beziehungen seiner Protagonisten zu schätzen wissen. Mit der sechsteiligen Reihe „Doggy Bag“ versuchte sich Djian Mitte der 2000er Jahre an einer literarischen Soap Opera, um den allzu flach inszenierten Dramen des Prime-Time-Fernsehens etwas entgegenzusetzen.
Sein Ziel, jene Menschen wieder zum Buch zurückzuführen, die längst ans Fernsehen verloren gegangen sind, dürfte er nicht annähernd erreicht haben. Stattdessen dürfte Djian seine Fans mit einer kaum glaubwürdigen Abfolge zunehmend absurder erscheinenden Sex-Abenteuer wenn nicht gänzlich vergrault, dann doch enttäuscht haben.
Wer hier mit wem alles eine mehr oder weniger heimliche Affäre eingeht oder wenigstens von einer solchen träumt, wirkt allzu beliebig und irgendwann auch nicht mehr unterhaltsam. Dabei besitzen einzelne Figuren durchaus einen gewissen Charme und haben in den nachfolgenden Bänden hoffentlich noch Gelegenheit, an Kontur zu gewinnen, ohne zu wahllosen Objekten verschiedener sexueller Begierden zu werden.

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 3) „Die Tote in Paradise“

Montag, 24. Dezember 2018

(Pendragon, 310 S., Tb./eBook)
Seit Jesse Stone sowohl seinen Job bei der Mordkommission in Los Angeles als auch seine Ex-Frau Jenn dort zurückgelassen hat, übt er nun seinen Dienst als Polizeichef in der Kleinstadt Paradise aus, wo er drei Abende die Woche in der „Paradise Men’s Softball League“ spielt und irgendwie seine Beziehung zu Jenn neu definieren muss. Die Wetterfee ist ihm nämlich nach Paradise nachgezogen, weil sie ebenso wie Jesse feststellen musste, dass die beiden trotz Jesses Alkoholproblemen und Jenns Seitensprüngen nicht so recht miteinander, aber auch auf keinen Fall ohne einander können.
Doch während Jenn bereits eine Therapie macht, muss sich Jesse erst mit dem Gedanken anfreunden, sich professionelle Hilfe zu holen, denn er ist sein ganzes Leben entweder Baseball-Spieler oder Cop gewesen und zählt so definitiv nicht zur üblichen Klientel für Psychiater. Seine Aufmerksamkeit wird aber gerade auch durch einen besonders grausigen Leichenfund gebunden: Der Körper des Mädchens, das im nahegelegenen See gefunden wurde, ist so stark verwest, dass das Opfer nur anhand eines Ringes festgestellt werden kann. Offenbar handelt es sich um ein Mädchen, das als „Dorfmatratze“ bekannt war und von seinen Eltern längst verstoßen wurde.
Über eine Nonne in Boston, die sich um obdachlose Mädchen kümmert, erhält Stone eine erste brauchbare Spur. Die weiteren Ermittlungen führen nicht nur zum Bestseller-Autor Norman Shaw, sondern auch zu dem Gangster Gino Fish und seinem Handlanger Alan Garner.
 „Was für ein Motiv gab es, ein Mädchen wie Billie zu erschießen? Vielleicht war sie ja nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Aber mit dieser Theorie kam er nicht weiter. Es war plausibler, sich an ihre Promiskuität zu halten. Er nahm noch einen Schluck Scotch und Soda. Sex war das einzig mögliche Motiv, das sie in den Tod getrieben haben konnte.“ 
Mehr als den vorangegangenen beiden Fällen um den alkoholkranken Polizeichef Jesse Stone nimmt in „Die Tote in Paradise“ das Privatleben des charismatischen Protagonisten fast ebenso viel Raum ein wie der zu lösende Kriminalfall. Das liegt nicht nur an der sehr offenen Kommunikation, die er bei den regelmäßigen Zusammenkünften mit Jenn am Mittwochabend führt, sondern auch an Dix, der ihm von Jenn empfohlen wird und selbst unter Alkoholproblemen litt, bevor er beschloss, anderen bei der Bewältigung ihrer Sucht zu helfen. Und schließlich ist da noch die attraktive Schulleiterin Lilly Summers, mit der Jesse eine Affäre anfängt. Sie erhofft sich schließlich mehr als nur ein Abenteuer, bekommt durch Jesse aber deutlich zu verstehen, dass er seine Beziehung zu Jenn noch zu kitten hofft.
Die Aufklärung des Mordes an dem jungen Mädchen erweist sich dazu als extrem zeitraubend, weil sich einfach keine Beweise für die Zusammenhänge finden lassen, die Stone und sein Team herstellen. „Die Tote in Paradise“ ist als Krimi nicht so spannend wie die ersten beiden Jesse-Stone-Bände, weil sich die Ermittlungen und die Auflösung auf vorhersehbaren Bahnen bewegen. Doch dieser dritte Fall bringt uns die Figur des mit den süßen Versprechungen des Alkohols kämpfenden Protagonisten auf persönlicher Ebene sehr viel näher, wobei die komplexe Beziehung, die er mit seiner Ex-Frau führt, nicht unbedingt nachvollziehbar sein muss.
Dafür sind Parker die Beschreibungen der Verlockungen, denen Jesse Stone immer wieder zu erliegen droht, sehr glaubhaft gelungen.

Neil Gaiman – „Der Ozean am Ende der Straße“

Samstag, 22. Dezember 2018

(Eichborn, 238 S., HC)
Anlässlich einer Beerdigung kehrt ein Mann in mittleren Jahren in seine Heimatstadt zurück und fährt nach dem Gottesdienst ziellos durch die Gegend, bis er zu seinem Elternhaus gelangt, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Doch da er kaum Erinnerungen an seine Jugend hat, zieht es den Heimkehrer weiter bis hinaus zum Gehöft der Hempstocks, wo er von der alten Mrs. Hempstock begrüßt wird, die ihm schon als Kind warme Milch direkt von den Kühen zu trinken gegeben hatte.
Hier holen ihn dann doch die Erinnerungen ein: Nach seinem siebten Geburtstag, zu dem keines der eingeladenen Kinder gekommen ist, leiden seine Eltern unter Geldmangel und müssen das kleine Zimmer vermieten, in dem der Junge bislang lebte. Doch nicht nur die wechselnden Bewohner des vermieteten Zimmers hinterlassen einen Eindruck bei dem Jungen, auch die Tatsache, dass eines Tages das Auto seines Vaters am Ende der Straße von der Polizei gefunden wird, mit der Leiche des aktuellen Untermieters auf dem Rücksitz. Um nicht länger dem grausigen Anblick ausgesetzt zu sein, verbringt der Junge den Tag bei den Hempstocks und lässt sich von der elfjährigen Lettie ihren Ozean zeigen, der eigentlich nur ein kleiner Ententeich ist. Zu gern würde der Junge den Rest seines Lebens bei Lettie und in ihrer magischen Welt leben, zumal die hübsche Haushaltshilfe Ursula Monkton, die seine Mutter engagiert hat, als sie eine Anstellung als Apothekerin findet, sein Leben zur Hölle macht. Nur Lettie scheint zu erkennen, um was es sich bei der Frau in Wirklichkeit handelt …
„Ich vertraute Lettie, wie ich ihr schon vertraut hatte, als wir uns unter dem orangen Himmel auf die Suche nach dem flatternden Ding begeben hatten. Ich glaubte an sie, und das bedeutete, dass mir nichts passieren würde, solange ich mit ihr zusammen war. Das wusste ich, so wie ich wusste, dass Gras grün war, dass Rosen spitze Dornen hatten und dass Frühstücksflocken süß waren.“ (S. 153) 
Eigentlich wollte Neil Gaiman („Niemalsland“, „Coraline“) nur eine Kurzgeschichte über den Mann, der sich in dem Auto des Vaters des Ich-Erzählers umgebracht hatte, und die Familie Hempstock schreiben, doch beim Schreiben wuchs die Geschichte zu einem märchenhaften Roman aus, der einmal mehr demonstriert, wie real der Autor selbst die ungewöhnlichsten Ereignisse zu erwecken versteht. „Der Ozean am Ende der Straße“ ist zwar aus der Sicht des mittlerweile zu einem Erwachsenen gereiften Mannes geschrieben, dessen Ehe seit einem Jahrzehnt gescheitert ist und dessen erwachsenen eigenen Kinder aus dem Haus sind, aber die geschilderten Erinnerungen sind maßgeblich von den Eindrücken eines siebenjährigen Junges geprägt, der in der vier Jahre älteren Lettie eine ganz besondere Freundin findet und deren Mutter und Großmutter über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen.
Es ist eine einfühlsame, bewegende und spannende Geschichte über die Macht von Freundschaft und Vertrauen, über den ewigen Kampf guter Geister gegen böse Mächte und natürlich über die Kraft der Phantasie.
Leseprobe Neil Gaiman - "Der Ozean am Ende der Straße"

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 13) „Der Komponist“

(Blanvalet, 608 S., HC)
Als am helllichten Tag der Geschäftsmann Robert Ellis in der New Yorker Upper East Side niedergeschlagen und in den Kofferraum einer dunklen Limousine geworfen wird, ist nur die neunjährige Morgynn Zeuge des Vorfalls. Allein die Tatsache, dass das Mädchen am Tatort einen Galgenstrick in Miniaturgröße gefunden hat, ruft den weltberühmten, aber seit einem Unfall vom Hals abwärts gelähmten Forensik-Experten Lincoln Rhyme auf den Plan. Wenig später ist auf einer Streamingseite das Live-Video eines Mannes zu sehen, der mit einer Schlinge erdrosselt wird. Besonders schaurig wirkt die Übertragung durch die musikalische Untermalung, bei der ein menschliches Keuchen aufgenommen und zur Melodie von „An der schönen blauen Donau“ eingespielt worden ist. Am Ende des Videos erscheint auf dem Bildschirm eine Signatur: Der Komponist.
Mit der Unterstützung von Rhymes Verlobten Amelia Sachs, seinem ehemaligen NYPD-Partner Lon Sellitto und FBI-Special Agent Frank Dellray kann Ellis gerade noch ausfindig gemacht und gerettet werden, aber vom Komponisten fehlt jede Spur.
Als kurz darauf in Neapel ein ähnlicher Entführungsfall durch den Forstwachtmeister Ercole Benelli gemeldet wird, fliegen Rhyme und Sachs umgehend nach Italien, um die dortigen Behörden zu unterstützen. Während sich vor allem Oberstaatsanwalt Dante Spiro gegen die amerikanische Einmischung sträubt, erweist sich Benelli als sehr pfiffiger Ermittler.
Rhyme, Sachs und die italienischen Strafverfolgungsbehörden bekommen es in der Folge aber nicht nur mit Entführungen aus einem Flüchtlingslager, sondern auch mit einem sexuellen Übergriff durch einen Amerikaner und schließlich einem bislang unbekannten amerikanischen Geheimdienst zu tun. Als der Komponist erfährt, wer ihm in Italien auf der Fährte ist, ist er vor allem von Amelia Sachs besonders angetan, die er mit der griechischen Göttin Artemis vergleicht …
„Er wusste, er durfte hier nicht bleiben, lag aber trotzdem verkrümmt am Boden und zitterte vor Verzweiflung. Irgendwo in der Nähe zirpte ein Insekt, rief eine Eule, zerbrach ein großes Tier einen Zweig und ließ das trockene Gras rascheln. Doch die Geräusche brachten ihm keine Linderung …“ (S. 305) 
Seit ihm vor einigen Jahren an einem Tatort ein Balken ins Genick gefallen war und ihn querschnittsgelähmt machte, hat Lincoln Rhyme sich zu einem genialen Forensik-Experten ausgebildet, dessen Grundlagenwerk auch in Italien bekannt ist (wo es allerdings noch auf seine Übersetzung wartet). Doch die beratenen Tätigkeiten, die er in der Regel im Auftrag seines alten Partners Lon Silletto erledigt, führte er bislang - von seltenen Ausnahmen abgesehen – von zuhause aus, während Amelia Sachs die Laufarbeit übernahm.
Die besonderen Umstände führen Rhyme und Sachs in ihrem dreizehnten Abenteuer erstmals nach Italien. Immerhin kann Rhyme nach einigen operativen Eingriffen mittlerweile wieder Teile seines rechten Arms und der Hand bewegen, aber er ist nach wie vor auf die Hilfe körperlich voll funktionsfähiger Ermittler angewiesen, um die ihm angetragenen Fälle lösen zu können. Das gestaltet sich in Neapel besonders schwierig, weil der eigensinnige Staatsanwalt hier besondere Befugnisse besitzt, aktiv an den Ermittlungen teilzunehmen und Befugnisse einzugrenzen. Doch Rhyme & Co. wird während der Jagd nach dem Komponisten klar, dass der Fall viel komplexer liegt, als zunächst angenommen.
Jeffery Deaver erweist sich einmal mehr als versierter Spannungsautor, der einen komplexen Fall zu konstruieren versteht. Dabei wechselt er gelegentlich die Erzählperspektive von Rhyme und Benelli zu der des Komponisten, der aber bis auf wenige Momente ebenso blass bleibt wie die Hauptfiguren Rhyme und Sachs. Außer der Tatsache, dass Rhyme mit seinem Pfleger Thom Reston mögliche Ziele für seine Hochzeitsreise diskutiert und italienische Spirituosen zu schätzen lernt, bleiben private Momente des außergewöhnlichen Ermittler-Duos nämlich außen vor. Die besser konturierte Figur in diesem Roman ist nämlich der Forstwachtmeister Benelli, der diesen Fall als Chance sieht, zur Staatspolizei wechseln zu können.
Zum Ende hin übertreibt es Deaver etwas mit seinen für das Genre obligatorischen Wendungen, doch bietet „Der Komponist“ nicht nur für Fans von Rhyme und Sachs unterhaltsamen Thrill vor der außergewöhnlichen Kulisse Neapels.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Komponist"

Paolo Coelho – „Hippie“

Donnerstag, 13. Dezember 2018

(Diogenes, 298 S., HC)
Seit seinem Welt-Bestseller „Der Alchemist“ zählt der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho zu den spirituellen Gurus seiner Zunft und bringt seinen Lesern in leicht verständlicher Sprache Weisheiten aus unterschiedlichen esoterischen Traditionen nahe. Mit seinem neuen Buch, das passend zum fünfzigjährigen Jubiläum des legendären Jahres 1968 erscheint, als die bekannte Mehrheitsgesellschaft mit ihren leistungsorientierten, konservativen Werten durch die Hippie-Bewegung aufgebrochen wurde und eine Gegenkultur entstand, die eine antiautoritäre und enthierarchisierte Weltordnung anstrebte, lässt Coelho seine eigene Geschichte Revue passieren.
Statt aber die autobiografische Variante der Ich-Perspektive zu wählen, entschied sich der Autor, „Hippie“ in der dritten Person zu erzählen, um auch den anderen Figuren, mit denen der junge Coelho damals zu tun hatte, eine eigene Stimme zu geben.
Im September 1970 galten der Piccadilly Circus in London und der Dam in Amsterdam als die hippesten Orte der Welt. Statt sich über die traditionellen Medien zu informieren und auszutauschen, gab es unter den Hippies eine sogenannten „Unsichtbare Zeitung“, eine Mund-zu-Mund-Informationskette, in der sich über anstehende Konzerte und angesagte Reiserouten unterhalten wurde. Dabei war Arthur Frommers „Europe On Five Dollars a Day“ ein unverzichtbarer Ratgeber. Um sich wie viele seiner Gleichgesinnten auf einen sogenannten Hippie-Trail begeben zu können, zieht es den dreiundzwanzigjährigen Paulo zunächst nach Amsterdam, von wo er sich für hundert Dollar in einem „Magic Bus“ über die Türkei, den Libanon, Iran, Irak, Afghanistan, Pakistan und Indien bis nach Kathmandu begeben würde. Als seine engste Reisegefährtin erweist sich die hübsche Holländerin Karla, der von einer Wahrsagerin prophezeit wurde, dass sie einen Begleiter finden würde.
Gemeinsam mit ihren Freunden Rahul, Ryan und Mirthe suchen sie nach spiritueller Erleuchtung. 
„Viele Gefühle bewegen das Herz des Menschen, wenn er beschließt, sich dem spirituellen Weg zuzuwenden. Es kann aus einem edlen Beweggrund sein wie etwa Glaube, Nächstenliebe oder Barmherzigkeit. Oder es kann nur aus einer Laune heraus geschehen, aus Angst vor dem Alleinsein, aus Neugier oder aus dem Wunsch heraus, geliebt zu werden. Letztlich spielt es keine Rolle, welches der ursprüngliche Beweggrund war. Der wahre spirituelle Weg ist stärker als die Gründe, die uns zu ihm geführt haben.“ (S. 129) 
Doch der Weg zum Glück jenseits konventioneller Konsumfreuden und kleinbürgerlicher Werte ist von etlichen Gefahren gesäumt. So muss der „Magic Bus“ wegen des Bürgerkriegs in Jordanien etwas länger Station in Istanbul machen als geplant, und Paolo wird das Angebot gemacht, als Drogenkurier einen guten Schnitt zu machen. Natürlich widersteht er der dämonischen Versuchung und wendet sich lieber den Derwischen in Istanbul zu …
„Hippie“ stellt fünfzig Jahre nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 auch ein Prequel zu Coelhos schriftstellerischem Werk dar. Als sich der Autor damals auf den Hippie Trail begab, war zwar schon der Wunsch vorhanden, Schriftsteller zu werden, doch fehlte dem jungen Mann noch die Lebenserfahrung, um interessante Geschichten schreiben zu können. Vor allem im letzten Drittel des Buches, als Paulo in Istanbul der Derwisch-Tradition auf den Grund zu gehen versucht, geben sich die spirituellen Weisheiten ein munteres Stelldichein. Das wirkt oft sehr plakativ, als würden Sinnsuchende die Lehren von Rabindranath Tagore, Paulus von Tarsus, Rumi und Kabir in ihrer Essenz auf leicht verständliche Weise aneinandergereiht, so dass der Leser zumindest ein Gefühl dafür bekommt, wohin die eigene spirituelle Reise hinführen könnte. Auf jeden Fall gewährt „Hippie“ einen interessanten Einblick in einen Lebensabschnitt des Autors, der auch weniger schöne Ereignisse aus dem Jahre 1968 rekapituliert, der sein weiteres Leben und Schaffen prägen sollte.
Leseprobe Paolo Coelho - "Hippie"

Lee Child – „Der Einzelgänger“

Mittwoch, 12. Dezember 2018

(Blanvalet, 448 S., HC)
Jack Reacher ist neben James Bond, Jason Bourne und John McClane mit Sicherheit der coolste Actionheld der Film-, aber vor allem der Literaturgeschichte. Seit 1997 legt Lee Child alljährlich ein neues Abenteuer des hochdekorierten Veteranen der Militärpolizei vor, der nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst meist per Anhalter oder Bus das Land erkundet, von dem er dank seiner militärischen Familiengeschichte bislang wenig zu sehen bekam. Dabei gerät er immer wieder in Situationen, in denen seine Fähigkeiten als begnadeter Ermittler gefragt sind.
Seit 2011 hat Lee Child neben den Jack-Reacher-Romanen auch immer wieder mal eine Kurzgeschichte zu seinem charismatischen Helden verfasst, die dann in Magazinen oder Anthologien wie „Esquire“, „Manhattan Mayhem“, „Country Life“ oder „Stylist“ bzw. als e-only veröffentlicht wurden.
Mit „Der Einzelgänger“ werden diese elf Einzelstorys erstmals zusammengefasst und um die bislang unveröffentlichte Eröffnungsgeschichte „Zu viel Zeit“ ergänzt. Darin wird Reacher in einer Kleinstadt in Maine Zeuge, wie in einer sehr belebten Fußgängerzone ein Junge auf eine etwa zwanzigjährige Frau zuläuft, ihr die Stofftasche von der Schulter reißt und mit der Beute flüchtet – genau auf Reacher zu. Der bringt den Jungen souverän zu Fall. Während die junge Frau überraschenderweise flüchtet, wurde die Szene auch von zwei Cops in Zivil beobachtet, die sich bei Reacher für seine Hilfe bedanken und ihn zur Aufnahme seiner Aussage ins Revier bitten. Doch aus den veranschlagten zehn Minuten wird plötzlich eine Anklage, die Reacher eine Beteiligung an dem Coup vorwirft. Die unerfahrene Pflichtverteidigerin ist ihm keine große Hilfe, aber Reacher weiß sich natürlich auch diesmal aus der Klemme zu befreien.
 Mit „Der zweite Sohn“ lernen wir Reacher als jungen Burschen kennen, der 1974 als dreizehnjähriger Sohn eines Verbindungsoffiziers beim Marine Corps zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Joe nach Okinawa gehen muss, wo die beiden Jungen erstmals in ihrer abwechslungsreichen Schulkarriere einen Einstufungstest ablegen müssen. Während Joe versucht, in der Schule an die Fragen zu kommen, bekommt Reacher Ärger mit einem Nachbarsjungen und freundet sich mit Helen an, die auch erst seit einer Woche in Okinawa ist. Den fetten Jungen mit dem Geschwür am Hals besiegt Reacher leicht, schwerer wiegt das Problem, dass seinem Vater das Codebuch gestohlen wurde …
Drei Jahre später begibt sich Reacher während der Schulferien nach New York City, wo er in eine regelrechte „Hitzewelle“ gerät und eine Auseinandersetzung zwischen einem Mann und einer Frau auf der Straße beendet. Wie sich herausstellt, hat sich Reacher diesmal mit dem Mafioso Croselli angelegt, der sich die Demütigung, von einem gerade mal fünfzehnjährigen, wenn auch hünenhaften Jungen zurechtgestutzt zu werden, nicht auf sich beruhen lassen wird. Die Frau, der Croselli gegenüber handgreiflich geworden ist, erweist sich als suspendierte FBI-Agentin, die hofft, durch Beweise für Crosellis kriminelle Machenschaften wieder Karriere beim FBI machen zu können. In den übrigen Geschichten ist Reacher allerdings als erwachsener Ermittler zu erleben, der nicht nur einen ausgeprägten Sinn für wichtige Details und die großen Zusammenhänge unter Beweis stellt, sondern in den entscheidenden Momenten auch nicht zögert, seinem Gegner bei einer Auseinandersetzung zuvorzukommen.
„Ein kluger Mann fragte: Wann ist die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen? Ein kluger Mann antwortete: vor fünfzig Jahren. Und wann ist die beste Zeit, eine Entscheidung zu treffen? Ein kluger Mann antwortete: fünf Sekunden vor dem ersten Schlag.“ (S. 248) 
Die Qualität der Geschichten fällt dabei unterschiedlich aus. So erhellend beispielsweise die Hintergründe sind, unter denen Reacher als Sohn eines Captains des United States Marine Corps in der ganzen Welt herumgekommen ist, so nimmt man ihm doch schwer ab, dass er schon in Teenagerjahren so versiert informiert und couragiert unterwegs gewesen ist, wie Lee Child ihn in „Zweiter Sohn“ oder „Hitzewelle“ beschreibt. In „James Penneys neue Identität“ taucht Reacher sogar erst am Ende in einer Nebenrolle auf. Die kürzeren Geschichten zum Ende hin – manchmal keine zehn Seiten lang – wirken wie kleine Momentaufnahmen, die leidlich unterhaltsam sind, weil sie weder Spannung noch Stimmung aufbauen können. Dagegen bieten „Zu viel Zeit“, „Tief drinnen“ und „Kleinkriege“ genau die Art von vertrackten Rätseln, die Jack-Reacher-Fans erwarten und die ihr Held natürlich am Ende geschickt aufzulösen versteht.
Auch wenn nicht alle Storys das Qualitätsniveau eines Reacher-Romans erreichen, rechtfertigen die richtig guten unter die Lektüre von „Der Einzelgänger“.
Leseprobe Lee Child - "Der Einzelganger"

Andrew DeGraff/A.D. Jameson – „Cinemaps“

Sonntag, 9. Dezember 2018

(Heyne Encore, 160 S., großformatiges HC)
Der in Main lebende und arbeitende Illustrator Andrew DeGraff ist ein Kind der 1980er Jahre und zählt damit zur ersten Generation von Kinogängern, die ihre Lieblingsfilme immer wieder in Videotheken ausleihen und auf Videorekordern sehen konnten, wann immer ihnen danach gewesen ist. Dabei konnten sie Lieblingsszenen so oft wiederholen und analysieren, bis sie Dialoge nachsprechen konnten und die Eigenheiten der Regisseure und das Design von Raumschiffen studiert hatten. Dass aus diesen neuen „on demand“-Möglichkeiten eine Leidenschaft für das Kartographieren von Filmsets entstand, ist nur ein Teil von DeGraffs Biografie, der im Jahre 2001 seinen Abschluss am Pratt Institute in Kommunikationsdesign machte und von 2009 bis 2014 dort selbst zukünftige Illustratoren unterrichtete, bevor er ans Maine College of Art wechselte.
Die Grundlage für DeGraffs Begeisterung für das Zeichnen von Karton wurde nämlich in seiner Kindheit gelegt, als die Wände seines Zimmers mit bunten Karten aus den „National Geographic“-Ausgaben seines Vaters tapeziert wurden und seine Bettdecke mit allen Bundesstaaten und ihren Hauptstädten bedruckt war. Erst als DeGraff gebeten wurde, für ein Reisemagazin einige Landkarten zu erstellen, entdeckte er die Herausforderung, sich zum Erstellen einer Karte nicht nur mit den geografischen Fakten auszukennen, sondern auch Prioritäten setzen und gut vorausplanen zu können, damit einem die geografischen Feinheiten und die Beschriftung keinen Strich durch die Rechnung machten.
Irgendwann begann der Künstler, seine beiden Hauptinteressen für Landkarten und Filme zu verbinden, und zeichnete das Höhlensystem aus Richard Donners „Die Goonies“ und das Sommercamp aus David Wains „Wet Hot American Summer“. Als DeGraff feststellte, wie gut seine Zeichnungen bei den Leuten ankamen, wurden seine nachfolgenden Illustrationen detaillierter: Für die Karte zu Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ legte er Richtungspfeile für die Hauptfigur Roger Thornhill an, bei „Krieg der Sterne“ und „Indiana Jones“ kamen weitere, jeweils andersfarbige Pfeile für die wichtigsten Filmfiguren hinzu.
Über die Jahre sind viele weitere Karten zu Filmsets entstanden, die in diesem Jahr in der „Gallery1988“ in Los Angeles ausgestellt wurden und nun in dem Band „Cinemaps“ auch in Buchform erscheinen.
„Für mich ist jede dieser Karten das maßstabsgetreue Modell eines Blockbusters, ein Diagramm der ungefähr hundertzwanzig Minuten zwischen Vor- und Abspann. Als Zuschauer und Fans haben wir jeden Zentimeter dieser Landschaften bereist. Wir haben uns durch Wälder und den Dschungel geschlagen, wir sind zu den Planeten und Weltraumstationen geflogen. Und dennoch kehren wir immer wieder dahin zurück. Diese Karten geben uns die Möglichkeit, unsere Lieblingsfilme noch einmal aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten. Die Reise bleibt dieselbe, doch die Pfade sind neu und aufregend“, schreibt DeGraff in seinem Vorwort (S. 9). 
Für „Cinemaps“ hat er nun aus über zweihundert vorhandenen Karten fünfunddreißig ausgewählt, die sich zwar hauptsächlich auf die Blockbuster der 1970er und 1980er Jahre konzentrieren, mit denen DeGraff aufgewachsen ist, aber der großformatige Band berücksichtigt frühe Filmklassiker wie Fritz Langs „Metropolis“ (1927) und „King Kong“ von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack (1933) ebenso wie aktuellere Werke wie James Gunns „Guardians of the Galaxy“ (2014) und George Millers „Mad Max: Fury Road“ (2015).
Die mit Gouache auf Papier angefertigten Zeichnungen stellen einzigartige Kunstwerke dar, die wie gewünscht einen neuen, umfassenderen Blick auf das Filmset eines Blockbusters ermöglichen. Das reicht von dem gelb-orangenen Stadtplan zu Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ mit Bewegungspfeilen zu insgesamt siebzehn Figuren über die bunte Dschungelwelt von Steven Spielbergs „Jurassic Park“ bis zu den großartigen Naturlandschaften von Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Trilogie.
Doch „Cinemaps“ wäre nicht halb so unterhaltsam, wenn nicht der Filmwissenschaftler A.D. Jameson zu jeder der 35 Karten äußerst informative Essays zu den dazugehörigen Filmen verfasst hätte, die neben Inhaltsangaben und Entstehungsgeschichte auch einen sehr persönlichen Blick auf die Werke präsentieren.
Leseprobe "Cinemaps"

John Jay Osborn – „Liebe ist die beste Therapie“

Sonntag, 2. Dezember 2018

(Diogenes, 286 S., HC)
Steve und Charlotte sind Mitte Dreißig, haben zwei Kinder und eigentlich alles, was zu einem glücklichen Leben gehört. Allerdings sind Charlotte als Universitätsdozentin und Steve als Teilhaber einer großen Private-Equity-Firma so stark in ihren jeweiligen beruflichen Alltag eingebunden, dass die Ehe darüber zerbrochen ist. Nun leben sie seit einigen Monaten getrennt, haben das Haus, das Steve beleihen musste, um seine Teilhaberschaft zu finanzieren, für zweihunderttausend Dollar verkauft und in neue Wohnungen gezogen. Doch obwohl erst Steve und dann auch Charlotte eine außereheliche Affäre hatten, hängen sie zu sehr aneinander, um sich einfach scheiden zu lassen.
Um ihrer Ehe noch eine Chance zu ermöglichen, suchen sie die bereits zweifach geschiedene Paartherapeutin Sandy auf, die durch ihren Art der Fragestellungen tatsächlich dafür sorgt, dass sich Steve und Charlotte nach und nach die Dinge anvertrauen, die sie in der Ehe gestört haben, wie sie sich jetzt fühlen mit dem Wissen um die Affären und die Verletzungen, die sie einander zugefügt haben. Alte Gewissheiten werden hinterfragt, Vertrauen muss wiederaufgebaut werden, doch scheinen gewisse Verabredungen nicht förderlich für die schrittweise Annäherung zu sein. 
„Abmachungen sorgten für Stagnation, fand Sandy. Warum sollte man den Status quo solch einer Ehe erhalten wollen? Warum waren die beiden denn sonst hier, wenn nicht, um gründlich etwas zu ändern?“ (S. 67) 
Gleich mit seinem ersten Roman „The Paper Chase“ (1971) hat der US-amerikanische Anwalt, Jura-Professor und Autor John Jay Osborn einen Bestseller veröffentlicht, der 1973 erfolgreich mit Timothy Bottoms und dem für seine Darstellung Oscar-prämierten John Houseman verfilmt worden ist. Bis 1981 veröffentlichte Osborn drei weitere Romane. Nachdem er auch Drehbücher für Fernsehserien und -filme wie die Serien-Adaption von „The Paper Chase“, „L.A. Law“ und „Spenser: For Hire“ geschrieben hatte, legt er nach vielen Jahren mit „Liebe ist die beste Therapie“ wieder einen Roman vor, der sich wie ein äußerst intimes Kammerspiel liest.
Die Handlung spielt sich nämlich nur in der Praxis von Paartherapeutin Sandy ab. Ereignisse wie ein Wochenende, das Steve beispielsweise mit seiner privaten Kochlehrerin Gabriella verbringt, werden dann erst im Nachhinein während der Therapiesitzungen aufgearbeitet. Auffällig ist nur der grüne Sessel im viktorianischen Stil, der so gar nicht zu der übrigen Einrichtung passt, aber im Verlauf der Therapie eine immer wichtigere Rolle spielt.
Doch die eigentliche Spannung bezieht der Roman aus der Frage, ob es Steve und Charlotte gelingt, mehr aus der Chance von 1 zu 1000 herauszuholen, ihre Ehe retten zu können. Hier sorgt Sandy mit teils überraschenden, nachbohrenden und teilweise provozierenden Fragen dafür, dass sich ihre Patienten ihrer wahren Gefühle bewusst werden und diese auch so kommunizieren. Denn sehr schnell wird klar, dass weder materielle Nöte, noch zu wenig Liebe zur Trennung geführt haben, sondern eine fehlerhafte Kommunikation. Wie sich Steve und Charlotte unter professioneller Anleitung miteinander unterhalten und dabei ganz neue Erkenntnisse gewinnen und Veränderungen im eigenen Verhalten ebenso wie in dem des Gegenübers wahrnehmen, macht „Liebe ist die beste Therapie“ durchaus lesenswert, ist aber in erster Linie für diejenigen interessant, die auch mal an diesem Punkt einer Beziehung standen. Davon abgesehen gelingt es Osborn sehr gut, seine Figuren allein durch die Gesprächskultur, die er in Sandys Praxis entwickelt, zu charakterisieren, allerdings ist in diesem Rahmen die Entwicklung der Figuren auch vorhersehbar, der Spannungsbogen entsprechend moderat ausgefallen.
Leseprobe John Jay Osborn - "Liebe ist die beste Therapie"