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John Banville – „Singularitäten“

Sonntag, 10. Dezember 2023

(Kiepenhauer & Witsch, 432 S., HC) 
Bereits mit seinem dritten, 1976 veröffentlichten Roman „Doctor Copernicus“ setzte sich der mittlerweile 78-jährige irische Schriftsteller und Literaturkritiker John Banville mit dem Leben und der Arbeit von Wissenschaftlern auseinander, was er in folgenden Werken wie „Kepler“, „Newtons Brief“, „Das Buch der Beweise“ oder „Athena“ fortsetzte. Mit seinem neuen Roman erweist sich der Ire einmal mehr als eigensinnige Stimme, der das Erbe seiner berühmten Landsmänner Samuel Beckett und James Joyce selbstbewusst auf seinen Schultern trägt und mit seiner verschachtelten Erzählung geschickt zwischen Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit laviert. 
An einem windigen Aprilmorgen wird der wegen Mordes lebenslänglich verurteilte Freddie Montgomery aus dem Gefängnis entlassen und mietet sich einen Wagen, um an die Stätte seines Verbrechens zurückzukehren, doch hat sich einiges verändert. 
Freddie Montgomery behält zwar seine Initialen, benennt sich aber in Felix Mordaunt um, und was ihm einst als Coolgrange House bekannt war, heißt jetzt Arden House und wird von der Familie des bereits verstorbenen Wissenschaftlers Adam Godley bewohnt, der nicht nur mit Montgomerys Frau schlief, sondern durch seine von ihm entwickelte sogenannte Brahma-Theorie zu einer Größe unter den Metamathematikern avancierte. Als er sich der fast vierzigjährigen ehemaligen Schauspielerin Helen Godley vorstellt, verrät er ihr, dass er vor langer Zeit in diesem Haus geboren worden sei, doch bringt sie seinen Namen nicht mit den Blounts in Verbindung, die Arden House gebaut haben. 
Irgendwie gelingt Mordaunt es, hier sein Lager aufzuschlagen, im Haus von Adam Godley Jr., seiner Frau Helen und der alternden Haushälterin Ivy Blount. Als Godley Jr. den etwas abgehalfterten Wissenschaftler William Jaybey, Autor von „Die Macht der Schwerkraft: Isaac Newton und seine Zeit“ und Professor am Arcady College, engagiert, um die Biografie seines berühmten Vaters zu schreiben, geraten die Dinge in Schieflage. 
Jaybey glaubt nicht nur, sich in Helen verliebt zu haben, sondern entwickelt bei der Durchsicht von Godleys Briefen und Unterlagen ein Bild des Mathematikers, das so gar nicht mit dem übereinstimmt, das Godley von sich selbst der Welt präsentierte. 
„Wenn er nicht an seinem Schreibtisch saß, sondern irgendwo in der Welt unterwegs war, bekannten die Leute, sie hätten das unheimliche Gefühl, dass er da sei und gleichzeitig nicht da, hier anwesend und gleichzeitig irgendwo anders. Er genoss diese Legendenbildung sehr, förderte sie aktiv und trug häufig heimlich selbst dazu bei. In späteren Jahren machte es ihm Freude, sich als Magus zu sehen, als einen, der eingeweiht ist in Geheimnisse, als Hohepriester des Arkanums, als Zelebrant uralter Rituale in einer Bruderschaft des Einen …“ 
John Banville erweist sich bereits in den ersten Kapiteln als geübter Fabulierkünstler. Wenn er beschreibt, wie Montgomery (den Banville-Kenner bereits aus den Romanen „Das Buch der Beweise“, „Athena“ und „Geister“ kennen) das Gefängnis hinter sich lässt, um mit neuer Identität an den Ort zurückzukehren, an dem er das Dienstmädchen ermordete, wird schnell deutlich, mit welch großem Spaß er sein neues Leben zu formen versteht. 
Wer mit Banvilles sprachlicher Virtuosität noch nicht so vertraut ist, wird einige Kapitel benötigen, um von diesem komplexen Strom der Wörter mitgerissen zu werden. Doch dann entfesselt sich eine faszinierende Geschichte, in der die Persönlichkeiten, die die Handlung vorantreiben oder von ihr vorangetrieben werden, sich allesamt einer Überprüfung ihrer Existenz unterziehen müssen. Während Montgomery/Mordaunt genüsslich seine eigene Biografie erfindet, Godleys Schwiegertochter ihrer Schauspielkarriere hinterhertrauert und ihren Mann ausgerechnet mit dem Mörder betrügt, scheint nur der allwissende, gottgleiche Erzähler mehr zu wissen, was er mit großer Genugtuung seinem Publikum kundtut. Auf der anderen Seite ist Godleys Biograf sichtlich verstört von den ihn umringenden Personen und Ereignissen ebenso wie von dem Bild, das sich von seinem Studienobjekt abzeichnet. 
 Banville präsentiert sich als versierter Meister der Sprache und des Spiels mit Identitäten, die sich aus verschiedensten Quellen speisen, nicht zuletzt aus dem Erfindungsreichtum und den Sehnsüchten der Protagonisten. Je mehr man sich diesem Spiel mit realen wie fiktionalen Persönlichkeiten und ihren vielschichtigen Geschichten hingibt, desto prächtiger gestaltet sich das Lesevergnügen.