Ian McEwan – „Was wir wissen können“

Dienstag, 30. September 2025

(Diogenes, 480 S., HC)
Der britische, bereits mit (fast) allen bedeutenden literarischen Würden ausgezeichnete Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Zementgarten“, „Kindeswohl“, „Maschinen wie ich“, „Lektionen“) hat seit jeher grandios verstanden, universelle Themen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu verorten und so seinem Publikum einen vielsagenden Ausblick aus unterschiedlichsten Perspektiven auf das zu gewähren, was uns alle mehr oder weniger bewegt. In seinem neuen Roman „Was wir wissen können“ gelingt McEwan das Kunststück, ein mysteriöses Gedicht in den Fokus einer Geschichte über Literatur, Liebe, Mord und vor allem wilde Spekulationen zu stellen, die in der Zukunft anfängt, tief in die Vergangenheit reicht und schließlich in der Gegenwart mündet.
Der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe ist im Jahr 2119 damit beschäftigt, ein berühmtes, aber verschollenes Gedicht des berühmten Dichters Francis Blundy namens „Ein Sonettenkranz für Vivien“ ausfindig zu machen, das nur einmal bei einer Veranstaltung im Jahr 2014 vorgetragen worden, aber nie veröffentlicht worden ist. Dabei sollen ihm vor allem die Tagebücher seiner Frau Vivien weiterhelfen, die in der Bodleian-Snowdonia-Bibliothek aufbewahrt werden. Doch schon das Reisen innerhalb Englands wird zum Abenteuer. KI war nicht ganz unschuldig daran, dass in der Vergangenheit mehrere Atomkriege, die daraus entstehenden Tsunamis im Zusammenspiel mit dem Klimawandel dafür gesorgt haben, dass große Teile der Erde unter Wasser gesetzt wurden, Städte wie London und Hamburg gänzlich verschwanden, in den USA Warlords und marodierende Banden die Herrschaft übernommen haben und England selbst nur noch ein Archipel aus mehreren kleinen Inseln darstellt. Metcalfe, dessen Spezialgebiet die Literatur der Jahre 1990 bis 2030 ist, hat bereits alle verfügbaren Nachrichten, Aufzeichnungen und Dokumente zu diesem ominösen Gedicht gesichtet, das vielerlei Deutungen erfahren hat. Um seine wahre Bedeutung zu verstehen, sieht Metcalfe keine andere Möglichkeit, das Gedicht aufzufinden.

„Vivien hatte Lyrik zu sehr geliebt, sie hätte dieses Gedicht nie dem Vergessen überlassen. Es war irgendwo, und ich würde es finden. Der Sonettenkranz lag bestimmt in einer Schachtel auf den Regalen einer kleinen Bibliothek fünfhundert Meter hoch im Nordwesten Schottlands. Allein meine Feigheit stand mir im Weg.“ (S. 158)

Im ersten Teil seines – hoffentlich nicht allzu prophetischen – Romans beschreibt McEwan aus der Perspektive des Literaturwissenschaftlers Thomas Metcalfe nicht nur die verschiedenen Deutungen des verschollenen Gedichts, sondern auch die verstörenden Entwicklungen, die vom 21. bis ins 22. Jahrhundert für ein ganz anderes Weltbild gesorgt haben. Dazu gehören die nachhaltig zerstörerischen Naturkatastrophen ebenso wie die Annexion der noch aus dem Wasser ragenden Rest Europas durch Russland und Nigerias Vormachtstellung auf technologischem Gebiet. 
Virtuos verbindet McEwan beängstigende, aber nicht allzu weltfremde Entwicklungen auf der Erde während der kommenden hundert Jahre mit einer detektivischen Suche nach einem Gedicht, das gleichermaßen als Naturverehrung, Liebeserklärung und einen verklausulierten Mord angesehen worden ist. Dabei unterläuft er gekonnt die Illusion, dass eine noch so intensive und gewissenhafte Recherche zu einem (geschichtlichen) Thema irgendeine gesicherte Erkenntnis hervorbringen könnte. 
Das manifestiert sich vor allem im zweiten Teil des Romans, wenn Vivien in der Gegenwart berichtet, wie sich ihre Beziehungen zu Percy, Harry und Francis entwickelt haben und welche Rolle dabei das einmal vorgetragene Gedicht gespielt hat. So lässt sich der vielsagende Titel „Was wir wissen können“ natürlich auch auf unsere durch Social Media, Fake News und Kanäle wie Truth Social und Telegram geprägte Wahrnehmung und Deutung der „Wirklichkeit“ übertragen.  
McEwan hat diese Auseinandersetzung mit der Zeit und überlieferten Schriften – und sei es nur als SMS oder E-Mail – in eine kühne Mischung aus detektivischem Abenteuerroman, beunruhigender Science-Fiction und vielschichtigem Liebesroman gegossen und einen spannenden, nachdenklich stimmenden Pageturner geschaffen.

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