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Les Edgerton – „Der Vergewaltiger“

Dienstag, 13. September 2022

(Pulp Master, 158 S., Tb.) 
Der 1943 geborene US-Amerikaner Les Edgerton weiß in etwa, wovon er schreibt, wenn er den Ich-Erzähler seines 2013 erschienenen Kurzromans „The Rapist“ seinen Alltag im Gefängnis reflektiert. Edgerton hat nämlich selbst zwei Jahre im berüchtigten Pendleton Reformatory wegen Einbruchs, bewaffneten Raubüberfalls und versuchter Hehlerei abgesessen. Dass er mit seinen verstörenden, von Autoren wie Charles Willeford, Jim Thompson und Charles Bukowski inspirierten Romanen in Deutschland zuvor keine verlegerische Heimat gefunden hat, mag nicht überraschen, wenn man „Der Vergewaltiger“ liest. Frank Nowatzki hat seinen Verlag nicht von ungefähr Pulp Master genannt, schließlich finden bei ihm auch Bücher und Autoren Berücksichtigung, die im herkömmlichen Literaturbetrieb gern als „Schund“ bezeichnet werden. 
Truman Ferris Pinter sitzt im Todestrakt eines Gefängnis und hat nur noch Stunden zu leben. Er wurde wegen der Vergewaltigung und des Mordes der aufreizenden jungen Dame namens Greta Carlisle für schuldig gesprochen, die er von der Bar kannte, in die er regelmäßig eingekehrt ist. Ein Tag vor dem Verbrechen, so berichtet Pinter, habe er sie im naheliegenden Wald dabei beobachtet, wie sie es genüsslich mit drei jungen Männern trieb. Am Tag darauf ging Pinter angeln. Da ihm sein Vater ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hat, war er nie gezwungen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit vor allem damit, sparsam mit seinem Erbe umzugehen, viel zu lesen, ein wenig zu schreiben, angeln zu gehen und ab und zu ein Bierchen in Joe’s Tavern zu trinken. An dem Tag des Verbrechens hatte Pinter an einem sonnigen Julimorgen bereits zwei Stunden geangelt, als ihm Greta über den Weg läuft. Dass sie ihn damit aufzieht, dass er „alte Kackfresse“ genannt wird, lässt Pinter alle gute Manieren vergessen. 
Er gibt in der Gerichtsverhandlung später freimütig zu, sie vergewaltigt zu haben, doch umgebracht habe er sie nicht. Stattdessen sei sie auf der Flucht vor ihm ausgerutscht, mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen und schließlich im Fluss ertrunken. Freilich habe Pinter keine Anstalten unternommen, sie zu retten. Pinter berichtet von seinem eintönigen, aber geregelten Alltag im Gefängnis, von „Mr. Timex“, der ihn stündlich über die ihm noch verbleibenden Stunden informiert, entwickelt aber schon einen ungewöhnlichen Fluchtplan. Schon als Kind hatte er zu „fliegen“ gelernt, und die Zeit im Gefängnis nutzt er, die alte Technik wieder zu trainieren, um im entscheidenden Moment seinen Körper zu verlassen und unbemerkt zu entschweben… 
„Ich fühle mich stark, selbstsicher. Ich bin dem perfekten Flug so nah, dass ich das Erreichen meines Zieles förmlich fühlen kann. Ich konzentriere mich, gleite hinein in den Teil meines Verstandes, der dieses Phänomen ermöglicht. Meine Umgebung verblasst, tritt in den Hintergrund. Ich reinige mein Bewusstsein, reguliere den Atem. Mein Körper macht sich davon und ich…“ (S. 95) 
Bereits mit den ersten beiden Sätzen outet sich der Ich-Erzähler als Lügner, Frevler, Wahrheitsschänder und Heuchler. Seiner Erzählung ist also nur sehr eingeschränkt Glauben zu schenken. Das trifft natürlich in erster Linie auf das verübte Verbrechen zu. Da wir nur Pinters Version der Geschichte präsentiert bekommen, lässt sich nicht verifizieren, ob sein Opfer tatsächlich durch einen Unfall umgekommen ist. Doch Edgerton und sein durch und durch unsympathischer Protagonist lassen dem Leser keinen Raum für Perspektivwechsel. Stattdessen zieht Pinter sein Publikum mit seinem philosophischen Geschwätz in den Bann, das auf den ungeschönten Bericht der Vergewaltigung folgt. Der Todeskandidat macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegen die christliche Religion und dumme Menschen, die ihr Leben vergeuden. Pinter schafft sich schließlich seine eigene Realität, seinen eigenen Mechanismus, die Eintönigkeit des Gefängnisalltags zu verarbeiten und im Geist einen Ausweg aus der kurz bevorstehenden Ausübung des Todesurteils. 
Besonders erquicklich ist das nicht zu lesen. Ekkehard Knörer geht in seinem informativen Nachwort vor allem auf die Nähe zu John William Dunne ein, von dem ein Zitat dem Buch vorangestellt ist, der sich in seinem Werk auch mit präkognitiven Traumerlebnissen beschäftigt hat. 
„Der Vergewaltiger“ liest sich wie ein verschrobenes Manifest eines höchst gebildeten, aber auch exzentrischen Menschenfeinds, der seine eigene Methode gefunden hat, sich seine eigene Wirklichkeit zu bauen. Das ist sicher verstörend, aber nicht unbedingt große Literatur.