(Diogenes, 480 S., HC)
Der britische, bereits mit (fast) allen bedeutenden
literarischen Würden ausgezeichnete Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“,
„Der Zementgarten“, „Kindeswohl“, „Maschinen wie ich“, „Lektionen“) hat
seit jeher grandios verstanden, universelle Themen in Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft zu verorten und so seinem Publikum einen vielsagenden Ausblick aus
unterschiedlichsten Perspektiven auf das zu gewähren, was uns alle mehr oder
weniger bewegt. In seinem neuen Roman „Was wir wissen können“ gelingt McEwan
das Kunststück, ein mysteriöses Gedicht in den Fokus einer Geschichte über
Literatur, Liebe, Mord und vor allem wilde Spekulationen zu stellen, die in der
Zukunft anfängt, tief in die Vergangenheit reicht und schließlich in der
Gegenwart mündet.
Der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe ist im Jahr
2119 damit beschäftigt, ein berühmtes, aber verschollenes Gedicht des berühmten
Dichters Francis Blundy namens „Ein Sonettenkranz für Vivien“ ausfindig zu
machen, das nur einmal bei einer Veranstaltung im Jahr 2014 vorgetragen worden,
aber nie veröffentlicht worden ist. Dabei sollen ihm vor allem die Tagebücher
seiner Frau Vivien weiterhelfen, die in der Bodleian-Snowdonia-Bibliothek
aufbewahrt werden. Doch schon das Reisen innerhalb Englands wird zum Abenteuer.
KI war nicht ganz unschuldig daran, dass in der Vergangenheit mehrere
Atomkriege, die daraus entstehenden Tsunamis im Zusammenspiel mit dem
Klimawandel dafür gesorgt haben, dass große Teile der Erde unter Wasser gesetzt
wurden, Städte wie London und Hamburg gänzlich verschwanden, in den USA
Warlords und marodierende Banden die Herrschaft übernommen haben und England
selbst nur noch ein Archipel aus mehreren kleinen Inseln darstellt. Metcalfe,
dessen Spezialgebiet die Literatur der Jahre 1990 bis 2030 ist, hat bereits
alle verfügbaren Nachrichten, Aufzeichnungen und Dokumente zu diesem ominösen
Gedicht gesichtet, das vielerlei Deutungen erfahren hat. Um seine wahre
Bedeutung zu verstehen, sieht Metcalfe keine andere Möglichkeit, das Gedicht
aufzufinden.
„Vivien hatte Lyrik zu sehr geliebt, sie hätte dieses Gedicht nie dem Vergessen überlassen. Es war irgendwo, und ich würde es finden. Der Sonettenkranz lag bestimmt in einer Schachtel auf den Regalen einer kleinen Bibliothek fünfhundert Meter hoch im Nordwesten Schottlands. Allein meine Feigheit stand mir im Weg.“ (S. 158)
Im ersten Teil seines – hoffentlich nicht allzu
prophetischen – Romans beschreibt McEwan aus der Perspektive des
Literaturwissenschaftlers Thomas Metcalfe nicht nur die verschiedenen Deutungen
des verschollenen Gedichts, sondern auch die verstörenden Entwicklungen, die
vom 21. bis ins 22. Jahrhundert für ein ganz anderes Weltbild gesorgt haben.
Dazu gehören die nachhaltig zerstörerischen Naturkatastrophen ebenso wie die
Annexion der noch aus dem Wasser ragenden Rest Europas durch Russland und
Nigerias Vormachtstellung auf technologischem Gebiet.
Virtuos verbindet McEwan
beängstigende, aber nicht allzu weltfremde Entwicklungen auf der Erde während
der kommenden hundert Jahre mit einer detektivischen Suche nach einem Gedicht,
das gleichermaßen als Naturverehrung, Liebeserklärung und einen verklausulierten
Mord angesehen worden ist. Dabei unterläuft er gekonnt die Illusion, dass eine
noch so intensive und gewissenhafte Recherche zu einem (geschichtlichen) Thema
irgendeine gesicherte Erkenntnis hervorbringen könnte.
Das manifestiert sich vor
allem im zweiten Teil des Romans, wenn Vivien in der Gegenwart berichtet, wie
sich ihre Beziehungen zu Percy, Harry und Francis entwickelt haben und welche
Rolle dabei das einmal vorgetragene Gedicht gespielt hat. So lässt sich der
vielsagende Titel „Was wir wissen können“ natürlich auch auf unsere durch
Social Media, Fake News und Kanäle wie Truth Social und Telegram geprägte
Wahrnehmung und Deutung der „Wirklichkeit“ übertragen.
McEwan hat diese
Auseinandersetzung mit der Zeit und überlieferten Schriften – und sei es nur
als SMS oder E-Mail – in eine kühne Mischung aus detektivischem Abenteuerroman,
beunruhigender Science-Fiction und vielschichtigem Liebesroman gegossen und einen
spannenden, nachdenklich stimmenden Pageturner geschaffen.
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