Neil Gaiman – „Der Ozean am Ende der Straße“

Samstag, 22. Dezember 2018

(Eichborn, 238 S., HC)
Anlässlich einer Beerdigung kehrt ein Mann in mittleren Jahren in seine Heimatstadt zurück und fährt nach dem Gottesdienst ziellos durch die Gegend, bis er zu seinem Elternhaus gelangt, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Doch da er kaum Erinnerungen an seine Jugend hat, zieht es den Heimkehrer weiter bis hinaus zum Gehöft der Hempstocks, wo er von der alten Mrs. Hempstock begrüßt wird, die ihm schon als Kind warme Milch direkt von den Kühen zu trinken gegeben hatte.
Hier holen ihn dann doch die Erinnerungen ein: Nach seinem siebten Geburtstag, zu dem keines der eingeladenen Kinder gekommen ist, leiden seine Eltern unter Geldmangel und müssen das kleine Zimmer vermieten, in dem der Junge bislang lebte. Doch nicht nur die wechselnden Bewohner des vermieteten Zimmers hinterlassen einen Eindruck bei dem Jungen, auch die Tatsache, dass eines Tages das Auto seines Vaters am Ende der Straße von der Polizei gefunden wird, mit der Leiche des aktuellen Untermieters auf dem Rücksitz. Um nicht länger dem grausigen Anblick ausgesetzt zu sein, verbringt der Junge den Tag bei den Hempstocks und lässt sich von der elfjährigen Lettie ihren Ozean zeigen, der eigentlich nur ein kleiner Ententeich ist. Zu gern würde der Junge den Rest seines Lebens bei Lettie und in ihrer magischen Welt leben, zumal die hübsche Haushaltshilfe Ursula Monkton, die seine Mutter engagiert hat, als sie eine Anstellung als Apothekerin findet, sein Leben zur Hölle macht. Nur Lettie scheint zu erkennen, um was es sich bei der Frau in Wirklichkeit handelt …
„Ich vertraute Lettie, wie ich ihr schon vertraut hatte, als wir uns unter dem orangen Himmel auf die Suche nach dem flatternden Ding begeben hatten. Ich glaubte an sie, und das bedeutete, dass mir nichts passieren würde, solange ich mit ihr zusammen war. Das wusste ich, so wie ich wusste, dass Gras grün war, dass Rosen spitze Dornen hatten und dass Frühstücksflocken süß waren.“ (S. 153) 
Eigentlich wollte Neil Gaiman („Niemalsland“, „Coraline“) nur eine Kurzgeschichte über den Mann, der sich in dem Auto des Vaters des Ich-Erzählers umgebracht hatte, und die Familie Hempstock schreiben, doch beim Schreiben wuchs die Geschichte zu einem märchenhaften Roman aus, der einmal mehr demonstriert, wie real der Autor selbst die ungewöhnlichsten Ereignisse zu erwecken versteht. „Der Ozean am Ende der Straße“ ist zwar aus der Sicht des mittlerweile zu einem Erwachsenen gereiften Mannes geschrieben, dessen Ehe seit einem Jahrzehnt gescheitert ist und dessen erwachsenen eigenen Kinder aus dem Haus sind, aber die geschilderten Erinnerungen sind maßgeblich von den Eindrücken eines siebenjährigen Junges geprägt, der in der vier Jahre älteren Lettie eine ganz besondere Freundin findet und deren Mutter und Großmutter über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen.
Es ist eine einfühlsame, bewegende und spannende Geschichte über die Macht von Freundschaft und Vertrauen, über den ewigen Kampf guter Geister gegen böse Mächte und natürlich über die Kraft der Phantasie.
Leseprobe Neil Gaiman - "Der Ozean am Ende der Straße"

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