Stephen King – „Dolores“

Sonntag, 14. September 2025

(Hoffmann und Campe, 352 S., HC)
Seit Stephen King 1987 mit „Sie“ sein bevorzugtes Terrain – übernatürlichen Horror in das Leben von ganz gewöhnlichen Menschen einziehen zu lassen – verlassen hat und mit Annie Wilkes eine psychopathische Krankenschwester ihren Lieblingsschriftsteller drangsalieren ließ, hat der „King of Horror“ immer wieder mal auf klassische Gruselelemente und Topoi der fantastischen Literatur verzichtet, um einfach das Grauen in den Fokus seiner Erzählungen zu rücken, den Menschen anderen Menschen antun, so auch in Kings 1992 veröffentlichten Roman „Dolores“, der zwei Jahre später mit „Misery“-Hauptdarstellerin Kathy Bates und Jennifer Jason Leigh erfolgreich verfilmt worden ist.
Die fünfundsechzigjährige Haushälterin Dolores Claiborne hat ihr ganzes Leben auf der Insel Little Tall vor der Küste Maines im Norden von Neuengland verbracht. Als ihre Arbeitgeberin Vera Donovan bei einem Sturz von der Treppe ums Leben kommt, wird Dolores verdächtigt, sie getötet zu haben. Schließlich wurde an der Treppe nicht nur Dolores‘ Unterrock, sondern auch ein Nudelholz gefunden. Außerdem konnte Dolores nie den Verdacht ausräumen, dass sie bereits ihren Mann Joe St. George umgebracht haben soll, von dem bekannt war, dass er seine Familie drangsalierte. Als Dolores zum Verhör bei Andy Bissette und Frank Proulx ins Polizeirevier geladen wird, überrascht sie die Cops mit dem Geständnis, ihre Arbeitgeberin nicht getötet zu haben, wohl aber ihren Ehemann. Wie es zu beiden Todesfällen gekommen ist, erzählt Dolores in einem langen Monolog. Sie beginnt damit, dass Joe und sie drei Kinder in die Welt gesetzt haben. Als Joe 1963 starb, war Selena fünfzehn, Joe Junior dreizehn und Little Pete neun Jahre alt. Dolores betrachtete Joe nie als Mann, sondern eher als Mühlstein. Er war ein Taugenichts, ständig betrunken und verspielte ein Großteil des Geldes, das Dolores seit 1950 bei den Donovans verdiente, beim Pokern. Das weitaus Schlimmste war jedoch, dass er Dolores körperlich wie psychisch misshandelte, bis sie dem ein Riegel vorschob, was aber nur dazu führte, dass sich Joe an Selena zu vergreifen begann. Als Dolores von dieser Ungeheuerlichkeit erfuhr, reifte der Plan, ihn für immer aus dem Verkehr zu ziehen, und der Plan reifte nach einem Gespräch mit Vera und den Feierlichkeiten zu der bevorstehenden Sonnenfinsternis.

„Wenn du es hier und jetzt tun würdest, dann würdest du es nicht für Selena tun. Du würdest es auch nicht für die Jungen tun. Du würdest es tun, weil all dieses Betatzen und Begrapschen drei Monate lang oder noch länger vor deiner Nase passiert ist und du zu blöd warst, es zu bemerken. Wenn du ihn umbringst und dafür ins Gefängnis gehst und deine Kinder nur an den Sonntagnachmittagen siehst, dann solltest du auch wissen, weshalb du es tust: nicht, weil er sich an Selena vergriffen, sondern weil er dich zum Narren gehalten hat.“ (S. 132)

Stephen King ist nicht nur ein Meister der Kurzgeschichte (wie er in vielen Sammlungen wie „Blut“, „Im Kabinett des Todes“, „Nachtschicht“ und „Alpträume“ bewiesen hat) und der Kurzromane („Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, „Langoliers“, „Nachts“), sondern hat auch für seine Romane immer wieder neue Erzählformen gefunden. So hat er „Dolores“ als 350-seitigen Monolog der titelgebenden Protagonistin angelegt, die ohne Pause – also ohne die übliche Einteilung in Kapitel – von ihrem Leben mit ihrer Familie und bei Vera Donovan erzählt – und natürlich davon, wie es aus ihrer Sicht zu den beiden Todesfällen gekommen ist. Indem wir nur die Sichtweise von Dolores geschildert bekommen, darf man sich nicht allzu sicher sein, ob wir auch die Wahrheit erfahren, aber Stephen King hat seine Protagonistin so sympathisch gezeichnet, dass es einem schwerfällt, ihren Worten nicht zu glauben. 
Wie später auch in „Das Bild – Rose Madder“ präsentiert „Dolores“ das Portrait einer Frau, die ihr Leben lang unter der Gewalt ihres Mannes zu leiden hatte und sich dennoch nicht davon unterkriegen ließ, stattdessen eine Entscheidung traf, die den schädlichen Einfluss auf ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder für immer außer Gefecht setzen sollte. 
Dolores ist sich allerdings schmerzlich bewusst, dass ihr Verhalten nicht nur ihr Ansehen auf der Insel, sondern auch die Einstellung ihrer Kinder zu ihr verändert hat. Auch wenn die Rahmenhandlung nur auf dem Polizeirevier stattfindet, wird die Leserschaft durch die lebhafte Darstellung der Erzählerin auch zu den Schauplätzen auf der Insel, vornehmlich Dolores‘ Zuhause und Vera Donovans Anwesen, gelenkt, und die erinnerten Gespräche, die Dolores mit ihrem Mann, ihrer Tochter und Vera geführt hat, sorgen zusätzlich für ein vielschichtiges, lebendiges und vor allem fesselndes Bild des Lebens in den 1960er Jahren, als Frauen noch nicht das Standing hatten wie heutzutage. 

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