(Diogenes, 288 S., HC)
Seit der in der Schweiz geborene Joachim B. Schmidt
als Teenager erstmals nach Island gereist ist, hat er sich in die Insel verliebt
und sich selbst versprochen, wiederzukommen, zunächst als Tourist, aber dann folgte
auch ein Jahr mit Jobs in einer Gärtnerei und auf einem Bauernhof, bis er im
Jahr 2007 entschied, dorthin auszuwandern. Mit seinen Erzählungen und Romanen
wie „Kalmann“, „Tell“ und „Kalmann und der schlafende Berg“ hat Schmidt
seit 2010 nicht nur zahlreiche Preise gewonnen, sondern auch ein feines Gespür
für seine Wahlheimat entwickelt, die auch in seinem neuen Roman „Ósmann“
zum Ausdruck kommt.
Im Jahr 1862 wird Jón Magnússon Ósmann auf einem Bauernhof
in Nordisland geboren, lernt von seinem Vater Magnús den Fährbetrieb und
übernimmt diesen später. „Nonni“, wie er liebevoll von seinem Vater genannt
wird, kommt allerdings mehr nach seiner Mutter Sigurbjörg, die ihren Mann um
ein paar Daumenbreiten überragte und dafür verantwortlich sein dürfte, das Nonni
ein so hünenhafter, kräftiger Mann geworden ist. Er ist ein geselliger Kerl,
der gern ein Schwätzchen mit den Fahrgästen hält, sie zum Aufwärmen in seine
Hütte einlädt, wo er ihnen einen Platz am Feuer, Kaffee und Robbenfleisch anbietet.
An einem Sommermorgen im Jahr 1904 tritt Ósmann wie gewöhnlich splitternackt
und hustend vor seine Hütte, grüßt das nebelverhangene Bergmassiv Tindastóll, die
sagenumwobene Insel Drangey weit draußen im Fjord, die Eiderenten und träge
dahinrauschende Gletscherwasser, um dann ins eiskalte Wasser des Ós einzutauchen,
um dann den Tag damit zu verbringen, die Reisenden mit der Seilfähre über den
Ós zu bringen. Doch bevor er sein eiskaltes Bad nehmen kann, bemerkt er
flussaufwärts den nackten Körper einer angeschwemmten Frau. Er trägt den
leblosen Körper in seine Hütte und stellt fest, dass die Frau noch lebt. Er gibt
ihr zu trinken und etwas zu essen, lässt sie schlafen. Doch als er mit einem
Bündel Kleider zurückkommt, ist die Frau spurlos verschwunden. Es kommen andere
Frauen, die nicht wie im Märchen auftauchen und verschwinden, sie bereiten Ósmann
allerdings größeren Kummer, vor allem aber der Tod seines Erstgeborenen.
„Der Tod schien eine willkürliche Angelegenheit zu sein, manche starben eben früher, andere später. Und darum verlor man auch über Ósmanns Erstgeborenen kein Wort. Als hätte es Páll Jónsson nie gegeben. Denn das Leben gehörte den Lebenden, und die Toten, nun ja, die ließ man am besten in Ruhe tot sein – etwas, das ich selbst nur zu gut wusste.“ (S. 127)
Mit „Ósmann“ erzählt Joachim B. Schmidt die
Lebensgeschichte des isländischen Fährmanns Jón Magnússon Ósmann
(1862-1914), wobei ein Mann, der sich als Freund von Ósmann bezeichnet, als
allwissender Erzähler fungiert, die Erlebnisse und Ereignisse nicht unbedingt in
chronologischer Reihenfolge zum Besten gibt. Doch die Jahreszahlen zu Beginn
des Kapitels zusammen mit besonderen Wetterbedingungen und der Anzahl der
Winter, die Ósmann bereits überlebt hat, helfen dabei, den Überblick zu
behalten. „Ósmann“ erzählt aber nicht allein die Lebensgeschichte eines ebenso
engagierten wie hilfsbereiten und kommunikativen Fährmanns, sondern das Leben
in diesen oft einsamen, kalten Sphären vor dem Hintergrund der Mythen und Sagen,
die im Dasein der Isländer eine ebenso große Rolle spielen wie die Menschen, die
dort leben. Schmidt erweist sich als stilsicherer Autor, der mit seiner Sprache
ebenso die unwirtliche Landschaft, das eiskalte Wasser, die weißen Berge und
die Mentalität der Menschen zu beschreiben versteht wie die spezielle Poesie,
zu der sich Ósmann immer mal wieder hinreißen lässt und seinen Gefühlen
Ausdruck verleihen, seiner Lebensfreude und Liebe ebenso wie der im Verlauf
seines Lebens zunehmenden Trauer und Verzweiflung.