Ray Bradbury – „Familientreffen“

Samstag, 5. Oktober 2024

(Diogenes, 228 S., Tb.) 
Mit – oft erfolgreich verfilmten – Romanen und Geschichten wie „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und natürlich „Fahrenheit 451“ zählt der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) zu den großen Schriftstellern der fantastischen Literatur, fühlte er sich doch gleichermaßen in den Genres des Kriminalromans, der Science-Fiction, der Fantasy und des Horrors zuhause. Ein frühes Beispiel seiner Erzählkunst bot der 1947 veröffentlichte und längst vergriffene Sammelband „Dark Carnival“, der Geschichten aus den Jahren 1943 bis 1947 vereinte. 1955 erschien mit „The October Country“ ein Band, der knapp die Hälfte der insgesamt 27 Stories aus „Dark Carnival“ in teils überarbeiteter Form zusammenfasste und um vier neue Geschichten erweitert wurde. Bradbury entführt seine Leser mit „Familientreffen“ - so der deutsche Titel - in Grenzbereiche der menschlichen Vorstellungskraft und macht uns mit Zirkusleuten, Vampiren und Schriftstellern mit Mordgelüsten vertraut. 
In „Der Zwerg“ besucht die titelgebende Figur allabendlich das Spiegelkabinett, wenn der Besucherandrang nicht mehr so stark ist, zahlt seine zehn Cent und rennt bis zum Langen Lulatsch durch. Doch dann treibt der Betreiber des Kabinetts einen makabren Scherz mit dem Zwerg… 
George Garvey hat zwar eine attraktive Frau, wird aber von seiner Umgebung als der langweiligste Typ überhaupt betrachtet. Eine Gruppe von sieben Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, Garvey einen Besuch abzustatten, sich über Musik und Bücher auszutauschen, zu denen er nichts beitragen kann, und sich anschließend, als sie wieder unter sich sind, über den Mann herzuziehen, der offenbar Millionen Wege kennt, einen zu lähmen, in Tiefschlaf oder sogar ins Koma zu versetzen. Doch Garvey lässt die Schmach nicht auf sich sitzen, informiert sich und verblüfft seine Besucher durch sein überraschend profundes Wissen. Um seine Popularität aufrechtzuerhalten, sieht sich Garvey gezwungen, immer ausgefallenere Marotten zu entwickeln. Nachdem er eine abgetrennte Fingerspitze durch einen Fingerschutz eines Mandarins ersetzt hatte, plant er für den Verlust eines Auges einen besonderen Coup: „Der wachsame Poker-Chip von H. Matisse“ kann allerdings nicht verhindern, dass Garvey weiterhin ein Langweiler bleibt… 
„Das Skelett“ wiederum erzählt die Geschichte des Hypochonders Mr. Harris, dessen Hausarzt nichts gegen seine schmerzenden Knochen zu unternehmen vermag, weshalb der Mann Hilfe bei einem im Telefonbuch gelisteten Knochenspezialisten sucht. Mr. Munigant sieht das Problem psychischer Natur. Als Mr. Harris einen Ausflug nach Phoenix unternimmt, verschlimmern sich allerdings seine Schmerzen… 
In „Der Bote“ dient Dog für den zehnjährigen, durch eine Krankheit ans Bett gefesselte Martin die Verbindung zur Außenwelt. Über eine Mitteilung am Halsband des Hundes hofft der Junge auf Besuch. Meist ist es Miss Haight, die ihm kleine Törtchen und Bücher über Dinosaurier und Höhlenmenschen mitbringt und Domino, Dame oder Schach mit ihm spielt. Eines Tages kehrt Dog allerdings nicht mehr von seinen Ausflügen nach Hause zurück… 
„Noch lange nach Mitternacht lag Martin da und schaute hinaus auf die Welt draußen vor den kühlen, klaren Fensterscheiben. Jetzt war nicht einmal mehr Herbst, denn es war kein Dog da, um ihn ins Zimmer zu holen. Es würde keinen Winter geben, denn wer könnte Schnee anbringen, der dann in seinen Händen schmolz? Vater, Mutter? Nein, das war nicht dasselbe. Sie konnten nicht mitspielen, dieses Spiel mit den besonderen Regeln und Geheimnissen, mit seinen Geräuschen und Gesten. Keine Jahreszeiten mehr. Die Zeit würde stehenbleiben. Der Vermittler, der Bote, war im wilden Gedränge der Zivilisation verlorengegangen, vergiftet, gestohlen, unter ein Auto geraten, verendet in einem Kanalisationsschacht…“ (S. 108) 
Ray Bradbury vermag mehr, als nur ins Reich der Fantasie abzudriften und unmögliche Geschichten mit skurrilen Figuren zu erzählen, denn im Grunde genommen stecken hinter den Menschen und (sehr menschlich wirkenden) Fabelwesen ganz gewöhnliche Sehnsüchte, Ängste und Begierden, der Wunsch, anerkannt und geliebt zu werden, ein von Sinn erfülltes Leben zu führen und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Auch wenn nicht alle hier versammelten Geschichten zu fesseln vermögen, sind doch schon die spätere Meisterschaft und die sprachliche Brillanz des Autors zu erkennen, der „Familientreffen“ August Derleth, dem Schriftsteller und Verleger von Lovecrafts Werk, gewidmet hat, einem weiteren einflussreichen Wegbereiter der fantastischen Literatur.


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