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Joachim B. Schmidt – „Ósmann“

Sonntag, 30. März 2025

(Diogenes, 288 S., HC)
Seit der in der Schweiz geborene Joachim B. Schmidt als Teenager erstmals nach Island gereist ist, hat er sich in die Insel verliebt und sich selbst versprochen, wiederzukommen, zunächst als Tourist, aber dann folgte auch ein Jahr mit Jobs in einer Gärtnerei und auf einem Bauernhof, bis er im Jahr 2007 entschied, dorthin auszuwandern. Mit seinen Erzählungen und Romanen wie „Kalmann“, „Tell“ und „Kalmann und der schlafende Berg“ hat Schmidt seit 2010 nicht nur zahlreiche Preise gewonnen, sondern auch ein feines Gespür für seine Wahlheimat entwickelt, die auch in seinem neuen Roman „Ósmann“ zum Ausdruck kommt.
Im Jahr 1862 wird Jón Magnússon Ósmann auf einem Bauernhof in Nordisland geboren, lernt von seinem Vater Magnús den Fährbetrieb und übernimmt diesen später. „Nonni“, wie er liebevoll von seinem Vater genannt wird, kommt allerdings mehr nach seiner Mutter Sigurbjörg, die ihren Mann um ein paar Daumenbreiten überragte und dafür verantwortlich sein dürfte, das Nonni ein so hünenhafter, kräftiger Mann geworden ist. Er ist ein geselliger Kerl, der gern ein Schwätzchen mit den Fahrgästen hält, sie zum Aufwärmen in seine Hütte einlädt, wo er ihnen einen Platz am Feuer, Kaffee und Robbenfleisch anbietet. An einem Sommermorgen im Jahr 1904 tritt Ósmann wie gewöhnlich splitternackt und hustend vor seine Hütte, grüßt das nebelverhangene Bergmassiv Tindastóll, die sagenumwobene Insel Drangey weit draußen im Fjord, die Eiderenten und träge dahinrauschende Gletscherwasser, um dann ins eiskalte Wasser des Ós einzutauchen, um dann den Tag damit zu verbringen, die Reisenden mit der Seilfähre über den Ós zu bringen. Doch bevor er sein eiskaltes Bad nehmen kann, bemerkt er flussaufwärts den nackten Körper einer angeschwemmten Frau. Er trägt den leblosen Körper in seine Hütte und stellt fest, dass die Frau noch lebt. Er gibt ihr zu trinken und etwas zu essen, lässt sie schlafen. Doch als er mit einem Bündel Kleider zurückkommt, ist die Frau spurlos verschwunden. Es kommen andere Frauen, die nicht wie im Märchen auftauchen und verschwinden, sie bereiten Ósmann allerdings größeren Kummer, vor allem aber der Tod seines Erstgeborenen.

„Der Tod schien eine willkürliche Angelegenheit zu sein, manche starben eben früher, andere später. Und darum verlor man auch über Ósmanns Erstgeborenen kein Wort. Als hätte es Páll Jónsson nie gegeben. Denn das Leben gehörte den Lebenden, und die Toten, nun ja, die ließ man am besten in Ruhe tot sein – etwas, das ich selbst nur zu gut wusste.“ (S. 127)

Mit „Ósmann“ erzählt Joachim B. Schmidt die Lebensgeschichte des isländischen Fährmanns Jón Magnússon Ósmann (1862-1914), wobei ein Mann, der sich als Freund von Ósmann bezeichnet, als allwissender Erzähler fungiert, die Erlebnisse und Ereignisse nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge zum Besten gibt. Doch die Jahreszahlen zu Beginn des Kapitels zusammen mit besonderen Wetterbedingungen und der Anzahl der Winter, die Ósmann bereits überlebt hat, helfen dabei, den Überblick zu behalten. „Ósmann“ erzählt aber nicht allein die Lebensgeschichte eines ebenso engagierten wie hilfsbereiten und kommunikativen Fährmanns, sondern das Leben in diesen oft einsamen, kalten Sphären vor dem Hintergrund der Mythen und Sagen, die im Dasein der Isländer eine ebenso große Rolle spielen wie die Menschen, die dort leben. Schmidt erweist sich als stilsicherer Autor, der mit seiner Sprache ebenso die unwirtliche Landschaft, das eiskalte Wasser, die weißen Berge und die Mentalität der Menschen zu beschreiben versteht wie die spezielle Poesie, zu der sich Ósmann immer mal wieder hinreißen lässt und seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, seiner Lebensfreude und Liebe ebenso wie der im Verlauf seines Lebens zunehmenden Trauer und Verzweiflung.

Colin Higgins – „Harold und Maude“

Samstag, 1. März 2025

 (Diogenes, 182 S., HC)
Hal Ashbys Film „Harold und Maude“ (1971) darf getrost als Klassiker der Filmgeschichte betrachtet werden und ist nicht nur durch das kongeniale Zusammenspiel von Bud Cort als Harold und Ruth Gordon in den Titelrollen, sondern auch durch den ikonischen Soundtrack von Cat Stevens zu internationaler Berühmtheit gelangt. Das Drehbuch stammt vom Australier Colin Higgins und stellte dessen Abschlussarbeit eines Drehbuchseminars an der Universität Los Angeles dar. Im selben Jahr brachte Higgins die Geschichte um Harold und Maude auch als Roman heraus, den der Diogenes Verlag nun in seiner neuen Reihe „Modern Classics“ wiederveröffentlicht.
Der 19-jährige Harold Chasen hat schnell adaptiert, dass er die Aufmerksamkeit seiner Mutter vor allem dann auf sich zieht, wenn er seinem Leben ein Ende zu setzen scheint. Doch als er sich mit einer Schlinge um den Hals mit Musik von Chopin im Hintergrund vom Stuhl stößt, rügt sie ihn nur wegen seines unangemessenen Verhaltens, schließlich kämen die Crawfords heute zum Abendessen. So sehr sich die wohlhabende Mrs. Chasen auch bemüht, ihren wohlerzogenen Sohn zur Vernunft zu bringen – weder der Psychiater Dr. Harley noch ihr als Brigadegeneral bei der Armee fungierende Bruder Victor können in dieser Hinsicht Erfolge verbuchen -, denkt sich Harold immer weitere Arrangements für vorgetäuschte Selbstmorde aus, die seine Mutter zunehmend verzweifeln lassen. Als letzten Ausweg sieht sie in einer Partnervermittlung, die Harold mit drei potenziellen Hochzeitskandidatinnen versorgt, die allerdings weder Harold noch seine wählerische Mutter zufriedenstellen. Doch dann lernt Harold bei einer Beerdigung die lebenslustige Maude kennen, die während ihres 79-jährigen Lebens zwar schon schwierige Zeiten durchmachen musste, aber nie ihre Zuversicht und den Lebensmut verloren hat. Mit ihr zusammen lernt Harold endlich, worauf es im Leben wirklich ankommt.

„,Ja. Ich weine. Ich weine um dich. Ich weine um das hier. Ich weine angesichts der Schönheit, eines Sonnenuntergangs oder einer Möwe. Ich weine, wenn ein Mann seinen Bruder quält … wenn er Reue zeigt und um Vergebung bittet … wenn Vergebung verweigert wird, ebenso, wie wenn sie gewährt wird. Wir lachen. Wir weinen. Dass sind zwei einzigartige menschliche Eigenschaften. Und das Wichtigste im Leben ist, dass man keine Angst davor hat, ein Mensch zu sein, mein lieber Harold.‘“ (S. 145)

Wer den Film wie ich bereits mehrere Male gesehen hat, wird beim Lesen des Romans immer wieder die dazu entsprechenden Bilder des Films vor Augen haben, was vor allem auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, dass der 1988 im Alter von 47 Jahren in Beverly Hills an Aids verstorbene Autor sein Drehbuch einfach in eine knackige Romanform gegossen hat, die die Filmhandlung nahezu identisch abbildet und insofern keine Überraschungsmomente bereithält. Es ist allerdings ebenso wenig verwunderlich, warum „Harold und Maude“ zur Pflichtlektüre für Englischschüler avanciert ist, denn die kurzweilige Novelle präsentiert nicht nur eine unorthodoxe Liebesgeschichte, sondern thematisiert auf humorvolle Art die Konventionen und Erwartungen von Mitglieder der sogenannten besseren Gesellschaft und die bedingungslose Liebe zum Leben von Menschen, die zu viel Schlimmes in ihrem Leben erlebt haben, um sich über die Misslichkeiten des Alltags oder allzu einengende Vorschriften zu beschweren. „Harold und Maude“ ist auch über fünfzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ein jederzeit vergnügliches wie kluges Büchlein über die Liebe und den Tod, Freundschaft und Freiheit, Poesie und Musik, und begeistert durch seine beiden schrulligen Hauptfiguren.

Christian Schünemann – „Bis die Sonne scheint“

Donnerstag, 27. Februar 2025

(Diogenes, 252 S., HC)
Der 1968 in Bremen geborene Christian Schünemann ist bislang durch seine bei Diogenes veröffentlichte Krimiserie um den Starfrisör Tomas Prinz sowie die zusammen mit Jelena Volič verfassten Kriminalromane um die serbische Amateurdetektivin Milena Lukin bekannt geworden. Nun wagt er sich mit seinem neuen Buch „Bis die Sonne scheint“ an einen melancholisch-heiteren Familienroman.
Für Daniel Hormann ist 1983 noch alles in Ordnung, wie er der Postbeamtin Frau Pieper am Schalter bestätigt. Noch träumt er davon, dass er seine Konfirmation mit blauem Samtsakko und grauer Flanellhose begehen darf und mit reichlich Bargeldgeschenken beehrt wird. Doch dann hört er eines Abends ein Gespräch seiner Eltern mit und erfährt, dass die Lage mehr als ernst ist. Nicht nur, dass das Wasser durch das Dach des eigenen Bungalows tropft, auch das Konto ist leer. Dabei hat sich Daniels Vater Siegfried erfolgreich von einem angestellten technischen Zeichner bei der Stadt zu einem Firmengründer für das Entwickeln von Häusern im Selbstbau-Verfahren gemausert. Doch in Zeiten der Wirtschaftskrise mit ungünstigen Zinsen geht die Nachfrage nach Hormann Massivhäusern so stark zurück, dass Daniels Vater sich als Vertreter von Wasserfiltern versucht und seine Mutter Marlene einen Wollladen in der Einkaufspassage eröffnet. Davon dürfen die Großeltern Lydia und Henriette natürlich nichts erfahren, der Schein muss um jeden Preis gewahrt bleiben. Dass Geld, das durch die Vertreter-Provisionen und Marlenes Laden reinkommt, wird aber nicht etwa verwendet, um den Gerichtsvollzieher zu besänftigen und die Schulden zu begleichen, sondern um es sich mit der ganzen sechsköpfigen Familie mal richtig gutgehen zu lassen, sei es in schicken Restaurants oder bei spontanen Kurztrips in die Sonne…

„An der B6 sah ich meinen Vater im Auto, wie er in unseren Weg einbog. Ein Familienvater, der von der Arbeit kam, während meine Mutter auf dem Sofa Pullover strickte. Ein schönes, friedliches Bild. In Wirklichkeit hatte mein Vater nur unnötig Benzin verfahren und Wasserfilter angepriesen, die kein Mensch haben wollte, während meine Mutter die Nadeln heißlaufen ließ, weil wir Bargeld für den nächsten Einkauf brauchten.“ (S. 185)

Wie der Autor in seinem interessanten Nachwort beschreibt, kam Christian Schünemann die Idee zu „Bis die Sonne scheint“ nach einem Besuch bei seiner Tante in einem Vorort von Chicago, wo er sich Kopien von dem umfassenden Briefwechsel zwischen ihr und seiner Mutter machte. So setzte sich eine Familiengeschichte zusammen, die teils anders erzählt worden ist, als Schünemann sich erinnerte, was ihn zu der Erkenntnis brachte, dass jeder seine eigenen Erinnerungen und seine eigene Wahrnehmung habe. Von diesem Eindruck lebt dieser Roman, mit dem Schünemann die Geschichte seiner eigenen Familie verarbeitet. 
Was zunächst wie eine Coming-of-Age-Geschichte des pubertierenden Ich-Erzählers anmutet, entwickelt sich schnell zu einer zumindest zeitlich umfassenden Familienchronik, die bis zum Kennenlernen von Siegfrieds Eltern zurückreicht, die Kriegszeiten und die Jahre des Wiederaufbaus berücksichtigt, die mühsame Gründung einer Familie mit gesichertem Einkommen mit den Einkünften als Beamter und Buchhalterin ebenso wie der dann doch rapide anmutende wirtschaftliche Abstieg, von dem niemand etwas mitbekommen soll.
Das ist wunderbar flüssig und mit augenzwinkerndem Humor geschrieben, doch werden auf den gerade mal 250 Seiten so viele Figuren vorgestellt und so oft zwischen den Epochen gewechselt, dass eine tiefere Verbundenheit mit den Hormanns kaum aufkommt, was der Sympathie für die unternehmungslustige und einfallsreiche Familie keinen Abbruch tut. Doch Daniels Geschwister beispielsweise werden kaum mit einem Wort erwähnt, das Skizzieren der Familienchronik gewinnt mehr Bedeutung als die Beschreibung der innerfamiliären Beziehungen. Entweder hätte der Autor seinen Figuren mehr Raum zur Entfaltung verleihen oder das Figurenarsenal beschränken müssen, um einen nachhaltigen Lesegenuss zu gewährleisten.

Takis Würger – „Für Polina“

Mittwoch, 26. Februar 2025

(Diogenes, 296 S., HC)
Der 1985 in Hohenhameln geborene Takis Würger hat nach seiner journalistischen Ausbildung u.a. für den Spiegel viel aus dem Ausland berichtet und wurde 2010 vom Medium Magazin als einer der „Top 30 Journalisten unter 30“ ausgezeichnet. Auch mit seinem ersten, 2017 bei Kein & Aber veröffentlichten Roman „Der Club“ ließ Würger aufhorchen. Nun legt der Autor nach „Stella“, „Noah. Von einem, der überlebte“ und „Unschuld“ mit „Für Polina“ sein Diogenes-Debüt vor.
In den Sommerferien vor ihrem Abitur reist Fritzi Prager mit Regionalzügen und per Anhalter ins italienische Lucca, wo sie in günstiges Zimmer in einer Pension bezieht und im Schatten der alten Stadtmauer ihre mitgebrachten Bücher liest. Sie genießt die Spaziergänge durch die Gassen, das italienische Essen und die Tatsache, allein zu sein, was sie nicht abhält, sich in die Leben anderer Menschen hineinzuträumen. Sie lernt einen Hamburger Natursteinhändler kennen und wird von ihm schwanger, was ihre weiteren Lebenspläne durchkreuzt. Statt Jura in München zu studieren, wofür sie als Jahrgangsbeste bereits eine Zusage hat, wird sie nun Mutter eines kleinen, speckigen Jungen mit blonden Haaren. Sie lernt Güneş kennen, die neben ihr auf der Entbindungsstation liegt und ihre Tochter in Anlehnung an Dostojewskis Geliebte Polina genannt hat. 
Aus dieser Bekanntschaft entwickelt sich eine jahrelange Freundschaft. Fritzi bekommt durch Güneş einen Reinigungsjob in einer Netto-Filiale vermittelt und zieht in eine heruntergekommene Villa im Moor, wo der wortkarge Heinrich Hildebrand vor allem an Hannes einen Narren gefressen hat. Güneş und Fritzi sehen sich, wann immer es ihre Zeit erlaubt, und so verbringen auch Polina und Hannes bis in ihre Teenagerjahre viel Zeit miteinander. Obwohl sich die beiden Teenager ineinander verlieben und später miteinander schlafen, steht ihre Beziehung unter keinem guten Stern. 
Durch Missverständnisse und Versäumnisse verlieren sie sich sogar völlig aus den Augen - bis Hannes, der seinen Lebensunterhalt bei einem Hamburger Transportunternehmen für Klaviere verdient, auf einem der Instrumente, das er mit seinem Kollegen Bosch von einer Wohnung in die andere zu bringen hat, mitten in der Innenstadt eine herzzerreißende Melodie spielt und das Video von der unorthodoxen Darbietung viral geht…

„Hannes spielte, und die Menschen hörten ihn, als hörten sie Licht. Die Besucher des kleinen italienischen Nudelrestaurants auf der anderen Straßenseite verstummten, erst verdutzt, dann ergriffen. Due Studentinnen auf dem Weg ins Philosophieseminar verlangsamten ihre Schritte, kamen näher und blieben stehen. Die Kellner vergaßen ihre Bestellungen, die Babys in ihren Kinderwagen lauschten. Es war keine Zauberei. Oder vielleicht doch. Wann war Musik jemals etwas anderes als Zauberei?“ (S. 222)

Takis Würgers „Für Polina“ ist ebenso ein Coming-of-Age- wie Liebesroman. Auf der überschaubaren Länge von nicht mal 300 Seiten entfaltet der in Leipzig lebende Autor eine berührende, selten die Grenze zum Kitsch streifende Geschichte einer problematischen Liebesbeziehung, deren Dramatik sich vor allem aus der Ungewissheit speist, wo sich Polina überhaupt befindet. Die mehr oder weniger aktiv betriebene Suche nach Polina wird durch allerlei Krisen zurückgeworfen, aber auch durch Hannes‘ Weigerung, seinem Kompositionstalent eine Chance zu geben. Würger gelingt es, seinen allesamt irgendwie sympathischen, eigenwilligen Figuren auf wenigen Seiten Charakter zu verleihen, und vor allem zwischen Bosch und Hannes, aber auch zwischen Heinrich und Hannes entwickeln sich prägende Freundschaften fürs Leben. Dadurch wird der melancholischen Geschichte nicht nur Humor, sondern auch Zuversicht verliehen.
Die stärksten Momente weist „Für Polina“ in der einfühlsamen, bildreichen Sprache und den leisen Tönen auf, mit denen Würger vor allem die Empfindungen durch das Spielen und Komponieren klassischer Musik beschreibt, aber auch die Sehnsüchte Liebender, die einander unerreichbar fern erscheinen. Da sind märchenhafte Zuspitzungen wie Hannes‘ Karriere eigentlich völlig unnötig. Dafür hätten feinere Einsichten in Hannes‘ Gefühlsleben die Intensität der Geschichte vielleicht noch verstärkt. Aber auch von diesen kleinen Schwächen abgesehen ist „Für Polina“ eine zauberhafte kleine Geschichte über den Wert wahrer Freundschaften und die Kraft der Liebe – vor allem auch zur Musik – geworden.

John Irving – „Zirkuskind“

Montag, 13. Januar 2025

John Irving – „Zirkuskind“ 
(Diogenes, 970 S., Tb.) 
Seit John Irving mit zarten 26 Jahren sein immerhin schon 500 Seiten starkes Romandebüt „Lasst die Bären los!“ veröffentlicht hat, zählt der aus New Hampshire stammende Autor zu den erzählwütigsten Vertretern seiner Zunft. In der Regel dürfen seine Fans alle zwei bis vier Jahre mit einem neuen, gern auch mal 1000 Seiten umfassenden Opus von ihm rechnen. So wartet auch sein achter, 1994 erschienener Roman „A Son of the Circus“ mit eindrucksvollen 970 Seiten auf und entführt die geneigte Leserschaft nach Indien. 
Dr. Farrokh Daruwalla fühlt sich in seiner Heimatstadt Toronto, wo er die meiste Zeit mit seiner Wiener Frau lebt, die er während seines Studiums in der Schweiz kennengelernt hat, nach wie vor wie ein Einwanderer, weshalb es ihn immer wieder nach Bombay zieht, wo er geboren und aufgewachsen ist. Dort verbringt der etwas pummelige, schon in die Jahre gekommene Orthopäde seine Zeit vor allem damit, seinem Hobby zu frönen, nämlich Blutproben von Liliputanern des Great Blue Nile Circus zu sammeln, um ihre Gene zu studieren, was ihm allerdings so gut wie nie gelingt. Erfolgreicher ist er darin, Drehbücher für den von vielen verhassten Schauspieler John D. zu schreiben, dessen „Inspektor Dhar“-Filme stets nach dem gleichen Rezept funktionierten. Doch dann wird es turbulent. 
Mit dem Scholastiker Martin Mills taucht nicht nur überraschend der bislang unbekannte Zwillingsbruder des Schauspielers auf, um in Bombay an einer Schule zu lehren, sondern im traditionellen Duckworth-Goldclub treibt auch ein Mörder sein Unwesen, der mit seiner hinterlassenen Botschaft „Weil Dhar Mitglied im Club ist“ unmissverständlich klar macht, dass das Morden weitergeht, solange der vor allem von den kastrierten Transvestiten-Prostituierten verhasste Schauspieler nicht aus dem Club geworfen wird. 
Daruwallas zwergwüchsiger Chauffeur, der echte Kommissar Patel, das aus Iowa stammende Hippie-Mädchen Nancy und einige skurrilere Figuren wie der Junge mit dem Elefantenfuß, aufreizende Kinderprostituierte und ein Killer, der seinen Opfer Elefanten auf den Bauch malt, runden das Ensemble in dem multisexuellen und -kulturellen Plot ab, in dem der gute Doktor nicht nur den Verlust seines homosexuellen Freundes aus Toronto verkraften muss, sondern sich auch gegen die erotischen Verführungen der HIV-positiven Kinderprostituierten Madhu standhaft bleiben muss. 
„Ihre vorsätzliche Nacktheit war bedrückend, allerdings nicht, weil sie ihn wirklich gereizt hätte, Sex mit ihr zu haben (allein schon der Gedanke) erschien ihm plötzlich als der Inbegriff des Bösen. Er wollte gar keinen Sex mit ihr – er verspürte nur eine ganz flüchtige Begierde -, aber ihre überdeutliche Verfügbarkeit betäubte seine anderen Sinne. Dabei war er sich bewusst, dass sich ein so reines Übel, etwas so eindeutig Verkehrtes, wohl selten so folgenlos darbot. Das war ja gerade das Entsetzliche: Wenn er ihr gestattete, ihn zu verführen, würde das kein negatives Nachspiel haben – außer dass er sich, immer und ewig – daran erinnern und schuldig fühlen würde.“ (S. 759) 
Für „Zirkuskind“ hat John Irving Neuengland verlassen, und obwohl er in seiner Vorbemerkung beteuert, dass der Roman nicht von Indien handele und er Indien nicht kenne, spielt sich doch der Großteil des Romans dort ab, wobei das titelgebende Zirkuskind letztlich nur am Rand eine Rolle spielt. Vielmehr entfaltet Irving vor der berauschenden Kulisse der lauten, von Menschen nur so wimmelnden Metropole ein breites Spektrum an für ihn gewohnten kuriosen Figuren, von denen Dr. Daruwalla das Zentrum der Erzählung bildet, die sich über etliche Nebenhandlungen und Erinnerungen erstreckt und sich nicht recht entscheiden kann, ob sie Krimi, Drama, Kultur- oder Sittengeschichte sein will. 
Es geht um Glauben, sexuelle und kulturelle Identität, Wahrheit und Fiktion, um Familie und Randfiguren der Gesellschaft, natürlich auch um den Mikrokosmos Zirkus. Es hätte sicher gereicht, Daruwallas Geschichte als Zauderer zwischen den Welten und Kulturen zu erzählen und das Gefühl von Heimat und Fremdsein in all seinen Facetten zu thematisieren. 
Warum allerlei sexuelle Aktivitäten, seltsame Morde und Schicksale von Zirkuskindern alles so verworren machen müssen, bleibt mir persönlich ein absolutes Rätsel. 
„Zirkuskind“ ist von allen Irving-Romanen wohl derjenige, den man nicht unbedingt gelesen haben muss. 

Ray Bradbury – „Familientreffen“

Samstag, 5. Oktober 2024

(Diogenes, 228 S., Tb.) 
Mit – oft erfolgreich verfilmten – Romanen und Geschichten wie „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und natürlich „Fahrenheit 451“ zählt der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) zu den großen Schriftstellern der fantastischen Literatur, fühlte er sich doch gleichermaßen in den Genres des Kriminalromans, der Science-Fiction, der Fantasy und des Horrors zuhause. Ein frühes Beispiel seiner Erzählkunst bot der 1947 veröffentlichte und längst vergriffene Sammelband „Dark Carnival“, der Geschichten aus den Jahren 1943 bis 1947 vereinte. 1955 erschien mit „The October Country“ ein Band, der knapp die Hälfte der insgesamt 27 Stories aus „Dark Carnival“ in teils überarbeiteter Form zusammenfasste und um vier neue Geschichten erweitert wurde. Bradbury entführt seine Leser mit „Familientreffen“ - so der deutsche Titel - in Grenzbereiche der menschlichen Vorstellungskraft und macht uns mit Zirkusleuten, Vampiren und Schriftstellern mit Mordgelüsten vertraut. 
In „Der Zwerg“ besucht die titelgebende Figur allabendlich das Spiegelkabinett, wenn der Besucherandrang nicht mehr so stark ist, zahlt seine zehn Cent und rennt bis zum Langen Lulatsch durch. Doch dann treibt der Betreiber des Kabinetts einen makabren Scherz mit dem Zwerg… 
George Garvey hat zwar eine attraktive Frau, wird aber von seiner Umgebung als der langweiligste Typ überhaupt betrachtet. Eine Gruppe von sieben Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, Garvey einen Besuch abzustatten, sich über Musik und Bücher auszutauschen, zu denen er nichts beitragen kann, und sich anschließend, als sie wieder unter sich sind, über den Mann herzuziehen, der offenbar Millionen Wege kennt, einen zu lähmen, in Tiefschlaf oder sogar ins Koma zu versetzen. Doch Garvey lässt die Schmach nicht auf sich sitzen, informiert sich und verblüfft seine Besucher durch sein überraschend profundes Wissen. Um seine Popularität aufrechtzuerhalten, sieht sich Garvey gezwungen, immer ausgefallenere Marotten zu entwickeln. Nachdem er eine abgetrennte Fingerspitze durch einen Fingerschutz eines Mandarins ersetzt hatte, plant er für den Verlust eines Auges einen besonderen Coup: „Der wachsame Poker-Chip von H. Matisse“ kann allerdings nicht verhindern, dass Garvey weiterhin ein Langweiler bleibt… 
„Das Skelett“ wiederum erzählt die Geschichte des Hypochonders Mr. Harris, dessen Hausarzt nichts gegen seine schmerzenden Knochen zu unternehmen vermag, weshalb der Mann Hilfe bei einem im Telefonbuch gelisteten Knochenspezialisten sucht. Mr. Munigant sieht das Problem psychischer Natur. Als Mr. Harris einen Ausflug nach Phoenix unternimmt, verschlimmern sich allerdings seine Schmerzen… 
In „Der Bote“ dient Dog für den zehnjährigen, durch eine Krankheit ans Bett gefesselte Martin die Verbindung zur Außenwelt. Über eine Mitteilung am Halsband des Hundes hofft der Junge auf Besuch. Meist ist es Miss Haight, die ihm kleine Törtchen und Bücher über Dinosaurier und Höhlenmenschen mitbringt und Domino, Dame oder Schach mit ihm spielt. Eines Tages kehrt Dog allerdings nicht mehr von seinen Ausflügen nach Hause zurück… 
„Noch lange nach Mitternacht lag Martin da und schaute hinaus auf die Welt draußen vor den kühlen, klaren Fensterscheiben. Jetzt war nicht einmal mehr Herbst, denn es war kein Dog da, um ihn ins Zimmer zu holen. Es würde keinen Winter geben, denn wer könnte Schnee anbringen, der dann in seinen Händen schmolz? Vater, Mutter? Nein, das war nicht dasselbe. Sie konnten nicht mitspielen, dieses Spiel mit den besonderen Regeln und Geheimnissen, mit seinen Geräuschen und Gesten. Keine Jahreszeiten mehr. Die Zeit würde stehenbleiben. Der Vermittler, der Bote, war im wilden Gedränge der Zivilisation verlorengegangen, vergiftet, gestohlen, unter ein Auto geraten, verendet in einem Kanalisationsschacht…“ (S. 108) 
Ray Bradbury vermag mehr, als nur ins Reich der Fantasie abzudriften und unmögliche Geschichten mit skurrilen Figuren zu erzählen, denn im Grunde genommen stecken hinter den Menschen und (sehr menschlich wirkenden) Fabelwesen ganz gewöhnliche Sehnsüchte, Ängste und Begierden, der Wunsch, anerkannt und geliebt zu werden, ein von Sinn erfülltes Leben zu führen und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Auch wenn nicht alle hier versammelten Geschichten zu fesseln vermögen, sind doch schon die spätere Meisterschaft und die sprachliche Brillanz des Autors zu erkennen, der „Familientreffen“ August Derleth, dem Schriftsteller und Verleger von Lovecrafts Werk, gewidmet hat, einem weiteren einflussreichen Wegbereiter der fantastischen Literatur.


Kent Haruf – „Unsere Seelen bei Nacht“

Montag, 30. September 2024

(Diogenes, 200 S., HC) 
Gerade mal sechs Romane hat der 2014 verstorbene, aus Colorado stammende Kent Haruf zwischen 1984 und 2015 geschrieben, allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, angesiedelt. Sein posthum veröffentlichter Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ ist zugleich sein bekanntester, wurde er doch erfolgreich 2017 mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt. Seither hat Diogenes es sich zur Aufgabe gemacht, das überschaubare Gesamtwerk von Haruf dem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Sein letztes und bekanntestes Buch machte dabei den Anfang. 
Die 70-jährige Witwe Addie Moore und ihr Nachbar Louis Waters sind zwar Nachbarn, nur einen Häuserblock voneinander entfernt, nur einen Häuserblock voneinander entfernt, haben bislang aber recht wenig miteinander zu tun gehabt. Bis Addie eines Maiabends bei Louis klingelt und ihn unverblümt fragt, ob er sich vorstellen könne, ab und zu bei ihr vorbeizukommen und bei ihr im Bett zu schlafen. Es gehe nicht um Sex, sondern einfach darum, die Nacht zu überstehen und miteinander zu reden. Louis bittet um etwas Bedenkzeit ob dieses überraschenden Angebots, steht aber schon nächsten Abend bei ihr vor der Tür. Das Arrangement funktioniert wunderbar, vertreibt es den beiden Witwern doch auf vertraute Weise die Einsamkeit. Abend für Abend kommt Louis zu Addie, trinkt mit ihr am Tisch ein Glas Bier, sie ein Glas Wein, dann gehen sie zu Bett und erzählen einander, wie sie ihre Liebsten verloren haben, wie ihre Ehen waren und welche Fehler man gemacht hat. 
Natürlich bleibt die Beziehung zwischen Addie und Louis in einer Kleinstadt wie Holt nicht lange ein Geheimnis, aber das Paar kümmert sich kaum darum. 
„Ich will nur friedlich vor mich hin leben und darauf achten, was Tag für Tag passiert. Und abends herkommen und bei dir schlafen. 
Ja, genau das tun wir. Wer hätte gedacht, dass wir in unserem Alter noch einmal so etwas erleben. Dass noch längst nicht alle Veränderungen und Aufregungen hinter uns liegen, wie sich herausstellt. Dass wir noch nicht körperlich und geistig vertrocknet sind. 
Und dabei tun wir nicht mal das, was die Leute glauben.“ (S. 163) 
Spannend wird es, als sich Addies Sohn Gene von seiner Frau trennt und seinen knapp sechsjährigen Sohn Jamie zu Addie bringt… 
In dem nicht mal 200 Seiten umfassenden Kurzroman hält sich Kent Haruf nicht lange mit Nebensächlichkeiten bzw. einer Einführung seiner Hauptfiguren auf und fällt gleich mit der Tür ins Haus, so wie auch Louis mit Addies unorthodoxen Antrag überrascht wird. Dabei dreht sich „Unsere Seelen bei Nacht“ letztlich um die wesentliche Frage, ob man sich im hohen Alter damit abfinden muss, allein zu bleiben, wenn der Partner gestorben ist. So offen, wie Addie die Lösung dieses Problems angeht, dürften die wenigsten das Thema umsetzen. Sowohl Addie als auch Louis finden schnell heraus, wie sehr es sich lohnt, sich auch im gesetzten Alter noch auf einen anderen Menschen einzulassen, sich mit ihm über alles zu unterhalten, was einem wichtig ist, einander nah zu sein, ob mit oder ohne Sex. Gemeinsam gehen Addie und Louis schließlich auch die Herausforderung an, dass mit Addies Enkel neuer – vorübergehender – Zugang ins Haus schneit und dass nicht jeder damit klarkommt, was Addie und Louis miteinander angefangen haben. 
Kent Haruf bleibt in „Unsere Seelen bei Nacht“ immer dicht bei seinen Figuren, verzichtet weitgehend auf Beschreibungen und lässt seine Figuren durch pointierte Dialoge Form annehmen. Da Addie und Louis so sympathisch und bodenständig sind, fällt die Identifikation mit ihnen leicht. Und Kent Haruf ist ein Meister darin gewesen, mit einfachen Mitteln tiefgründige Weisheiten über das Zusammenleben, das Vertrauen und die Liebe zu vermitteln.


Philippe Djian – „Doggy Bag – Sechs“

Samstag, 20. Juli 2024

(Diogenes, 262 S., Tb.) 
Es ist vollbracht. Der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Oh…“) arbeitete zwischen 2005 und 2008 an einer literarischen Soap, die zwar den hehren Anspruch verfolgte, dass Fernseh-Junkies wieder ein Buch in die Hand nehmen, letztlich aber die erotischen Verwicklungen, die Djians Romane auch zuvor schon geprägt haben, auf imposante 1600 Seiten ausufern ließ. Da sind sie also wieder, die Sollens-Brüder Marc und David, ihre frühere gemeinsame Geliebte Édith, die nach zwanzig Jahren mit einer Tochter im Schlepptau zurückkehrt und sich für Marc entscheidet, Marcs und David getrennte Eltern Irène und Victor, die zwar wieder in einem Haus leben, aber nicht wieder zueinander finden. 
Marc beabsichtigt, trotz seiner Sexsucht, die er bei den Anonymen Sexaholikern mit ihren Zwölf Schritten leider vergeblich in den Griff zu bekommen versucht, Édith zu heiraten und damit auch seiner Vaterschaft einen offiziellen Charakter zu verleihen. 
Leider kommen ihm dabei nicht nur seine ungebremste Libido ins Gehege, sondern auch verschiedene Probleme in der Familie. Der Wintereinbruch mit satten zweistelligen Minusgraden, Eisglätte und Schneemassen macht der ganzen Stadt zu schaffen, während sein Bruder nur mit einer elektronischen Fessel seine „Freiheit“ genießen darf, nachdem er in einem Tobsuchtsanfall einen Menschen getötet hatte. Victor hat den Weg zu Gott zurückgefunden, aber auch unerwartet die Kraft der Levitation entdeckt, was ihn weithin zu einem Heiligen werden lässt – nicht aber in den Augen seiner Frau Irène, die ihm dieses manipulative Verhalten durch eine Affäre mit dem Polizeichef De Watt heimzahlt. Außerdem hat sich Marcs Tochter Sonia, nachdem ihr Liebhaber Roberto spurlos verschwunden ist, wieder mit auf eine Affäre mit dem Zahnarzt eingelassen, den sie nicht mal auch nur annähernd attraktiv findet. Doch am schwersten wiegt das Erdbeben, das das Autohaus in die Tiefe stürzen lässt… 
„All diese Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten. All diese Zeit, die sie gebraucht hatten, um die Flammen zu ersticken, die sie früher verzehrt hatten. Man hatte ihnen ind den letzten Monaten arg zugesetzt. Verdammt arg zugesetzt. Niemand käme auf die Idee, das Gegenteil zu behaupten. Die Ereignisse schüttelten sie wie Stürme das Korn auf den Feldern – aber Stürme löschen Erinnerungen nicht aus. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre Seite an Seite verbracht. Mehr oder weniger. Welcher Orkan konnte das auslöschen?“ (S. 243) 
Im sechsten und letzten Band seiner „Doggy Bag“-Soap geht Djian merklich die Luft aus. Nachdem vielschichtige Beziehungen und Affären, Ehebrüche, ungeklärte Vaterschaften, Vergewaltigungen und Naturkatastrophen für ordentlich Wirbel in den vergangenen fünf Bänden gesorgt haben, scheinen sich die Dinge nun zu normalisieren. Dass Marc von seiner Sexsucht nicht geheilt werden kann, illustriert Djian mit einer fast schon absurden Episode, als er seinen Protagonisten zu einer bekannten Schlampe gehen lässt, die sich, bevor sie sich zum Geschlechtsverkehr bereiterklärt, von ihrem spitzen Freier erst den Anus sauberlecken lässt. 
Doch das ist nur eine der stark überspitzten Episoden, die das Geschehen interessant machen sollen, wo es kaum noch Interessantes zu entdecken gibt. Da müssen schon weitere unglaubliche Phänomene wie der unvorstellbare Kälteeinbruch zu Weihnachten und das noch unvorstellbarere Erdbeben herhalten, um mehr als nur symbolisch das hilflose Treiben der Figuren zu veranschaulichen, die mehr Opfer ihres ungezügelten Temperaments zu sein scheinen als mit eigenem Willen ausgestattet. Das ist sicher kein Stoff für Serien-Junkies, die sich ihre tägliche Soap-Dosis vor dem Fernseher reinziehen, sondern eher für die hartgesottenen Djian-Fans, die sich aber eher an dem ausgefeilten Stil des Autors als an der ausufernden Geschichte von „Doggy Bag“ begeistern dürften. 

 

Ross Macdonald – (Lew Archer: 5) „Wer findet das Opfer“

Mittwoch, 3. Juli 2024

(Diogenes, 312 S., Pb.) 
Dass Ross Macdonald (1915-1983) neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler der prominenteste Autor klassischer Hardboiled-Detektivromane gewesen ist, kommt nicht von ungefähr, schließlich wurden zwei seiner Lew-Archer-Romane mit Paul Newman in der Hauptrolle verfilmt („Harper“, „Unter Wasser stirbt man nicht“). 1954 erschien mit „Find a Victim“ der fünfte von insgesamt 18 Lew-Archer-Romanen. Nun hat Diogenes im Rahmen der Wiederveröffentlichung seiner Werke Macdonalds Roman in neuer Übersetzung und mit einem Nachwort von Donna Leon herausgegeben. 
Auf dem Weg nach Sacramento, wo er einem Gesetzgebungsausschuss Bericht erstatten muss, entdeckt Privatdetektiv Lew Archer am Rand des südkalifornischen Highways einen angeschossenen Anhalter und bringt ihn in die nächste Kleinstadt namens Las Cruces, wo er beim Motel Kerrigan’s Motor Court einen Krankenwagen kommen lässt. 
Für das Opfer, das als Tony Aquista identifiziert wird, kommt allerdings jede Hilfe zu spät. Der Vorfall wirft natürlich Fragen bei der Polizei auf. Bis der Papierkram erledigt ist, soll Archer in der Stadt bleiben. Die Zeit nutzt er für eigene Ermittlungen. Bereits bei seiner Ankunft bei den Kerrigans hat Archer die Spannungen zwischen Kerrigan und seiner Frau gespürt. Er stößt auf ein undurchdringlich erscheinendes Netz aus verbotenen Geschäfts- und vor allem Liebes-Beziehungen. Aquista war nicht nur Fahrer eines mittlerweile vermissten Trucks, der Kerrigans Whiskey geladen hatte, sondern auch in Kerrigans Angestellte und Geliebte Anne Meyer verschossen gewesen ist. Anne ist ebenso wie der Truck, der dem Speditionsunternehmen ihres Vaters gehört, verschwunden. 
Annes Schwester Hilda wiederum ist mit Sheriff Church verheiratet, der mehr mit der Sache zu tun hat, als es zunächst den Anschein hatte, und Archer gefährlich nah auf die Pelle rückt. 
„Angst durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich hatte eine Waffe in meiner Tasche. Ich griff nicht danach. Mehr hätte es nicht gebraucht, um es wie Selbstverteidigung aussehen zu lassen. Und er war Polizist. Die .45er in seiner Hand zog ihn zu mir. Sein lässiges Schweigen war schlimmer als alle Worte. Wenn es vorbei sein sollte mit mir, dann war dies der Zeitpunkt und der Ort, im Valley unter weißem Himmel und mitten in einem Fall, den ich niemals lösen würde.“ (S. 207) 
Ein zufällig von Lew Archer auf der Straße aufgelesener Verletzter bildet den Ausgangspunkt für ein vertracktes Kleinstadt-Rätsel, in dem Alkohol und Drogen ebenso eine Rolle spielen wie ein Banküberfall und verschiedene Fehden und mehr oder weniger geheime Affären. Dieses Knäuel zu entwirren kostet Archer nicht nur viel Laufarbeit und Gehirnschmalz, sondern auch das nötige Einfühlungsvermögen bei den „Frauen in Not“ und die Kraft und den Willen in den körperlichen Auseinandersetzungen. Da Macdonald seinen Privatdetektiv als Ich-Erzähler auftreten lässt, weiß der Leser stets nur so viel, wie Archer selbst in Erfahrung bringt. Dabei verfügt der Protagonist über einen intakten moralischen Kompass, der Archer die Nöte der Frauen, allen voran Kate Kerrigan, nicht ausnutzen lässt, und ein Durchhaltevermögen, mit dem er auch unter Bedrohung seines eigenen Lebens und der mehr als nur vagen Möglichkeit, selbst wegen Mordverdachts in den Fokus der Ermittlungen zu geraten, den Mord an Aquista aufklären will.  
Ross Macdonald fängt die vielschichtige, geheimnisvolle und verworrene Atmosphäre in Las Cruces meisterhaft ein, brilliert mit messerscharfen Dialogen und fein gezeichneten Figuren, die auf verschwörerische Weise miteinander verbandelt sind und oft ohne Rücksicht auf Verluste nur ihr eigenes Glück verfolgen.  

Arnon Grünberg – „Gnadenfrist“

Mittwoch, 3. Juli 2024

(Diogenes, 154 S., TB.) 
Mit Romanen wie „Amour fou“, „Monogam“ und „Mit Haut und Haaren“ hat der niederländische Schriftsteller und Blogger Arnon Grünberg vornehmlich sexuelle Gelüste, wie auch immer geartete Beziehungen thematisiert und damit teilweise messerscharfe Sittenbilder gezeichnet, die die oft kurios anmutenden Kontaktsuchen in der modernen Mittelschicht ebenso amüsant wie scharfsinnig reflektierten. Insofern bietet auch der bereits 2006 erschienene, nun wiederveröffentlichte Kurzroman „Gnadenfrist“ wenig Neues, gibt sich aber nicht mit Nebenschauplätzen ab, sondern zeigt fokussiert auf, wie ein Diplomat durch eine unglückselige, zerstörerische Liebesbeziehung all das zerstört, was er sich sein Leben lang aufgebaut hat. 
Eigentlich hat Jean Baptist Warnke alles, wovon ein Mann nur träumen kann: Eine kluge wie schöne Frau, in die er auch nach acht Jahren noch verliebt ist, zwei kleine Töchter im Alter von anderthalb und vier Jahren sowie einen einträglichen und aussichtsreichen Job als zweiter Mann der niederländischen Botschaft im peruanischen Lima. Dabei hat er nichts weiter zu tun, als repräsentative Aufgaben bei Botschaftsessen wahrzunehmen oder niederländischen Gefangenen Mut zuzusprechen. 
Zu den Höhepunkten seiner eintönigen Arbeitstage zählt der tägliche Besuch im Café El Corner, wo er zu seinem Kaffee stets die recht aktuelle Newsweek durchblättert. Dort lernt er die junge Soziologie-Studentin Malena kennen, die ihn zu einer Gesangsaufführung einlädt. Warnke sieht die Einladung als willkommene Gelegenheit, sich mit der einheimischen Bevölkerung zu befassen, und geht hin. Nach der Aufführung ist Warnke mit Malena allein. 
„Die herrliche Hand des Mädchens liegt in seinem Schritt. Dort gehört sie nicht hin, das weiß er, doch er will sie nicht wegschieben. Das hier ist eine andere Kultur, da muss man Brücken bauen, gerade als Diplomat. Eine Hand im Schritt bedeutet in diesem Milieu etwas anderes als in Den Haag oder Voorschoten. Warnke will niemanden vor dem Kopf stoßen, darum lässt er die Hand liegen. Und er findet es herrlich, wie weich, wie warm, wie klein diese Hand ist.“ (S. 57) 
Es ist der Beginn einer leidenschaftlichen sexuellen Beziehung, die jedoch von einem schrecklichen Ereignis überschattet wird. In der japanischen Botschaft kommt es zu einer schrecklichen Geiselnahme. Eigentlich sollten Warnke und sein Botschafter ebenfalls zu dem dortigen Empfang gehen, doch Malena riet ihm eindringlich davon ab. Nach dem Vorfall ist Malena spurlos verschwunden, und nicht nur in Den Haag fragt man sich, warum die Niederländer nicht zu dem Empfang gegangen sind, was Warnke zunehmend in Erklärungsnöte bringt… 
„Er tue nichts“, antwortet der Diplomat Jean Baptist Warnke auf die Frage des Mädchens, was er beruflich mache. Die Langeweile und Wirkungslosigkeit seines Jobs sind vielleicht ein Grund dafür, warum der Protagonist in Grünbergs kurzer Erzählung so offen für die Affäre mit der schönen einheimischen Studentin ist. Jedenfalls beschreibt Grünberg genüsslich, wie der eigentlich mit allen Wassern gewaschene Diplomat und Familienvater durch den liebestollen Rausch, den er mit Malena erfährt, sein Leben völlig aus den Fugen geraten lässt. 
Dabei geht der Autor nicht besonders subtil vor, sondern beschreibt den tiefen moralischen Fall seines unglückseligen Antihelden mit lakonischer Präzision. Vor allem der Gegensatz zwischen der unterkühlt wirkenden, sachlich und politisch geprägten diplomatischen „Arbeit“ und der destruktiven Liebesbeziehung macht „Gnadenfrist“ zu einem kurzweiligen, bitter-melancholischen, wenn auch allzu vorhersehbaren Lesevergnügen.  

Moritz Heger – „Die Zeit der Zikaden“

Dienstag, 2. Juli 2024

(Diogenes, 302 S., HC) 
Der Stuttgarter Moritz Heger hat sich nach seinem Studium zunächst der Freien Kunst, dann der Germanistik, evangelischen Theologie und Theaterwissenschaften nicht darauf beschränkt, allein als Gymnasiallehrer seine Brötchen zu verdienen. Vielmehr hat er sich auch dem Jugendtheater und der Schriftstellerei zugewandt. In seinem 2021 veröffentlichten Debütroman „Aus der Mitte des Sees“ musste sich ein Mönch an der Schwelle zu seinem 40. Geburtstag mit der Frage auseinandersetzen, ob er die Leitung des Klosters übernehmen oder sich dem Leben vor den Klostermauern widmen soll. 
In einem ähnlichen Kontext bewegt sich auch Hegers neuer Roman „Die Zeit der Zikaden“, zwingt der Autor auch diesmal seine Figuren, sich intensive Gedanken über die Zukunft ihres Lebens zu machen. 
Mit 36 Jahren im Schuldienst verabschiedet sich die 63-jährige Alex („Fraumaaattmann“) Mattmann in den Ruhestand. Dabei heißt es, nicht nur die langjährige Affäre mit ihrem Schuldirektor, sondern auch das von ihr geleitete Theater-AG und vor allem die Mietwohnung hinter sich zu lassen. Ein jüngst erworbenes Tinyhouse auf Rädern steht mehr als nur symbolisch für ihren Neuanfang. 
Die Einladung zur Hochzeit ihrer ehemaligen Schülerin Wibke kommt Alex gerade recht. Während der Feier lernt sie Wibkes Schwiegervater Johann kennen, einen 56-jährigen Bestatter, der sein Unternehmen in die Hände seines Sohnes legt und sich nach Veränderung sehnt, da seine Ehe mit Marion gefühlt nur noch auf dem Papier existiert. 
Als sie den Vorschlag macht, dass er doch für ein paar Monate nach Ligurien gehen solle, um in dem geerbten Steinhaus des Malers Renat nach dem Rechten zu sehen, fällt ihm die Entscheidung leicht, doch kann er das italienische Lebensgefühl nicht unbeschwert genießen, da sich Marions und seine gemeinsame Tochter Nora von ihnen abgewandt hat. Bevor sich Johann aber in seinem zeitweisen depressiven Gemütszustand verliert, lädt er Alex ein, ihn in ihrem Tinyhouse zu besuchen. Der Abstecher zu ihrer alten Freundin Verena entpuppt sich auch nicht als besonders erquicklich, weshalb Alex der Einladung nach Italien gern folgt. 
Bei intensiven Gesprächen über das Leben, die Liebe, den Tod und die Zukunft kommen sich Alex und Johann schnell näher. Und dann beschließt Johann, ein Portrait von Alex zu malen. 
„Am Ende soll sie sich, ohne das abweisen zu können, erkennen, und sie soll erstaunt sein, beides, beides zugleich. Er muss, auch wenn das bei der möglichst getreuen Darstellung des Äußeren paradox klingt, in die Tiefe vordringen. Kurz gesagt: Er will Schönheit. Ein Übersetzer sein. In den Fluss springen, Risiko.“ (S. 161) 
Während der Mönch Lukas in „Aus der Mitte des Sees“ noch in der Mitte des Lebens stand, um eine Entscheidung über sein Leben für Gott oder in der Welt dort draußen zu treffen, stehen Alex und Johann in Hegers Zweitwerk „Die Zeit der Zikaden“ an einem weit späteren Wendepunkt in ihrem jeweiligen Leben und müssen sich darüber klar werden, wie sie ihre Zeit nach einem mehr oder weniger erfüllenden Arbeitsleben verbringen wollen.  
Heger reduziert die Handlung dabei aufs Wesentliche, konzentriert sich vielmehr auf die Inneneinsichten seiner beiden Hauptfiguren und baut die Spannung eher durch die tiefsinnigen Dialoge zwischen Alex und Johann auf. „Du tust mir gut“, sagt Johann schon auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes, später dann: „Du hast mich entkorkt.“ 
Es ist die Art der Fragen, des Zuhörens, der Antworten, mit der sie mehr über den jeweils anderen, aber auch über sich selbst und schließlich über die Beziehung zueinander erfahren. Heger lässt Alex und Johann in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit abschweifen, um die jeweilige Persönlichkeit herauszukristallisieren und so den Boden zu bereiten für die neuen Wege, die sie vielleicht in diesem traumhaft schönen Landstrich zu beschreiten wagen. Die eindringliche Sprache, die gelungene Figurenzeichnung und der gesellschaftsreflektierende Ansatz machen „Die Zeit der Zikaden“ zu einem anregenden und einfühlsamen Sommerroman. 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Fünf“

Samstag, 22. Juni 2024

(Diogenes, 258 S., Tb.) 
Für Philippe Djians auf sechs Bände angelegte und insgesamt gut 1600 Seiten umfassende literarische Soap „Doggy Bag“, die der französische Erfolgsautor („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) zwischen 2005 und 2008 entwickelt hat, braucht die geneigte Leserschaft ab dem vierten Band ein ebenso großes Durchhaltevermögen wie die Protagonisten seiner von allerlei amourösen Verstrickungen geprägten Geschichte. 
Viel verändert hat sich nach dem Auftaktband nämlich nicht. Die Brüder Marc (41) und David Sollens (42) haben das Autohaus ihres 71-jährigen Vaters Victor übernommen, mit dem wegen des Alters und des Todes beunruhigten Familienoberhaupt allerdings gebrochen, seit er wegen einer anderen Frau ihre Mutter Irène verlassen hat. Dass er jetzt reuig zu ihr zurückkehren will, lässt die mit ihren 63 Jahren nach wie vor attraktive Frau nicht ganz unberührt, auch wenn sie ausgerechnet auf der Hochzeit ihres Sohnes David mit der angeblich schwangeren Krankenschwester Josianne mit einem Handwerker geschlafen hatte, um von dem Mann anschließend entführt und vergewaltigt zu werden. 
Zwar lässt sie Victor seitdem wieder in ihrem Haus schlafen, bereut es allerdings, mit ihm hin und wieder auch Sex mit ihm gehabt zu haben. Um nicht bei dem Werben ihres Mannes, der nun den Glauben an Gott wiedergefunden zu haben scheint, weich zu werden, stürzt sie sich in eine Affäre mit dem Polizeichef Olivier de Watt. Dramatisch verläuft der Ausflug mit einem Bus, den Victor der Gemeinde von Pater Joffrey gestiftet hat. Nachdem das Gefährt in einer entlegenen Gegend vom Weg abgekommen ist, macht sich ein riesiger Bär über die Passagiere her und tötet u.a. Victors Privatsekretärin Valérie. 
Während David nach seinem tödlichen Messerangriff auf Joël, dem Freund von Marc und Édiths Tochter Sonia, auf seine Freilassung aus einer psychiatrischen Klinik hofft, hilft auch Marc Teilnahme an den Treffen der Anonymen Sexaholiker nicht darüber hinweg, dass Marc nach wie vor jeder Frau nachsteigt. Dabei liebt er Édith über alles und macht ihr sogar einen Heiratsantrag. 
„Unter solchen Bedingungen zu bumsen hatte natürlich seinen Reiz, und man konnte durchaus verstehen, dass sich ein Mann, der keinerlei sozialen oder familiären Zwängen unterworfen war, entgegen allen Regeln des Anstands hemmungslos der Sache hingeben konnte. Aber doch nicht ein ehrenwerter Bürger, nicht ein Mann, der ein Geschäft in der Stadt hatte, nicht ein Mann, der Beziehungen zum Bürgermeister hatte, nicht ein Mann, der im Begriff war, eine Familie zu gründen. O nein, ganz gewiss nicht!“ (S. 175) 
Die Probleme werden auch nicht dadurch weniger, dass Victor nach Davids hoffentlich nur vorübergehendem Ausscheiden aus der Firma wieder kräftig mitmischt im Autohaus… 
Mit dem unerwartet brutal beendeten Busausflug beginnt der fünfte „Doggy Bag“-Band äußerst dramatisch, doch den Rest der Geschichte nehmen wie gewohnt die angebahnten oder vollzogenen Liebesabenteuer ihren Lauf, wobei Irènes Affäre mit dem Polizeichef ebenso für Wirbel sorgt wie die Liebelei, die die zwanzigjährige Sonia ausgerechnet mit Roberto, dem Jugendfreund von Marc, David und Édith unterhält. Da die Figuren in „Doggy Bag“ allesamt nicht das Zeug zu Sympathieträgern haben, muss man als Leser schon das irrwitzige Wechselbad der Gefühle lieben, das nahezu alle Beteiligten auch in Teil 5 der literarischen Soap durchleben. 

 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Vier“

Montag, 17. Juni 2024

(Diogenes, 256 S., TB.) 
Nach mehr als zwanzig Jahren im Schriftsteller-Geschäft war es für den französischen Erfolgsautor Philippe Dijan („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) offensichtlich Zeit, mal was Neues auszuprobieren. Also schuf er zwischen 2005 und 2008 seine literarische, sechs Bände umfassende Soap „Doggy Bag“, mit der er versuchte, passionierte Serien-Junkies, die kein oder kaum ein Buch in die Band nehmen, zum Lesen zu animieren. Die Geschichte um die beiden Brüder Marc und David Sollens und ihre nach zwanzig Jahren heimgekehrte beiderseitige Geliebte Édith nahm zwei Bände lang eine turbulente Entwicklung, kam im dritten Band aber schon etwas aus der Puste. 
Marc versucht nach einem Ausrutscher, seine Sexsucht in den Griff zu bekommen, und schließt sich den Anonymen Sexaholikern an. Édith dankt es ihm, muss sie doch nur noch morgens, abends und ein-, zweimal am Tag ran, Marc seinen Trieb abreagieren zu lassen. Seinem Bruder David gelingt es dagegen nicht mal halbwegs souverän, die Herausforderungen in seinem Leben zu meistern, ersticht er in einem Tobsuchtsanfall doch den 25-jährigen Joël, den im Rollstuhl sitzenden Freund von Édiths Tochter Sonia. Die gerade mal zwanzigjährige Sonia wiederum lässt sich mit Roberto, dem 42-jährigen Jugendfreund von Marc, David, Édith und Catherine Da Silva, ein, was nicht gerade Begeisterungsstürme in Robertos früherer Clique hervorruft. 
Marcs und Davids Vater Victor hadert nicht nur mit dem Umstand, dass ihn seine Söhne als Verräter betrachten, sondern auch mit dem Umstand, dass seine acht Jahre jüngere Frau Irène keine Anstalten macht, ihn wieder näher an sich heranzulassen, obwohl er immerhin wieder in ihrem Haus wohnen darf. Und schließlich hat Édiths Ex-Mann Paul hart damit zu kämpfen, dass Édith und Sonia nicht mehr Teil seines Lebens sind und sich eine neue Beziehung angesichts seiner von starkem Mundgeruch begleiteten Zahnprobleme nicht so recht anbahnen will. 
„Niemand war perfekt. Er fuhr mit dem Finger die Mulde entlang, die ihre Hüfte bildete. Er forderte nur ein, was ihm zustand, mehr nicht. Jeder Mensch hatte Anrecht auf seinen Anteil am Gewinn, und wenn manche darauf verzichteten, dann war das ihre Sache, wenn manche lieber auf den Knien herumrutschten, war das ebenfalls ihre Sache. Wenn Sylvie sich ihm noch lange verweigerte, würde er am gleichen Ort landen wie David. Er bewunderte so viel Macht. Innerlich stieß er einen wohligen Seufzer aus. Das Phänomen an sich war faszinierend. Man könnte ein Buch darüber schreiben – allerdings würde nicht er es schreiben.“ (S. 234f.) 
Wie in einer Daily Soap im Fernsehen lässt auch Philippe Djian in seiner literarischen Soap „Doggy Bag“ genüsslich die Puppen tanzen, wenn es um die zwischenmenschlichen Beziehungen von Paaren, Freunden und Verwandten angeht. Fast hat es den Anschein, als wären die Männer in „Doggy Bag“ allesamt vor allem triebgesteuert, und wenn sich der Sexualtrieb mal dorthin verirrt, wo er ganz sicher nicht hingehört, steuern die Betroffenen geradewegs auf eine Katastrophe zu. Das ist durchaus kurzweilig und amüsant, wartet aber auch mit etlichen geschwätzigen Längen auf, die die Lust auf eine Fortsetzung im Rahmen halten. 

 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Drei“

Sonntag, 26. Mai 2024

(Diogenes, 262 S., Tb.) 
Als Philippe Djian in seiner französischen Heimat zwischen 2005 und 2008 seine literarische, sechs Bände umfassende Soap „Doggy Bag“ veröffentlichte, bestand seine erklärte Absicht darin, passionierte Serien-Junkies, die kein oder kaum ein Buch in die Band nehmen, zum Lesen zu animieren. Schließlich sei er der Überzeugung, dass man das menschliche Innenleben mit Worten viel besser beschreiben könne als mit Bildern. 
Ob dieses Ansinnen Erfolg hatte, darf arg bezweifelt werden, der Versuch bleibt indessen mehr als löblich. Für Djian-Fans, die mit Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Verraten und verkauft“ groß geworden sind, bietet die sechsteilige Soap in Romanform viel Bekanntes, doch geht der Geschichte bereits im dritten Band allmählich die Luft aus. 
Die beiden Brüder David und Marc Sollens waren jeweils Anfang zwanzig, als sie sich in die schöne Édith verliebt und mit ihr geschlafen haben, doch für Édith erwies sich dieses Arrangement als nicht besonders tragbar, weshalb sie damals mit einem Gelegenheits-Lover das Weite suchte. Nach zwanzig Jahren kehrte Édith nun zurück – mit ihrer zwanzigjährigen Tochter Sonia im Schlepptau, von der sowohl Marc als auch David der Vater sein könnte. 
Die Brüder haben mittlerweile das Autohaus ihres Vaters Victor übernommen, der sich enthusiastisch seiner gerade erst entdeckten Enkelin annimmt, aber ein schwieriges Verhältnis sowohl zu seinen beiden Söhnen als auch zu seiner Frau Irène unterhält. Die hatte während der Hochzeit ihres Sohnes David mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne nichts besseres zu tun, als mit einem Tischler in dessen Lieferwagen zu schlafen und anschließend von ihm entführt und misshandelt zu werden. Der dritte Band beginnt mit der fieberhaften Suche nach Irène, und ausgerechnet ihr betrogener Ehemann Victor hat eine Eingebung, wo sie zu finden sei. 
Nach Irènes Rettung sind die Dinge allerdings alles andere als im Lot. Die Gemeinde hat mit den schwerwiegenden Folgen einer Überschwemmung zu kämpfen, die auch das Autohaus der Sollens-Brüder in Mitleidenschaft gezogen hat. David, der Josianne vor allem geheiratet hat, weil sie ihm glaubhaft vermittelte, dass sie schwanger sei, muss herausfinden, ob er seine Frau auch aus anderen Gründen geehelicht hat, wohingegen Édith, die nun mit Marc zusammengezogen ist, unter dessen Sexbesessenheit zu leiden beginnt. Schließlich hat die Redakteurin der Zeitschrift „City“ bereits einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich… 
„Sie traf nach Einbruch der Dunkelheit bei sich zu Hause ein. Marc lag schon im Bett und schlief. Sie setzte sich auf die Bettkante und holte ihm, ohne ihn zu wecken, einen runter – eine Schachtel Kleenex in Reichweite. Dann legte sie sich im Halbdunkel neben ihn. Dank dieser List hatte sie gute Chancen, eine ruhige Nacht zu verbringen – theoretisch würde sich vor Tagesanbruch nichts mehr abspielen. Sie wollte nur still neben ihm liegen bleiben und im Dunkeln an die Decke starren.“ (S. 156) 
Nachdem die ersten beiden „Doggy Bag“-Bände voller Action, Sex und Verwirrungen angesichts der überraschenden Rückkehr von Marcs und Davids früherer Geliebten waren, hat sich die Aufregung im dritten Band etwas gelegt. Die Beziehungen zwischen den Protagonisten sind zwar weiterhin problematisch, doch haben sich mittlerweile einige feste Bindungen ergeben. 
Für Aufregung sorgt vor allem die Überschwemmung und Marcs auch von den Medien ausgeschlachtetes Heldentum, nachdem er ein Mädchen vor dem Ertrinken gerettet hatte. Sprachlich bewegt sich „Doggy Bag – Drei“ nach wie vor auf hohem Niveau, aber der Plot hat viel von seiner Faszination verloren und zieht sich durch eine markante Geschwätzigkeit gerade in den Dialogen ganz schön in die Länge. Immerhin endet das Buch wieder mit einem Paukenschlag.


Philippe Djian – „Doggy Bag – Zwei“

Montag, 13. Mai 2024

(Diogenes, 310 S., Tb.) 
Mit Romanen wie „Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Verraten und verkauft“ avancierte Philippe Djian ab Mitte der 1980er Jahre zum Kultautor, dessen knackige Prosa, unverblümte Sprache und wilden Stories bis heute kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt haben. Im Jahr 2005 startete der Franzose mit „Doggy Bag“ ein ungewöhnliches literarisches Experiment, eine Soap in sechs Bänden. Im Mittelpunkt seiner insgesamt 1800 Seiten umfassenden Seifenoper stehen die beiden Brüder Marc und David Sollens, die in ihren Zwanzigern in dieselbe Frau, Édith, verliebt gewesen sind, worauf sie die Stadt für zwanzig Jahre mit ihrem Ausweich-Lover Paul verließ, nur um zwanzig Jahre später wieder zurückzukehren – mit ihrer neunzehnjährigen Tochter Sonia im Schlepptau. 
Bevor sich die Rivalität der beiden Brüder, die gemeinsam ein Autohaus führen, wieder zuspitzen kann, erscheinen die Fronten im zweiten Band bereits abgesteckt. Der sexbesessene Marc kauft für sich und Édith eine Villa und will fortan monogam leben, während David etwas verunsichert der Hochzeit mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne entgegensieht. Marcs und Davids Vater Victor schlägt sich mit Depressionen angesichts seiner Sterblichkeit herum und hofft, nicht ganz vergebens, auf eine Versöhnung mit seiner Frau Irène. Solange sie sich aber noch sperrt, fokussiert sich Victor ganz auf seine Enkelin Sonia. 
Irène lässt sich derweil auf eine Affäre mit einem wortkargen Tischler ein, der ihr zwar berauschende Orgasmen in seinem Lieferwagen beschert, dann aber eine Seite an sich offenbart, die Irène sprachlos macht. Und Marc muss feststellen, dass es viel schwieriger ist, monogam zu bleiben, als er erwartet hatte… 
„Im Übrigen hatte ihn diese Rothaarige fast mit den Augen verschlungen. Sie hatte ihm keine Chance gelassen, wirklich nicht die geringste. Wie viele Männer hätten sich schon geweigert, die Gelegenheit beim Schopf zu packen? Was für Schlussfolgerungen ließen sich aus dem bedauerlichen Fehltritt ziehen? Keine einzige. Zum Glück keine einzige. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, blieb noch immer der gleiche. Dieser Ausrutscher, diese Entgleisung änderte gar nichts. Nur noch Édith. Von nun an nur noch Édith.“ (S. 216). 
Djian bleibt sich auch bei seiner sechsteiligen Soap insofern treu, als er genüsslich die amourösen Abenteuer und Verstrickungen sich nah stehender Menschen beschreibt und seziert, wobei die Protagonist:innen bei Djian mit ihm zusammen altern. 
Als der Autor im Jahr 2005 mit „Doggy Bag“ begann, zählte er selbst schon 55 Lenze. Insofern verwundert es nicht, wenn nun vor allem die über Vierzigjährigen krachen lassen, aber auch jenseits der sechzig wird hier kräftig bei jeder sich bietenden Gelegenheit gevögelt. Es ist vor allem Djians sprachlicher Finesse zu verdanken, dass „Doggy Bag – Zwei“ kurzweilig zu unterhalten versteht, ohne bei den Beziehungen zwischen den Beteiligten besonders in die Tiefe zu gehen. 
„Ich versuchte, mich auf demselben Terrain durchzukämpfen, auf dem sich das Fernsehen bewegt, und ich versuche die zurückzuerobern, die kein Buch mehr aufschlagen und nur noch auf den Bildschirm starren“, beschrieb der Autor das Konzept von „Doggy Bag“. „Die Schlacht ist vielleicht von vornherein verloren, aber man muss sie trotzdem schlagen…“ 
Es ist in der Tat kaum anzunehmen, dass Djians ehemalige Leser, die nun vor der Glotze versauern, ausgerechnet durch seine Soap-Romane zurück in die literarische Welt finden, vor allem nicht über sechs Bände lang, doch vergnüglich – mehr aber auch nicht – sind die turbulenten, dialoglastigen und temporeichen Verwicklungen allemal. Und mit einem geschickten Cliffhanger vermag es Djian eventuell sogar, seine Leser zum nächsten Band greifen zu lassen…


J. Paul Henderson – „Daisy“

Sonntag, 24. März 2024

(Diogenes, 336 S., HC) 
Mit „Der Vater, der vom Himmel fiel“ und „Letzter Bus nach Coffeeville“ hat der britische Schriftsteller J. Paul Henderson bereits zwei eindrucksvolle Belege seiner Fähigkeiten präsentiert, mit viel Wärme und Feingefühl die Lebensgeschichten einfacher, aber doch irgendwie besonderer Menschen zu erzählen, die der Leserschaft bereits nach wenigen Seiten ans Herz wachsen. Mit seinem neuen Roman „Daisy“ ist Henderson ein weiterer äußerst liebenswerter Wurf gelungen. 
Dass Herod S. Pinkey nach dem Kindermörder Herodes benannt worden ist, stellt nur eine von vielen Kuriositäten und Demütigungen dar, die Herod durch seinen Vater im Leben erleiden musste. Dazu zählt auch der Umstand, dass Herod nach seinem Schulabschluss zwar in der Firma seines Vaters arbeiten durfte, aber nie über einfache Tätigkeiten in der Poststelle oder im Facility Management hinaus gefordert wurde. 
Nach dem Tod seines Vaters und dem Selbstmord seiner Mutter ist Herod, der lieber Rod genannt werden will, ein reicher Mann, der völlig überfordert damit gewesen wäre, die Firma seines Vaters weiterzuführen, und stattdessen praktisch umsonst in einer Galerie zu arbeiten anfängt, um neue Freunde zu finden. Rod kommt auf diese Weise auch an ein paar Dates, doch erst als er seinen Freunden Donald und Edmundo den neuen Fernseher vorführen will, verliebt er sich in Daisy, die in der Gerichtsshow „Judge Judy“ ihren Ex-Freund auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt hat. Rod schaut sich am folgenden Tag wiederholt die Aufzeichnung der Sendung an, wobei er sich nicht daran stört, dass diese selbst bereits vor dreizehn Jahren ausgestrahlt worden ist. 
„Der größte Haken dabei war, dass ich nun zwar Daisy kannte, ganz gleich wie virtuell, sie aber noch nicht einmal ahnte, dass es mich überhaupt gab. Ich wiederum wusste nichts von ihren derzeitigen Umständen: wo sie wohnte, ob sie alleinstehend oder verheiratet war, am Leben oder – Gott bewahre – tot. All dass musste ich natürlich erst in Erfahrung bringen, bevor ich in ein Flugzeug stieg und mich in einem Land, in das ich nie wieder einen Fuß zu setzen geschworen hatte, auf die Suche nach ihr machte.“ (S. 159) 
Tatsächlich engagiert Rod eine Detektei, die wiederum in den USA einen Detektiv auf die Suche nach Daisy Lamprich ansetzt. Zusammen mit seinen beiden Freunden unternimmt Rod schließlich eine abenteuerliche Odyssee in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten… 
Obwohl der Ich-Erzähler Herod „Rod“ S. (für Solomon) Pinkey gleich zu Beginn konstatiert, dass er zu der Sorte Mensch zähle, die nicht gern von sich reden, und in eine Daisy Lamprich verliebt sei, erweist sich Herod auf den folgenden 330 Seiten als sehr eloquenter, humorvoller Chronist seines ungewöhnlichen Lebens. 
Bereits in der Beschreibung seines komplizierten Verhältnisses zu seinen Eltern lässt sich erahnen, dass Herods Biografie einige Stolpersteine bereithält, und Henderson beweist großes Geschick darin, seinen Protagonisten als einen sich selbst nicht allzu ernst nehmenden Lebenskünstler zu portraitieren, der trotz leichter Legasthenie und Schwierigkeiten, Freunde und Anerkennung zu finden, seinen Weg macht und bereit ist, auch unorthodoxe Wege zu seinem Glück einzuschlagen. 
Henderson nimmt sich viel Zeit, um nicht nur Herod mit all seinen liebenswert erscheinenden Schrullen zu charakterisieren, sondern auch dessen Beziehungen zu den Menschen, die ihm am nächsten stehen und die ihn schließlich von England aus auf die Odyssee in den USA begleiten. 
Mit „Daisy“ ist Henderson eine sehr kurzweilige Geschichte über das ungewöhnliche Leben eines Mannes mit einigen Handicaps gelungen, wobei diese immer wieder durch kursiv gedruckte Kapitel umrahmt wird, in denen sich Rod mit seinem Verleger Ric darüber unterhält, wie er die Liebesgeschichte rund um die titelgebende Daisy am besten verpackt. Es ist ein Roman voller liebenswürdiger Charaktere und skurriler Abenteuer, ein Roman voller Fantasie und Mut, seine Träume zu verwirklichen, so unmöglich sie auch erscheinen mögen. Das macht einem vor allem die grandiose Pointe vor Augen. 

Scott Alexander Howard – „Das andere Tal“

Mittwoch, 20. März 2024

(Diogenes, 464 S., HC) 
Denkt man an Zeitreisen, kommt einem als Filmliebhaber sofort mehrere Filme in den Sinn, von George Pals „Die Zeitmaschine“ (1960) nach dem Roman von H.G. Wells, Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“-Trilogie und James Camerons „Terminator“-Filme bis zu Darren Aronofskys „The Fountain“. In der Literatur sind es vor allem Science-Fiction-Autoren wie Robert A. Heinlein („Predestination – Entführung in die Zukunft“), Dan Simmons („Ilium“) und Stephen Baxter („Zeitschiffe“), die sich mit Zeitreisen beschäftigen, aber auch im Bereich der Fantasy und der „normalen“ Belletristik sind thematisch relevante Werke wie Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“ oder Félix J. Palmas „Die Landkarte der Zeit“ zu finden. Nun hat sich der kanadische Philosoph Scott Alexander Howard in seinem Debütroman „Das andere Tal“ auf ebenso philosophische wie einfühlsame Weise mit dem Thema auseinandergesetzt. 
Die schüchterne Odile Ozanne steht kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag und damit auch vor der Entscheidung, welchen Weg sie nach der Schule einschlagen werden. Bevor der Unterricht durch Pichegru endet und die praktische Lehre in der (namenlosen) Stadt beginnt, stellen verschiedene Handwerker und Angestellte in der Schule ihre Tätigkeiten vor, dazu stehen Ausflüge zu Bauernhöfen, zur Sägemühle und an die Grenze an. Die dort stationierten Grenzbeamten achten darauf, dass es zu keinen unerlaubten Grenzübertritten in die jeweils benachbarten Täler kommt – mit den jeweils gleichen Städten, aber zwanzig Jahre in der Vergangenheit bzw. in der Zukunft liegen. Über die Petitionen, wem ein Grenzübertritt gestattet wird – in der Regel nur bei Trauerfällen -, entscheidet das Conseil. 
Odiles Mutter hatte sich einst dort beworben, den strengen Auswahlprozess aber nicht überstanden und fristet nun als gewöhnliche Angestellte dort ihr Dasein. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als ihre Tochter nun dort eine Ausbildung absolviert, um auch ihren eigenen Status in der Gemeinde zu erhöhen. Tatsächlich gelingt es Odile, trotz ihrer nicht überzeugenden Aufsätze, von ihrem Lehrer Pichegru als als eine von zwei Kandidat:innen zum Auswahlverfahren berufen zu werden, bei dem sich die Teenager mit ihnen vorgelegten Modellfällen auseinandersetzen, das Für und Wider der Petitionen der Trauernden abwägen und letztlich eine Entscheidung über Gewährung oder Ablehnung des Gesuchs treffen müssen. Selbst bei einer Zusage ist es den Trauernden nicht gestattet, Kontakt zu den geliebten Personen aufzunehmen, sondern sie dürfen sie nur aus sicherer Entfernung aus beobachten. 
Dass Odile dabei eine Hürde nach der anderen nimmt, ist fraglos auch dem Umstand geschuldet, dass sie kürzlich zwei Besucher aus der Zukunft erkennt und ihr bewusst wird, dass ihr Schulkamerad Edme nicht mehr lange zu leben hat. Odile beginnt, sich mit Edme anzufreunden, doch gelingt es ihr nicht, sein Verschwinden nach einem gemeinsamen Ausflug mit Alain, Justine und Jo zu verhindern. Am Ende muss sie selbst einen Weg finden, um in der Vergangenheit einen Weg zur Beeinflussung der tödlichen Ereignisse zu finden, denn je mehr Zeit Odile mit Edme verbringt, desto mehr entwickelt sie Gefühle für ihn… 
„Wie er so aufs Ufer zurannte, wurde mir etwas bewusst. Auch wenn es nur ein stilles Eingeständnis vor dem Spiegel gewesen war – dadurch, dass ich meine Gefühle in Worte gefasst hatte, hatte ich alles zwischen uns verändert. Von jetzt an würde ich mich immer fragen, ob es mit Edme voranging oder nicht so gut lief, würde messen, wie weit ich noch von einem unklaren, aber dennoch schmerzhaft ersehnten Ziel entfernt war.“ (S. 115) 
Scott Alexander Howard, der sich in Harvard als Postdoktorand mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur beschäftigte, ist mit „Das andere Tal“ ein ungewöhnlicher Roman gelungen, der in einer zwar französischsprachigen, aber nicht näher definierten Gegend und Zeit angesiedelt ist. In der Konstellation dreier komplett von der Außenwelt abgeschnittener, identischer Täler und Städte, zwischen denen jeweils zwanzig oder vierzig Jahre liegen, spielt der Autor natürlich überwiegend mit dem Gedanken, welche Auswirkungen ein Eingreifen in vergangene Ereignisse auf die Gegenwart und Zukunft haben könnte, aber es ist auch eine sanft erblühende Liebesgeschichte zwischen zwei Jugendlichen, die keine echte Chance bekommt, sich zu entwickeln, geschweige denn zu vollenden. 
Was Howard dabei besonders gut gelingt, ist die Beschreibung einer fast diktatorisch beherrschten Welt, in der argwöhnisch das Treiben der Mitmenschen beäugt und bei auffälligem Fehlverhalten entsprechende Strafmaßnahmen eingeleitet werden. Wie die Patrouille, zu der schließlich auch Odile eingeteilt wird, auch mit tödlichen Schüssen an der Grenze darauf achtet, dass Trauernde zu keinen unüberlegten Handlungen hingerissen werden, erinnert nicht von ungefähr an die frühere Grenze zwischen der BRD und der DDR, aber inmitten dieser tristen Schilderung des Alltags in einer Art Überwachungsstaat lässt der Autor viel Raum für die komplexen Gefühlswelten seiner Ich-Erzählerin Odile. 
Scott Alexander Howard ist mit „Das andere Tal“ ein kluger, einfühlsamer und philosophischer Roman über vorbestimmtes Schicksal und freien Willen, über Trauer, Liebe, Pflichterfüllung und Tod, über Selbstbestimmung und Gemeinschaftswohl, über Loyalität und Verrat gelungen. Viel Stoff also für einen einzigen Roman, dem es allerdings über den zahlreichen Gedankenspielen nicht immer gelingt, die emotionale Entwicklung seiner Protagonistin nachvollziehbar zu gestalten.