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Steven Price – „Der letzte Prinz“

Mittwoch, 4. November 2020

(Diogenes, 366 S., HC) 
Guiseppe Tomasi ist der kinderlose letzte Spross des alten sizilianischen Adelsgeschlechts der Lampedusa. Nichts ist mehr da von dem alten Glanz der Palazzi, des Reichtums und der Würde. Seine Tage verbringt der knapp Sechzigjährige damit, durch die Straßen zu ziehen und unersättlich Bücher auf Italienisch, Französisch und Englisch zu verschlingen, was ihm schon als Kind den Spitznamen Il Monstro einbrachte. Als er seinen Arzt Dr. Coniglio aufsucht, konfrontiert dieser den Kettenraucher mit der Entdeckung eines Lungenemphysems, das zwar nicht heilbar, aber doch aufzuhalten wäre, würde Guiseppe wenigstens mit dem Rauchen aufhören. 
Doch der todkranke Mann beschließt, weder mit dem Rauchen aufzuhören, noch seiner ebenso klugen wie schönen Frau etwas zu sagen, der lettischen Baronesse Alessandra von Wolff-Stomersee, die in Berlin und in Wien bei Freud Psychoanalyse studiert hatte und Mitbegründerin und Präsidentin der Psychoanalytischen Gesellschaft war. Stattdessen reift in ihm ein kühner Plan: Um etwas Bleibendes zu schaffen, will er einen Roman schreiben. Drei Jahre benötigt er für „Der Leopard“, der zunächst von den renommierten italienischen Verlagen Mondadori und Einaudi abgelehnt wurde, später aber zum meistverkauften Buch des 20. Jahrhunderts in Italien, in über 20 Sprachen übersetzt und von Luchino Visconti mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon verfilmt wurde. 
„Dass das Geschlecht der Lampedusa so restlos ausgelöscht werden würde, betrübte ihn. Sein Urgroßvater hatte neun Kinder hervorgebracht. Und er war jetzt der Letzte. Mitten in der Verschwendung und Verwirrung eines untergehenden Zeitalters war er in ein ebenfalls vom Niedergang betroffenes Geschlecht hineingeboren, und bald würde eine neue Art von Aristokratie vorherrschen, ein Adel des Geldes und der Privilegien, der den Wert des Neuen im Blick hatte.“ (S. 340) 
Bereits mit seinem 2019 bei Diogenes veröffentlichten Roman „Die Frau in der Themse“ ist dem kanadischen Schriftsteller Steven Price ein atmosphärisch dichter Roman gelungen, der das viktorianische London in allen seinen Facetten abzubilden verstand. Mit seinem neuen Werk „Der letzte Prinz“ bewegt er sich in die etwas verloren wirkende Region Siziliens, das sich nie so wirklich der italienischen Republik zugehörig fühlte und stets nach Unabhängigkeit strebte. Die Geschichte beginnt im Januar 1955 mit dem erschütternden Arztbesuch, worauf Guiseppe Tomasi seine Gedanken und Erinnerungen – durchaus sprunghaft – schweifen lässt, zu den Reisen nach Lettland, wo er die Liebe von Alessandra „Licy“ von Wolff-Stomersee gewann, zum schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter, die an Mussolini geglaubt, aber seine Frau abgelehnt hatte, zu seinem Wirken in den literarischen Zirkeln und dem Hadern mit seinem eigenen Roman. 
Steven Price hat offenbar sorgfältig recherchiert und einen Ton in seiner Sprache gefunden, der die Leserschaft oft genug in den Bann schlägt, so überzeugend ist die Zeitreise und das sehr persönliche Portrait von Guiseppe Tomasi di Lampedusa gelungen. Es ist aber auch sehr „altmodische“ Geschichte, die Price hier vorlegt, was einer der in den Ablehnungsschreiben erwähnten Gründe gewesen ist, warum „Der Leopard“ schwer an ein Publikum zu vermitteln wäre. 
„Der letzte Prinz“ ist beileibe keine leichte Lektüre, sondern ein sprachlich wunderbar ausgestaltetes, in seiner Sprunghaftigkeit und atmosphärischen Authentizität aber auch etwas sprödes Werk, auf das man sich einlassen können muss. Wer diese Hürde aber erst einmal genommen hat, wird posthum Zeuge nicht nur der Entstehung eines literarischen Klassikers, sondern auch dem schleichenden Niedergang eines alten Adelsgeschlechts. 

Steven Price – „Die Frau in der Themse“

Dienstag, 8. Oktober 2019

(Diogenes, 916 S., HC)
Mit nicht mal vierzig Jahren hat William Pinkerton, Sohn des berühmten amerikanischen Detektivs Allan Pinkerton, bereits dreiundzwanzig Männer und einen Jungen erschossen. Sein gefürchteter Vater war vor sechs Monaten gestorben, während er selbst vor sechs Wochen die amerikanische Heimat verlassen hat, um 1885 im verhassten London nach Ben Porter, einem Agenten seines Vaters, zu suchen. Porter war jahrelang im Auftrag von Pinkertons Vater hinter dem berüchtigten Dieb Edward Shade her, ohne auch nur die geringste Spur zu finden. Als Pinkerton eine Frau namens Charlotte Reckitt verhören wollte, die vor zehn Jahren Shades Komplizin gewesen war, ist sie nach einer langen Verfolgungsjagd auf der Blackfriars Bridge in den Fluss gesprungen.
Während er mit Scotland-Yard-Chief-Inspector John Shore weiter nach Shade fahndet, ist auch Adam Foole dem Ruf nach London gefolgt, weil ihn Charlotte Reckitt, seine große Liebe, um Hilfe gebeten hatte. Als Kopf, Torso und Beine einer jungen Frau gefunden werden, machen sich Pinkerton und Shore auf der einen Seite, Shade und seine recht Hand Foole auf der anderen Seite auf die Jagd nach ihrem vermeintlichen Mörder. Die Besessenheit, mit der beide Parteien das Geheimnis von Charlotte Rickett zu lösen versuchen, lässt die Wege von Pinkerton und Shade zwangsläufig miteinander kreuzen, aber die Begegnung wartet mit einigen Überraschungen auf, vor allem für Pinkerton, dessen Vater bereits von Edward Shade besessen war.
„Sein Vater wollte Shade nicht presigeben, wollte das köstliche Rätselraten um Shades Existentz geheim und für sich behalten. Als sein Vater gebrechlicher wurde, saß er gern mit wackelndem Kopf inmitten der Blumen im Garten, William schwieg neben ihm und beobachtete, wie die Bienen von Rose zu Rose flogen. Und manchmal kam es ihm vor, als würde noch ein Dritter neben ihnen sitzen, ein Gespenst, auf dem der Blick seines Vaters von Zeit zu Zeit ruhte.“ (S. 340) 
Der kanadische Lyriker und Autor Steven Price feiert mit „Die Frau in der Themse“ sein Debüt in der deutschen Literaturwelt, nachdem sein erster Gedichtband „The Anatomy of Keys“ (2006) mit dem Gerald Lampert Award ausgezeichnet wurde und sein Romandebüt „Into That Darkness“ 2011 erschienen war. Sein zweiter Roman „By Gaslight“, der nun in deutscher Erstübersetzung bei Diogenes vorliegt, präsentiert Price ein über 900 Seiten umfassendes Epos, das im viktorianischen England kurz vor dem mörderischen Treiben von Jack the Ripper angesiedelt ist und vordergründig als Detektivroman angelegt ist. Doch die beharrliche Suche des berühmten Detektivs William Pinkterton nach der schattenhaften Gestalt von Edward Shade bildet nur den Rahmen einer viel komplexeren Geschichte, in der es um Familie, Liebe, Täuschung, Verrat und Identität geht und deren Handlung zwar überwiegend 1885 in London angesiedelt ist, darüber hinaus aber immer wieder zwischen Amerika, Südafrika und Europa, zwischen 1862 und 1917 hin- und herspringt.
Dazu werden die Kapitel abwechselnd aus der Perspektive des Meisterdetektivs und des Meisterdiebes geschrieben, so dass es nicht immer leicht fällt, die Übersicht zu behalten. Zum Glück beschränkt sich der Autor auf ein für die abgedeckten Jahre und Kontinente überraschend überschaubares Figurenensemble und füllt sie Seiten dafür mit den Inneneinsichten und Dialogen seiner Hauptfiguren und mit der anschaulich detaillierten Milieubeschreibung. Wie Adam Foole und William Pinkerton Katz und Maus miteinander spielen, ist geschickt inszeniert, wartet mit unzähligen interessanten Wendungen auf und ist doch etwas ausufernd geraten.
So sehr „Die Frau in der Themse“ durch die ausführlichen Beschreibungen an atmosphärischer Dichte gewinnt, leidet die Dramaturgie ein wenig unter den immerwährenden Zeitsprüngen, Ortswechseln und Perspektivänderungen, aber nichtsdestotrotz bietet das historische Drama fein gesponnene Unterhaltung mit bemerkenswerten Charakteren.
Leseprobe Steven Price - "Die Frau in der Themse"