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James Sallis – „Driver 2“

Sonntag, 6. Februar 2022

(Liebeskind, 156 S., HC) 
Seit seinem Debüt „Die langbeinige Fliege“, dem Auftakt seiner sechs Bände umfassenden Reihe um den Privatdetektiv Lew Griffin, hat der aus Arkansas stammende Schriftsteller James Sallis zwar bereits einige preisgekrönte Romane vorgelegt, doch erst mit dem 2005 veröffentlichten und sechs Jahre später erfolgreich verfilmten Roman „Driver“ hat sich Sallis in den Olymp des literarischen Kriminalromans geschrieben. 2012 legte Sallis mit „Driven“ eine Fortsetzung nach, die dem Vorgänger in nichts nachsteht. 
Vor sechs, sieben Jahren hat Driver seine Karriere als Stuntfahrer in Hollywood-Filmen begonnen, doch wurden seine Talente auch von der Unterwelt zur Kenntnis genommen. Zunächst beschränkte sich Driver nur darauf, die Fluchtwagen zu fahren, später wurde er zwangsläufig mehr in die Überfälle hineingezogen. Als einer der Deals schiefging und Driver selbst zur Zielscheibe seiner Auftraggeber werden sollte, nachdem sie seine Freundin Elsa ausgeschaltet hatten, machte er mit den auf ihn angesetzten Killern kurzen Prozess, schnappte sich die Tasche mit der Viertelmillion Dollars und begab sich auf einen Rachefeldzug, der ihn schließlich zum Mafiaboss Nino führte. 
Mittlerweile ist Driver Anfang Dreißig und noch immer auf der Flucht. Er hat sich mit Paul West eine neue Identität zugelegt und hält nur noch mit seinem alten Kumpel Felix Kontakt. Der war einst als Ranger bei der Operation Wüstensturm beteiligt und verschafft Driver einen Unterschlupf in Phoenix. Doch irgendwie ist Driver wieder auf dem Schirm bei irgendwem gelandet, offenbar bei Leuten, die noch immer eine offene Rechnung mit ihm zu begleichen haben. Einmal mehr muss sich Driver aus seiner Deckung herausbewegen und eine Odyssee zu den Männern unternehmen, die ihm erneut das Licht auspusten wollen … 
„Das war es also, worauf letztlich alles hinauslief. Man saß mitten in der Nacht am Ende der Welt mit einem gescheiterten Killer zusammen und dachte über Standpunkte nach. Hatte er je welche gehabt? Und welche Art von Lügen erzählte er sich selbst? Etwa die, er könnte einen Weg aus all dem hier finden?“ (S. 88) 
Im Grunde genommen erzählt Sallis mit „Driver 2“ die gleiche Geschichte des Vorgängers noch einmal, nur dass die Nebenfiguren ausgetauscht werden. Immer wieder wird kurz zurückgeblickt, auf Drivers Beziehung zu Elsas Eltern, auf die Art und Weise, wie ihm einst ein Kumpel das Fahren beigebracht hatte, wie sich die Gewaltspirale bis zu Ninos Ableben entwickelt hat. Dieses Spiel beginnt mit „Driver 2“ nun von vorn. Sallis entwickelt den Plot auf wieder nicht mal 160 Seiten in kurzen Sequenzen, die mehr Lücken aufweisen als sie Fragen beantworten. Sallis hat es mit seiner höchst assoziativen Sprache zur Meisterschaft darin gebracht, den Leser so in die Handlung und die Köpfe seiner Protagonisten hineinzuführen, dass er die Leerstellen selbst ausfüllt. 
Angereichert werden die kurzen Begegnungen mit Drivers kurzzeitigen Weggefährten und Kontrahenten regelmäßig mit philosophischen Ideen, die in kurze, knackige Sätze verpackt werden. Auch bei den Actionszenen hält sich Sallis nicht lange auf. Drivers Attentäter tauchen wie aus dem Nichts auf und werden innerhalb kürzester Zeit aus dem Rennen genommen, mal auf der Straße, wo sich Driver natürlich am wohlsten und sichersten fühlt, dann aber auch in schummrigen Gassen oder in seiner vorübergehenden Unterkunft. Die Action treibt letztlich nur die Handlung voran und ist für Sallis eher nachrangig. Ihm geht es eher um die Welt, in der sich Driver bewegt und behaupten muss. Mit lakonischer Lässigkeit bleibt Driver einfach am Leben, da er kaum eine Alternative sieht. Sein Leben lang unterzutauchen ist nicht seine Sache, also sucht er die finale Konfrontation, taucht tief in die triste Dunkelheit großstädtischer Pestilenz ab und räumt mit dem Müll auf. 
Auch wenn die Handlung gegenüber „Drive“ wenig Neues präsentiert, ist die Art und Weise, wie Sallis seinen Figuren und ihrer Umgebung Leben einhaucht, einfach einmalig. 

 

James Sallis – „Driver“

Samstag, 5. Februar 2022

(Liebeskind, 160 S., HC) 
James Sallis war im deutschsprachigen Raum nur durch die drei schmalen in der leider nur kurzlebigen DuMont-Noir-Reihe veröffentlichte Bändchen „Die langbeinige Fliege“, „Nachtfalter“ und „Deine Augen hat der Tod“ bekannt, ehe sein 2005 veröffentlichter Roman „Drive“ zwei Jahre später unter dem Titel „Driver“ bei Liebeskind erschien und mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde. Nicht zuletzt durch die 2011 erfolgte Verfilmung des Romans durch Nicolas Winding Refn hat Sallis‘ noch überschaubares Gesamtwerk endlich die verdiente Aufmerksamkeit in der Gemeinde des literarischen Krimis gewonnen. 
In der Anonymität der amerikanischen Großstädte kennt man ihn nur als Driver. Der junge Mann, der zum bekanntesten Stuntfahrer in Hollywood avanciert ist, hat nichts anderes gelernt, als mit Autos umzugehen. Schon als Junge wurde er von seinem Vater auf Diebstahl-Touren mitgenommen. Da er bis zum zwölften Lebensjahr für sein Alter recht klein gewesen war, passte er nämlich durch die kleinsten Öffnungen. Eines Tages hatte seine Mutter aber genug von ihrem Mann, schlitzte ihm mit einem Messer am Esstisch die Kehle auf und landete in der Psychiatrie. 
Driver wuchs bei Pflegeeltern in Tucson auf, lernte von einem Kumpel das Autofahren, bis er ein paar Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag seine Sachen packte, sich den Ford Galaxie von Mr. und Mrs. Smith schnappte und Richtung Kalifornien fuhr, wo er in einer Kneipe den bekannten Stuntfahrer Shannon kennenlernte. Dieser verschaffte ihm die ersten Jobs in Hollywood, nebenbei verdingte sich Driver als Fluchtwagenfahrer. Mittlerweile hält es Driver selten länger an einem Ort. Seine Sachen sind stets schnell gepackt, Spuren hinterlässt er so gut wie keine. Doch dann macht er bei einem Deal mit, den er eigentlich nicht überleben sollte. Driver begibt sich auf eine Rachemission. Schließlich hat er in den Drehpausen so einige Tricks von den Stuntleuten aufgeschnappt. Auf dem Weg zu Nino hinterlässt Driver einige Leichen, denen er Gutscheine von Ninos Pizzeria anheftet, so dass ihr Auftraggeber schnell erfahren wird, was da auf ihn zukommt … 
„Etwas schnürte ihm den Hals ab. Scheiße – Draht? Er zerrte daran, wusste aber, dass es nichts nützen würde. Irgendwer hinter ihm zog immer fester zu. Und das Warme auf seiner Brust, das musste dann wohl Blut sein. Als er fieberhaft versuchte, nach unten zu sehen, fiel ein glutiger Fleischbrocken, sein Fleisch, auf seine Brust. Das war’s dann also, dachte er, in dieser beschissenen Gasse, mit vollgeschissener Hose. Verdammte Scheiße. Driver steckte dem Espresso-Mann einen Coupon von Nino’s in die Jackentasche. Vorher hatte er die Worte ,Wir liefern auch außer Haus‘ rot eingekreist.“ (S. 119) 
Auch in seinem elften Roman braucht James Sallis nicht viele Worte, um die turbulente Geschichte eines jungen Mannes zu erzählen und nebenbei auch noch ein erschöpfendes Bild eines Landes zu zeichnen, in dem der American Dream längst zum Alptraum für die meisten Menschen geworden ist. In einer Zeit, in der die Städte immer hässlicher werden und ihre verlassenen Ränder mit den dort verbliebenen Menschen vor sich hin faulen, erzählt Sallis die Geschichte eines jungen Kerls, der gerade mal Anfang Zwanzig ist und so ziemlich alles verloren hat, was in seinem Leben mal Wert gehabt hat, vor allem die Familie. 
Nach den eigenen Eltern hat er auch seine Pflegeeltern hinter sich gelassen, Driver verliert Freunde und Ersatzväter wie Shannon und Doc. Ganz auf sich allein gestellt und so gut wie nur möglich in der Anonymität lebend kann sich Driver nur auf seine versierten Künste als Monteur und Fahrer verlassen. Sallis beschreibt in seiner unnachahmlichen Sprache eine durch und durch korrupte Welt, in der nur die Stärksten und Cleversten überleben. Selbst den Leuten, denen er am meisten zu vertrauen bereit ist, verraten ihn ohne Hemmungen. Geld und Macht scheint alles zu sein, was zählt. Driver wird in diese düstere Welt hineingesogen, kann sich behaupten, verlässt sich nur auf sich selbst, schlägt sich durch, strandet immer wieder in heruntergekommenen, anonymen Motels. Auf Rachefeldzug geht er nur, um selbst am Leben zu bleiben. Spaß bereitet es ihm nicht, hinter sich aufzuräumen, aber gewisse Dinge müssen einfach getan werden. Dabei gestatten sich Sallis und sein Protagonist keine Gefühlsduseleien. Liebe und Mitleid haben hier keinen Platz. Sallis wechselt ständig Ort und Zeit, lässt Driver in Träumen und Erinnerungen schwelgen, so dass sich erst nach und nach das Puzzle seines Lebens zusammensetzt. Das ist so temporeich und spannend geschrieben wie ein düsterer Action-Thriller, der einige Jahre später zum Glück mit „Driver 2“ noch seine Fortsetzung finden wird. 

 

James Sallis – „Deine Augen hat der Tod“

Montag, 31. Januar 2022

(Liebeskind, 192 S., HC) 
Nach den ersten drei Romanen um den Privatdetektiv Lew Griffin und vor der Trilogie um den Ex-Cop John Turner und dem preisgekrönten, auch erfolgreich verfilmten Roman „Driver“ präsentierte der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis 1997 mit „Death Will Have Your Eyes“ einen Roman, der in seiner komplexen Struktur mit einem minimalistisch umrissenem Plot typisch für dem Autor werden sollte. In seinem früheren Leben ist David Auftragskiller für die Agency der Regierung gewesen, aber das ist bereits neun Jahre her. Mittlerweile hat er Karriere als Künstler gemacht und ist mit seiner Lebensgefährtin Gabrielle sesshaft geworden. Bis er eines frühen Morgens einen Anruf erhält, der ihn auf Schlag in sein früheres Leben zurückversetzt. 
David geht zum Joggen in den Part, ruft von einer Telefonzelle zurück. Die Agency hat bereits alles arrangiert. Bereits um zehn Uhr wird er unter dem Namen Dr. John Collins eine Maschine der American Airlines nach St. Louis besteigen, dann geht es weiter nach Memphis. Kaum hat er aufgelegt, wird David von zwei Räubern angegriffen. Wie auf Knopfdruck ist er wieder ganz der Alte, schaltet die beiden unerfahrenen Angreifer im Nu aus. Gabrielle bittet er, ein paar Sachen zu packen und irgendwo unterzutauchen. Als er wie geplant das für ihn reservierte Motelzimmer bezieht, retten ihm seine alten Instinkte das Leben. Offenbar hat die Agency jemanden geschickt, ihn auszuschalten, doch David geht mit seinem Attentäter eine friedliche Kooperation ein. 
Im Büro seines alten Chefs Johnsson wird David darüber informiert, dass er ebenso wie sein früherer Kollege Luc Planchat Teil eines bestimmten Programms gewesen sei, deren Spuren die Agency nun löschen will. Das Problem ist, dass Planchat sich ebenso wie David von der Agency losgesagt hat, aber mit einigen mysteriösen Todesfällen in der Vergangenheit in Verbindung gebracht wird. David bleibt nichts anderes übrig, als Jagd auf Planchat zu machen, um nicht selbst ins Visier der Attentäter zu geraten, aber auch, um Gabrielle zu finden. 
„All diese Biegungen und Verzweigungen, die Dunkelheit und Desorientierung, die Suche nach einem weisen Mann, Informationen sammeln, wie man sagt – all das war meine eigenwillige, blinde Fahrt von Washington nach Süden. Und als mir das klar wurde, wusste ich plötzlich auch, dass Gabrielle der Grund dafür war, dass ich meinen Weg nach New Orleans gesucht und gefunden hatte, wenn auch umständlich und vorsichtig. Es hatte wenig oder gar nichts mit Planchat und den anderen zu tun, die möglicherweise dort draußen waren.“ (S. 149) 
Mit „Deine Augen hat der Tod“ hat Sallis einen ganz und gar unkonventionellen Thriller abgeliefert, der nichts mit den action- und wendungsreichen Plots à la James Bond und Jason Bourne zu tun hat. Sallis führt seinen Protagonisten nur kurz mit dessen Reaktivierung ein. Die Wege von David und Gabrielle trennen sich so schnell, kaum dass wir Gabrielle als Tochter einer irischen Mutter und eines mexikanischen Vaters kennengelernt haben. Fortan begleitet der Leser David bei seinem Road Trip durch die Staaten, führt ungewöhnliche Dialoge mit seinen alten Weggefährten Johnsson und Blaise, trifft auf merkwürdige Weise mit Attentätern zusammen und lernt Amerika aus der Perspektive des einsam Reisenden kennen, die Cafés und Diners, die Motels und Städte für Piltdown, das eine exakte Nachbildung des britischen Oxford darstellt. 
Immer wieder flicht Sallis detaillierte Beschreibungen der Stationen auf Davids Reise ein, was den Erzählfluss der recht kurzen Geschichte zwar hemmt, dafür bringt der Autor seinem Publikum intime Eindrücke und Erinnerungen seines Protagonisten näher. Ohnehin spielt die Handlung selbst nur eine untergeordnete Rolle und dient nur dazu, auf rudimentäre Weise die Grundzüge des Agenten-Thrillers abzudecken. Viel mehr zeichnet Sallis wie so oft das vielschichtige Portrait eines Menschen außerhalb der Gesellschaft, auf der Suche nach sich selbst und der Bedeutung seiner Erinnerungen und Erfahrungen. Dieses Geflecht wirkt nicht immer nachvollziehbar, sinnvoll oder logisch – es ist letztlich so verworren wie die Reise des Lebens selbst. Das in wenigen Sätzen abzubilden und dabei ganze Seelenlandschaften zu evozieren ist Sallis‘ große Kunst. 

 

James Sallis – „Der Killer stirbt“

Samstag, 29. Januar 2022

(Liebeskind, 251 S., HC) 
Nicht nur mit seinen beiden Reihen um den Privatdetektiv Lew Griffin und den Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater John Turner hat sich der US-amerikanische Autor James Sallis in die Herzen von Kritikern und Lesern geschrieben, populär wurde er vor allem durch seinen 2008 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Roman „Drive“, den Nicolas Winding Refn drei Jahre später mit Ryan Gosling in der Hauptrolle verfilmte. 2011 legte Sallis mit „Der Killer stirbt“ erneut einen mehrfach (u.a. mit dem Hammett Prize und dem Grand prix de littérature policière) ausgezeichneten Roman vor, der zwar von Mord und Tod und Ermittlungen handelt, aber jede Erwartung an einen konventionellen Kriminalroman unterläuft. 
Der alternde und sterbende Auftragsmörder Christian soll den unbedeutenden Buchhalter John Rankin ausschalten. Tagelang verfolgt der Killer den sehr strukturierten Tagesablauf des Hyundai fahrenden Mannes und muss dann erstaunt feststellen, dass ihm offensichtlich ein anderer Kollege zuvorgekommen ist, es aber vermasselt hat. Als der angeschossene Rankin aus dem Bürogebäude getragen und ins Krankenhaus gefahren wird, versucht Christian herauszufinden, was da genau passiert ist und wie seine Auftraggeber auf die gescheiterte Mission reagieren. 
Währenddessen träumt der elfjährige Jimmie davon, wie dem ihm unbekannten Wayne Porter die Kehle durchgeschnitten wird. Im Wachzustand versucht er das Leben in dem Haus zu regeln, in dem er seit einem Jahr schon ganz allein lebt. Erst war seine Mutter von einem Tag auf den anderen verschwunden, wenig später suchte auch sein Vater das Weite. Jimmie verkaufte das Auto seines Vaters, die Silbermünzen seiner Mutter und fing schließlich an, übers Internet Sachen zu kaufen und zu verkaufen, so dass er von der Gesellschaft und den Institutionen unbemerkt sein eigenverantwortliches Leben führen kann. Einzig die aufmerksame Nachbarin Mrs. Flores weiß von seinem Geheimnis und versorgt den Jungen, der jede Woche im Altenheim aus einem Buch vorliest, gelegentlich mit Essen. 
Die beiden Cops Sayles und Graves versuchen, den Mordanschlag auf Rankin zu untersuchen, kommen aber keinen Schritt weiter. Sayles ist ohnehin in Gedanken oft bei seiner Frau Josie, die im Hospiz auf ihren Tod wartet. Schließlich kreuzen sich die Wege von Christian und Sayles … 
„Sayles beugte sich zum Bett hinunter. Ihm fielen alle möglichen Dinge ein, die er sagen könnte. Über das Verständnis, was jetzt wichtig war. Dass es okay war, loszulassen. Ruhe zu finden. Aber was er flüsterte, mit den Lippen nur Zentimeter vom Ohr des Mannes entfernt, war etwas viel Einfacheres: Du bist nicht allein.“ (S. 247) 
Bereits in seinen ersten Romanen um den Privatdetektiv, Literaturdozenten und Autor Lew Griffin hat James Sallis sich von den gängigen Konventionen von Dramaturgie und Erzählfluss entfernt und sich darauf konzentriert, durch detailliert geschilderte Augenblicke und Erinnerungsfetzen ein Gefühl für seine Figuren zu entwickeln. Mit „Der Killer stirbt“ hat Sallis diese Kunst perfektioniert. Es nimmt etwas Zeit in Anspruch, bis sich der Leser in die letztlich miteinander verwobenen Einzelschicksale hineinfindet. Die beiden Detectives Sayles und Graves versuchen ebenso wie der allmählich von seiner tödlichen Krankheit gezeichnete, langsam erblindende Killer Christian herauszufinden, wie es zu dem Attentat auf den unbedeutenden Buchhalter gekommen ist. 
Doch die Aufklärung wird zur Nebensache, schließlich muss sich Christian mit seiner eigenen Sterblichkeit und Sayles mit dem nahenden Tod seiner Frau auseinandersetzen. Jimmie ist schließlich durch seine Alpträume mit Christian verbunden, sucht den Sinn des Lebens im Internet, wo er auf ein interessantes Blog stößt, in dem ein Autor namens Traveler mit seinen Beiträgen das Leben seiner Leser verändert hat. 
Sallis geht es nicht darum, eine klassische Whodunit-Geschichte zu erzählen. Er bringt auf einzigartige Weise die Schicksale einzelner Menschen zusammen, verzichtet auf chronologische Kohärenz, wechselt ständig zwischen den Figuren und ihren Gedanken, Erinnerungen, Träumen und Erlebnissen hin und her. Verlust und Tod und Angst verbindet sie alle miteinander, doch die Beziehungen zwischen ihnen sind fragil, lassen sich lange Zeit nur erahnen. 
Mit seinen gerade mal 250 Seiten ist „Der Killer stirbt“ zu kurz geraten, um sich auch nur mit einer der Figuren identifizieren zu können, die kaum miteinander ins Gespräch kommen, aber in den messerscharf formulierten Beobachtungen und Gedanken kommt die ganze Tragik des menschlichen Daseins zum Ausdruck. Das ist vielleicht weniger ein gelungener Kriminalroman als große, wenn auch sperrige Literatur. 

 

Hari Kunzru – „Red Pill“

Samstag, 4. September 2021

(Liebeskind, 352 S., HC) 
Mit seinen Romanen „Götter ohne Menschen“ und „White Tears“ hat sich der britische Autor Hari Kunzru bereits als einer der interessantesten Stimmen innerhalb der Gegenwartsliteratur präsentiert. Nun legt er mit „Red Pill“ einen vielschichtigen Roman vor, der nicht von ungefähr auf die Wahl zwischen den Pillen im Science-Fiction-Klassiker „The Matrix“ verweist. 
In seinem neuen Roman schickt Kunzru seinen Protagonisten auf eine wilde Odyssee der Selbstfindung, die von Paranoia, Verschwörungstheorien und medialer Manipulation geprägt wird. Ein amerikanischer Schriftsteller in den mittleren Jahren, seit fünf Jahren mit der Menschenrechtsanwältin Rei verheiratet, mit der er und ihrer gemeinsamen dreijährigen Tochter in Brooklyn lebt, erhält ein dreimonatiges Stipendium für den Aufenthalt der in Berlin Wannsee Kulturstiftung Deuter Zentrum für Sozial- und Kulturforschung. Hier versucht er, nicht nur seine Schreibblockade zu durchbrechen, sondern auch seine Ehe zu retten, die – wie er glaubt - unter seiner mangelnden Inspiration und Produktivität leidet. 
Doch während die Akademie ihrem Gründer, einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier, der als vermögender Industrieller das Ziel verfolgte, „das volle Potenzial des individuellen menschlichen Geistes“ zu fördern, Werte wie Offenheit und Transparenz proklamiert, sieht sich der US-Amerikaner gezwungen, in einem Arbeitsraum mit den anderen Stipendiaten zu schreiben und an gemeinsamen Abendessen teilzunehmen. Schließlich gewinnt er den Eindruck, dass sein Zimmer überwacht wird. Statt sich mit der unerwarteten Arbeitssituation zu arrangieren, unternimmt der Schriftsteller lange Spaziergänge in Wannsee, wo einst die Nazis die Vernichtung der Juden beschlossen haben, streamt in seinem Zimmer die Cop-Serie „Blue Lives“, dessen Showrunner er zufällig bei einer Gala anlässlich der Berlinale kennenlernt und der sich für den Stipendiaten als ultrarechter Verschwörer erweist, dessen Ambitionen er beim Durchforsten verschiedener Blogs und Foren zu entschlüsseln versucht. 
Als der Schriftsteller das Deuter-Zentrum verlassen muss, fliegt er jedoch nicht nach Hause, wo sich seine Frau zunehmend Sorgen um seine geistige Verfassung macht, sondern folgt Anton nach Paris und Schottland, fest dazu entschlossen, alles zu tun, um die Sicherheit seiner Familie zu gewährleisten. Denn wenn man Anton seine Pläne verwirklichen lässt, ist sich der Schriftsteller sicher, wird die Welt nicht mehr so sein wie zuvor … 
„Ich glaube, wir haben alle einen Ort, ein geistiges Labor, an dem wir mit Gedanken experimentieren, die zu fremd oder zu zerbrechlich sind, um offen gezeigt zu werden. Ich glaube, dass wir diesen Ort schützen müssen, um uns wie Menschen zu fühlen. Er schrumpft, sein Spielraum wird durch Techniken der Voraussage und Kontrolle eingeschränkt, durch das unheilvolle Gebot der sozialen Medien, Dinge zu teilen.“ (S. 322) 
Vordergründig erzählt Kunzru, der 2016 selbst zu Gast an der American Academy in Berlin Wannsee gewesen und wie sein Protagonist Sohn eines indischen Vaters und einer britischen Mutter ist, die Geschichte eines Mannes, der eine elementare Sinn- und Schaffenskrise zu bewältigen versucht, aber in dem geschichtsträchtigen Deuter-Zentrum schnell sein eigentliches Ziel aus den Augen verliert. Er ist von Heinrich von Kleists Selbstmord ebenso gefesselt wie von der brutalen Cop-Serie „Blue Lives“, wird durch die Bekanntschaft des faszinierenden und undurchschaubaren Anton aber zunehmend aus der Bahn geworfen. 
Kunzru beschreibt auf eindringliche Weise, wie leicht unsere wie selbstverständlich wirkenden liberalen, demokratischen Werte über Bord geworfen werden können. In einem eigenen Abschnitt erzählt der Autor die Geschichte von Monika, der Putzfrau im Deuter-Zentrum, die in der DDR aufgewachsen ist, sich der dortigen Punk-Bewegung angeschlossen hat und schließlich als mutmaßlicher Stasi-Spitzel denunziert wurde. Von den Gräueln des Nazi-Regimes über das Wirken der Stasi-Diktatur bis zu dem Abend, an dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, entwickelt Kunzru das beunruhigende Bild einer Gesellschaft, in der die Menschen zunehmend bereit sind, sich vorschnell über die sozialen Medien manipulieren und instrumentalisieren zu lassen und so die liberale Werteordnung verraten, um rassistischen und nationalistischen Kräften das Feld zu überlassen. 
Zwar wirkt „Red Pill“ nicht sehr einheitlich in seiner Form, springt Kunzru doch sehr oft bei Ort und Zeit, Ton und Thema hin und her, aber die beunruhigende Botschaft des Romans wirkt lange nach. 

James Sallis – „Sarah Jane“

Samstag, 28. August 2021

(Liebeskind, 218 S., HC) 
Mit seinen Serien um den Privatdetektiv Lew Griffin („Die langbeinige Fliege“, „Stiller Zorn“, „Nachtfalter“) und den Ex-Cop Turner („Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“, „Dunkles Verhängnis“) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis in die Herzen anspruchsvoller Krimi-Fans geschrieben. Seit seinem erfolgreich – unter dem Titel „Drive“ mit Ryan Gosling in der Hauptrolle - verfilmten Bestseller „Driver“ hat Sallis hierzulande seine literarische Heimat in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind gefunden, wo mit „Sarah Jane“ ein weiteres Zeugnis von Sallis‘ beeindruckender Erzählkunst erschienen ist. 
Sarah Jane Pullman hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Sie wuchs mit ihrem Bruder Darnell in der Kleinstadt Selmer zwischen Tennessee und Arkansas bei ihren Eltern auf, die sich neben ihren regulären Jobs um eine Hühnerzucht kümmerten, ist früh von zuhause ausgezogen, hat schräge Beziehungen hinter sich gebracht und musste verkraften, dass ihre Tochter bei der Geburt gestorben ist. Als sie nach einer weiteren schlechten Entscheidung vom Richter vor die Wahl gestellt wird, entweder ins Gefängnis oder zur Army zu gehen, entscheidet sie sich für den Militärdienst, arbeitet schließlich als Köchin in ganz verschiedenen Restaurants und Kantinen. 
Sarah Jane macht ihren College-Abschluss und bekommt durch ihren Freund Ran Einblick in die Polizeiarbeit und bewirbt sich schließlich in der Kleinstadt Farr um einen Job als Cop, den ihr der Kriegsveteran Cal Phillips ohne großes Vorgeplänkel schnell anvertraut. Sie macht sich gut, zieht in ein kleines Haus außerhalb der Stadt, scheint ihr Leben in den Griff bekommen zu haben. Doch dann wird Cal vermisst und sie als nun diensthabender Sheriff mit dem Fall seines Verschwindens betraut. Auf einmal muss sie dem Bürgermeister, der immer mit ihr zu flirten schien, ebenso Rechenschaft ablegen wie einem FBI-Beamten, dann tauchen weitere Männer auf, die sich für Sarah Jane interessieren und sie in eine zunehmend misslichere Lage bringen …
„Manchmal kommt es einem vor, als würde man Tag für Tag für die Aufführung proben, ohne je das Drehbuch gesehen zu haben oder zu wissen, welche Rolle man spielt. Oder du stehst im Park vor einem dieser großen Kästen mit einem Plan, auf dem im Großbuchstaben SIE SIND HIER steht, und du weißt verdammt genau, dass das nicht stimmt. Cals Job. Kummer und Leid der Menschen. Was man in anderen Menschen sieht und spürt, ist letztendlich das, was man in sich selbst finden kann.“ (S. 153)
Zum Ende seines neuen Romans lässt James Sallis einen von Sarah Janes College-Dozenten darüber philosophieren, wie Sätze und damit auch Kunst Revolutionen hervorrufen können. Dieses Gefühl bekommt auch der Leser von Sallis‘ Geschichten zu spüren. Ebenso wie seine letzten Werke (vor allem „Willnot“) besticht „Sarah Jane“ mit knackigen, sprachlich vollkommenen Sätzen, die die Kraft ganzer Absätze und Seiten besitzen. Wenn er beispielsweise die Kleinstadt Farr als einen dieser Orte beschreibt, „wo sich historische Pfefferkuchenhäuser direkt neben modernen Reihenhäusern behaupten, wo sich Eisenwarenläden, Tankstellen und Angelshops an den Stadtrand klammern und wo man in den gutturalen Lauten des heimischen Dialekts noch das Raunen alter Zeiten hört“, beschwört er mehr als nur die städtische Architektur, sondern gleichsam ihren Puls herauf. 
Sallis nimmt sich mehr als 60 Seiten Zeit, um Sarah Janes bewegte Vergangenheit zu rekapitulieren. Allein die häufigen Wechsel, was Zeit, Ort und beteiligte Personen angeht, machen deutlich, welch dramatischen Ereignisse die junge Frau bereits verkraften musste, bevor sie den Job als Polizistin in Farr antritt, angefangen vom ebenso plötzlichen wie immer häufigen Abtauchen ihrer Mutter aus dem Familienleben, dem Tod ihres Partners beim Militäreinsatz im Mittleren Osten bis zu den komplizierten, von Krankheit, Verletzungen und Verlusten geprägten Affären, die Sarah Jane letztlich von Stadt zu Stadt flüchten ließen. 
Durch das ohne besonderen Anlass absolvierte Studium lässt Sallis seiner vielschichtigen Protagonistin eine intellektuelle Reife zukommen, die auch den Leser immer wieder zum Nachdenken über existentielle Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Schein und Sein, Freiheit und Verantwortung, Freundschaft und Familie, Leben und Tod anregt. Dabei hat der Autor mit Sarah Jane eine so komplexe Figur geschaffen, deren Geschichte man auch gern über längere Zeit verfolgt hätte. Doch Sallis lässt seinem Publikum genug Raum, die Leerstellen mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu füllen.  

Daniel Woodrell – „Der Tod von Sweet Mister“

Samstag, 13. März 2021

(Liebeskind, 192 S., HC) 
Der dreizehnjährige, von seinem Stiefvater Red meist nur als „Fettsack“ bezeichnete Morris „Shug“ Atkins wächst in den Ozarks, dem Hinterland von Missouri, auf und muss Tag für Tag miterleben, wie seine Umwelt vor die Hunde geht. Seine einstmals schöne Mutter Glenda hängt eigentlich nur and er Flasche, nennt den Rum-Cola-Mix, den ihr Shug regelmäßig in eine Thermoskanne abfüllen muss, verniedlichend nur „Tee“, während der nichtsnutzige Red kommt und geht, wie er will. Seinen ungeliebten Stiefsohn nimmt er allerdings auf seinen Raubzügen mit. Während er selbst im Auto wartet, verschafft sich Shug als Verkäufer der Farmer-Zeitung „Grit“ Zugang zu vorher ausgekundschafteten Häusern und klaut schwerkranken Menschen ihre Schmerzmittel. 
Shug empfindet dabei immerhin so viel Mitgefühl, dass er den bettlägerigen Menschen noch ein paar Pillen dalässt, damit ihre Angehörigen rechtzeitig Nachschub besorgen können. Shug ist alles andere als wohl bei diesen Raubzügen, zu denen er aufgefordert wird, doch fehlt ihm die Kraft, dem verhassten Red Paroli bieten zu können. Stattdessen behagt Shug der Gedanke, für seine Mutter mehr als nur ein Kind zu sein. Ihre vertrauten, liebevollen Gesten machen ihm Mut, etwas mehr als mütterliche Zuneigung einzufordern. Doch als sich Glenda in den Koch Jimmy Vin Pierce verguckt, der Glenda und Shug in seinem grünen Thunderbird in schicke Restaurants ausführt und vor allem Glenda von einem anderen Leben träumen lässt, kommt es zur Katastrophe … 
„Eine Weile schwankten die normalen Tage. Manchmal dachte ich, das Haus würde zittern. Es war alles ganz normal, und jeden Tag drängten sich Dinge auf, die nicht normal waren. Ein Haus, das zitterte, warf alles ab. Jimmy Vin hielt sich fern und ließ Glenda mit ihren Gedanken allein; sie war ständig betrunken. Jeden Tag wartete sie auf ihn, versuchte zu lächeln, wartete, wurde immer unruhiger, aber er tauchte nicht auf. Noch vor dem Mittagessen nahm sie ihre silberne Thermoskanne mit ins Schlafzimmer, lag da und fragte ab und zu, ob ich den Thunderbird in der Nähe gesehen hätte.“ (S. 154) 
15 Jahre nach seinem Romandebüt „Cajun Blues“, dem Auftakt seiner „Bayou“-Trilogie, und fünf Jahre vor seinem erfolgreich verfilmten Bestseller „Winters Knochen“ widmete sich der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell 2001 mit „Der Tod von Sweet Mister“ einmal mehr dem White Trash im unwirtlichen Ozark-Plateau. Hier gehen die Menschen kaum geregelten Jobs nach, kümmern sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und kommen nur durch krumme Dinge über die Runden. 
In dieser trostlosen Welt wächst der als Ich-Erzähler eingesetzte Shug auf, der im Alter von gerade mal dreizehn Jahren mitansehen muss, wie seine Familie vor die Hunde geht. Seine einst hübsche Mutter Glenda, die ihren Sohn auch mal liebevoll „Sweet Mister“ nennt, scheint eher auf die Fürsorge ihres Sohnes angewiesen zu sein als andersherum. In seinem jungen Alter bleibt Shug allerdings nichts anderes übrig, als nach dem Willen der egoistischen Erwachsenen zu tanzen. So geht Shug durch die harte Schule des Lebens. 
„Der Tod von Sweet Mister“ – der doppeldeutige Titel deutet es bereits an – ist eine Coming-of-Age-Geschichte der düsteren Sorte. Echte Zuneigung scheint es unter diesen Hillbillys nicht zu geben, und jeder zarte Versuch, daran etwas zu ändern, endet mit einer Katastrophe. Im Gegensatz zu vielen Horror-Filmen, die im Hillbilly-Milieu angesiedelt sind, wie „Texas Chainsaw Massacre“, „The Hills Have Eyes“ oder „Wrong Turn“, bedient sich Woodrell aber keiner Klischees, sondern erweckt in seiner unnachahmlich fesselnden Sprache seine Figuren zu echtem Leben, ohne sie zu verurteilen. Von Beginn macht der Autor aber auch deutlich, dass es aus diesem Schlammassel keinen Ausweg gibt. Sein dreizehnjähriger Protagonist wird nur herumgeschubst, als Projektionsfläche für die wahre Liebe von seiner Mutter missbraucht, von seinem eigennützigen Stiefvater zu kriminellen Handlungen angestiftet und muss so auf die harte Tour lernen, wie die Welt der Erwachsenen tickt und sich dreht. Ein Happy End kann es in dieser rauen Welt, in der es den Menschen an allem mangelt, nicht geben. 

Daniel Woodrell – „In Almas Augen“

Donnerstag, 11. März 2021

(Liebeskind, 188 S., HC) 
Im Sommer 1929 kommt es in einer Kleinstadt in Missouri während einer Tanzveranstaltung in der Arbor Dance Hall zu einer nie aufgeklärten Explosion, bei der am Ende 42 Menschen ihr Leben verloren. Vor allem die Haushälterin Alma DeGeer Dunahew lassen die schrecklichen Ereignisse ihr Leben lang nicht los, schließlich verlor sie auch ihre geliebte Schwester Ruby in den Flammen. Ihr Enkel Alek ist zwölf, als er den Sommer 1965 bei ihr verbringt und die Geschichte aus ihrem Mund zu hören bekommt. 
Sofort ist der Junge fasziniert, schließlich handelt es sich um eine aufregende Geschichte um Feuer, Flammen und Tod. Es gab viele Tote, aber wenige Verdächtige, ein Rätsel, das nie gelöst wurde. Doch Alma, die weder „Großmutter“ noch „Omama“ genannt werden wollte, hat ihre eigene Theorie, wer hinter dem Unglück gesteckt haben könnte. Alma, so berichtet der Ich-Erzähler Alek, hatte die Schule nur bis zum Ende der dritten Klasse besuchen dürfen, hat sich auf den Feldern ihres gewalttätigen Vaters Cecil DeGeer abgerackert, um dann als Dreizehnjährige in die Stadt zu entfliehen und dort Jobs als Köchin, Wäscherin und Dienstmagd anzutreten.
 Sie hatte ein entbehrungsreiches, von Enttäuschungen und Verlusten geprägtes Leben hinter sich, heiratete den alkoholsüchtigen Nichtsnutz Buster, bekam drei Kinder, verlor aber zwei von ihnen. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch die Stadt gab Alma stets Episoden aus ihrem Leben dort zum Besten. Am ausführlichsten berichtete Alma von ihrem Leben als Magd bei der einflussreichen Bankiersfamilie Glencross. Im Gegensatz zu ihr selbst verstand es ihre zehn Jahre jüngere Schwester Ruby, ihr attraktives Äußeres und ihren Charme gekonnt einzusetzen, um die Herzen jener gut gestellten Männer zu betören, die sie mit Geschenken überhäuften, bis sich spendablere Männer fanden. Schließlich begann sie eine Affäre mit dem verheirateten Arthur Glencross – mit offenbar tödlichen Folgen. Alma ist über diesen Verlust nie hinweggekommen. 
„Sie ließ sich aus reiner Vergesslichkeit die Haare wachsen, bis sie zu lang für die Küchenarbeit waren; ihre Gedanken richteten sich nun schon so viele Wochen und Monate auf anderes, doch als sie in einem Badezimmerspiegel die volle Haarlänge sah, beschloss sie auf der Stelle, sie für immer wachsen zu lassen. Sie hatte die heilige Eingebung, dass Haar von geradezu unwirklicher Länge eine öffentliche, hingebungsvolle Ehrung der Toten wäre, der Toten und ihrer eigenen Mission, für die Gestorbenen Gerechtigkeit oder Rache zu erwirken, das eine oder das andere, aber am liebsten beides.“ (S. 115f.) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell ist ein Meister der geschliffenen Sprache. Das hat er mit seiner „Bayou“-Trilogie ebenso bewiesen wie mit den erfolgreich verfilmten Bestsellern „Wer mit dem Teufel reitet“ und „Winters Knochen“ sowie dem mit dem P.E.N. ausgezeichneten Roman „Tomatenrot“. In dem 2014 auch auf Deutsch erschienenen Roman „In Almas Augen“ erzählt er weniger einen auf wahren Begebenheiten beruhenden Krimi oder die Biografie einer alten Frau, die zu viel Schreckliches in ihrem Leben verarbeiten musste, sondern letztlich das Portrait einer Kleinstadt in den Ozarks, Missouri, wo Woodrell auch seine Romane „Winters Knochen“ und „Der Tod von Sweet Mister“ spielen lässt. Nicht von ungefähr spielen die Ereignisse im Jahr 1929, als der New Yorker Börsencrash die Schere zwischen Arm und Reich noch stärker auseinanderklaffen ließ. 
Auch wenn Woodrell einen Ich-Erzähler einsetzt und durch ihn zunächst die Lebensgeschichte dessen Großmutter präsentieren lässt, erweist sich „In Almas Augen“ als ein vielschichtiges Potpourri von Einzelschicksalen. Da ist die fünfzehnjährige Dimple Powell, die schon ein ganzes Jahr lang in ihrem Zimmer tanzen geübt hatte und hoffte, auf dem Fest von Jungs auch zum Tanzen aufgefordert zu werden, oder Mr. Lawrence Meggs, der stets Säcke mit Lockfutter in die Bäume am Rand seines Hofs hängte und im Alter von siebzehn Jahren bei seinen Cousins in Cousins zwei Laster kennenlernte, denen er bis heute frönt, dem Alkohol und den Frauen. Es gibt den unfähigen Prediger und den Bankräuber, der sich Irish Flannigan nannte. Woodrell reiht die oft nur kurze Kapitel umfassenden Einzelschicksale in nicht chronologischer Reihenfolge aneinander und entwirft so ein komplexes Panorama eines Kleinstadtlebens, das sich letztlich auf eine unglückselige Liebesgeschichte mit fatalen Folgen reduzieren lässt. 
Wer sich auf die vielen Sprünge zwischen Zeiten und Figuren einlassen mag, wird mit einer großartig erzählten Geschichte belohnt, die jede Konvention sprengt, dafür den Leser mit scharfsinnigen Beobachtungen und entfesselter Sprachgewandtheit verwöhnt.  

Daniel Woodrell – „Winters Knochen“

Sonntag, 7. März 2021

(Liebeskind, 224 S., HC) 
Als ihr Vater, der weithin bekannte Meth-Kocher Jessup Dolly, nicht wie versprochen mit einer Tüte voller Geld und schöner Sachen zurückkommt, nachdem er sich mit seinem blauen Capri auf den Weg gemacht hatte, liegt es an der gerade mal sechzehnjährigen Ree, die Familie zu versorgen. Dabei fehlt es der in ärmlichen Verhältnissen im Hinterland von Missouri lebenden Familie an allem. Während ihre katatonische Mutter sich um nichts mehr kümmern kann, sorgt Ree dafür, dass ihre jüngeren Brüder Harold und Sonny zu essen bekommen und zur Schule gefahren werden. 
Von Deputy Baskin erfährt Ree, dass Jessup einmal mehr angeklagt wird, in einer Woche zu seinem Gerichtstermin erscheinen muss, doch nirgends aufzufinden ist. Sollte er zu dem Termin nicht erscheinen, verfällt die gestellte Kaution, für die Jessup das Haus und den angrenzenden Wald verpfändet hat. Um das Heim ihrer Familie nicht zu verlieren, bleibt Ree nichts anderes übrig, als nach ihrem Vater zu suchen. 
Sie fängt bei Jessups älteren Bruder, Onkel Teardrop, doch wird ihr auch auf den weiteren Stationen ihrer Suche unmissverständlich klar gemacht, dass sie besser ihre Finger von der Sache lässt. Von Merab Milton und ihren Schwestern wird sie sogar brutal zusammengeschlagen. Schließlich kann Onkel Teardrop gerade noch Schlimmeres verhindern. Ree kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass ihr Vater tot ist, doch um das zu beweisen und damit ihr Zuhause zu retten, muss sie die Leiche finden, so zerschunden ihr Körper und angegriffen ihre Psyche auch sein mag … 
„Alles Mögliche tanzt einem im Kopf herum, meist nicht jene Erinnerungen, die man mit ganz bestimmten Gedanken zurückzurufen versucht hat, doch meist holen selbst die ungewollt tänzelnden Gedanken Gefühle herbei, locken sie hervor oder lassen zumindest ein Gewirr davon zurück. Weiß legte sich auf das Fensterbrett, Schneeflocken stolzierten umher, wehten gegen die Glasscheiben, und Ree tastete mit der Hand auf dem Fußboden herum, schüttelte eine weitere blaue Tablette heraus, lehnte sich zurück und wartete auf das schwarze Loch.“ (S. 187) 
Nachdem der in St. Louis und Kansas City aufgewachsene Daniel Woodrell seinen freiwilligen Dienst bei den Marines und das College absolviert hatte, nahm er am renommierten Iowa Writers' Workshop teil und lieferte 1986 sein Romandebüt „Cajun Blues“ ab, den ersten Teil seiner Bayou-Trilogie. Sein Roman „Wer mit dem Teufel reitet“ wurde ebenso verfilmt (1999 durch Ang Lee) wie das vorliegende Buch 2010 durch Debra Granik mit Jennifer Lawrence in der Hauptrolle. 
Obwohl die Geschichte gerade mal 220 Seiten umfasst, packt sie den Leser von der ersten Seite an. Das ist vor allem Woodrells kraftvoller, farbenprächtiger Sprache zu verdanken, aber schließlich hat er mit der leiderprobten Teenagerin Ree auch eine charismatische, kämpferische und willensstarke Protagonistin geschaffen, die sich nicht nur aufopferungsvoll um ihre Familie kümmert, sondern auch unbeirrt nach ihrem verschollenen Vater sucht, wobei sie sich nicht mal von der brutalen Behandlung durch ihre entfernte Verwandtschaft abschrecken lässt. 
Dem Autor gelingt es, die von Hügeln und Tälern geprägte Landschaft der Ozarks wunderbar zur Geltung zu bringen und die oft unwirtlichen Verhältnisse mit den schwierigen Charakteren des White-Trash-Milieus zu verknüpfen. Hier fügen sich Sittenzusammengehörigkeit und Verdorbenheit zu einem schicksalhaften Gemisch, das eigentlich kein Happy End hervorbringen kann. So unerbittlich kalt die Natur sich hier im Winter präsentiert, so hart gehen auch die dort lebenden Menschen miteinander um, die sich allesamt mit illegalen Aktivitäten ihren Lebensunterhalt verdienen oder davon profitieren wie die Kautionsagenten. Unter diesen Bedingungen lässt es sich nur leben, wenn die strengen Regeln der eingeschworenen Gemeinschaft eingehalten werden, oder man stark genug ist, für die eigenen Überzeugungen durch die Hölle zu gehen.  

Hari Kunzru – „Götter ohne Menschen“

Dienstag, 3. März 2020

(Liebeskind, 414 S., HC)
Im Jahre 1947 ließ sich der ehemalige Flugzeugingenieur Schmidt in der kalifornischen Mojave-Wüste an einem Ort in der Nähe der drei Felssäulen der Pinnacles nieder, weil er dort mit Wünschelrute und Bodenmessgerät ein Kraftfeld entdeckt hat, eine natürliche Antenne, mit der er Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen könnte. Er pachtete das gewünschte Gelände für zwanzig Jahre, kaufte sich einen gebrauchten Airstream-Trailer, entdeckte schließlich eine alte Goldgräberhöhle in den Felsen, legte eine Landepiste für Flugzeuge an und eröffnete ein kleines Café, in dem er Kaffee und Spiegeleier servierte, um nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern vor allem seine Botschaft von Liebe und Brüderlichkeit zwischen allen Wesen im Universum zu verbreiten. Tatsächlich entdeckte er eines Abends ein helles Licht über dem Horizont, beobachtete die Landung eines Fahrzeugs und begrüßte zwei menschliche Gestalten in weißen Gewändern.
Elf Jahre später versuchte er die Botschaft des Weltfriedens durch den dort errichteten Ashtar Galactic Command an möglichst viele Menschen zu verbreiten. Bereits 1778 war dort dem Missionar Fray Francisco Hermenegildo Tomás Garcés ein Engel erschienen. Nun machen sich Jaz und Lisa Matharu mit ihrem autistischen Sohn Raj auf dem Weg in diese Wüste, wo sie hoffen, dem stressigen Alltag in New York zu entkommen und ihre Ehe zu kitten hoffen. Dass Jaz als Trader an der Wall Street für den Familienunterhalt aufkam und Lisa sich allein um die Erziehung ihres problematischen Sohnes kümmern musste, hat der Beziehung ebenso wenig gutgetan wie Jaz‘ familiärer Hintergrund. Obwohl er in Baltimore und nicht in Indien aufgewachsen ist, hängen ihm seine Eltern nach wie vor mit den Traditionen und Vorstellungen ihrer Heimat in den Ohren. Doch der Ausflug zu den Felsen endet in einem Fiasko. Nach einem lauten Knall ist Raj plötzlich spurlos verschwunden.
Die Suche nach Raj nimmt die Polizei und die Aufmerksamkeit der Medien voll in Anspruch. Je mehr Zeit vergeht, ohne dass der Junge wieder auftaucht, umso öfter tauchen im Internet Vermutungen auf, dass Jaz und Lisa für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich sind …
„Bald würde von Raj nichts mehr übrig sein als ein paar blanke Zettel an den Pinnwänden des Nationalparks. Wenn der letzte Journalist ihn vergessen hatte, würden Lisa und er ebenfalls verschwinden, ausgelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis.“ (S. 351)
Seit seinem Debütroman „The Impressionist“, der 2002 in deutscher Übersetzung als „Die Wandlungen des Pran Nath“ erschien, zählt der britische Journalist („The Guardian“, „Daily Telegraph“, „Wired“) und Romanautor Hari Kunzru zu den interessanteren Stimmen der Gegenwartsliteratur und wurde 2003 sogar von der Literaturzeitschrift „Granta“ unter die zwanzig besten jungen britischen Romanautoren gewählt. Nach seinem Einstand bei Liebeskind mit „White Tears“ legt der Sohn einer Engländerin und eines Inders mit „Götter ohne Menschen“ einen Roman vor, der zwar auf unterschiedlichen Zeitebenen angelegt ist, im Grunde genommen aber über ein 230 Jahre auf einen Ort fokussiert ist, nämlich den Pinnacles-Nationalpark in Kalifornien.
Hier kommt es über all die Jahrzehnte zu ganz unterschiedlichen Ereignissen, die aber allesamt einen mystischen Kontext besitzen. Dem jeweiligen Zeitgeist angemessen kommt es hier zunächst zu göttlichen Erscheinungen, Begegnungen mit Außerirdischen und zu einer sektenähnlichen Verbindung, die ihre eigene Art findet, ihre Botschaft der Liebe und des Weltfriedens zu verbreiten. Anno 2008 ist von diesen Motiven wenig übriggeblieben. Das bekommen Kunzrus Protagonisten Jaz und Lisa besonders deutlich zu spüren, als ihr Sohn unter mysteriösen Umständen verschwindet. An ihrem Schicksal zeigt der Autor wunderschön auf, wie ein solch dramatisches Ereignis nicht mehr mit guten oder bösen Mächten in Verbindung gebracht wird, sondern einfach nur noch als Medienereignis zelebriert wird. Die Rolle wie auch immer gearteter göttlicher Wesen und Mächte haben längst die Foren, Blogs und Tweets im Internet übernommen, wo blitzschnell Meinungen gebildet, verbreitet und letztlich für bare Münze gehalten werden, was letztlich den Erfolg von Donald Trumps Regierungskonzept erklärt.
Doch Kunzru zeigt nicht nur den modernen Umgang mit unerklärlichen Ereignissen auf, sondern skizziert in den weitaus kürzeren Episoden, die sich seit 1778 bis in die jüngere Vergangenheit erstrecken, wie sich das Verhältnis des Menschen zu Gott entwickelt hat, wie sich im Zuge dessen die Strukturen von Selbstbetrachtung, Identität, Meinung, Glaube und Macht verschoben haben. Allerdings enthält sich Kunzru dabei einer Wertung, sondern beschränkt sich darauf, die Zeichen der jeweiligen Zeit in episodenhaften Geschichten zu thematisieren. Dabei gewinnen einzig Jaz und Lisa etwas an Persönlichkeits-Struktur mit Identifikations-Potential.
„Götter ohne Menschen“ überzeugt aber ohnehin weniger durch die Hauptgeschichte um das Schicksal einer Familie, die an dem Verschwinden des Kindes zu zerbrechen droht, sondern als akzentuierte Gegenüberstellung der Entwicklungsgeschichte menschlichen Glaubens.
Leseprobe Hari Kunzru - "Götter ohne Menschen"

Ben Smith – „Dahinter das offene Meer“

Montag, 17. Februar 2020

(Liebeskind, 254 S., HC)
Ein namenloser Junge und ein ebenso namenloser alter Mann warten im Auftrag einer ungenannten Firma in einer unbestimmten Zeit einen grenzenlos erscheinenden Windpark in der Nordsee. Das Meer macht alles anonym. Die Arbeit wird allerdings meist nur provisorisch verrichtet. Alle paar Monate bringt ein Versorgungsschiff Proviant und Ersatzteile, doch mit den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Ersatzteilen konnten nur kleinere Reparaturen erledigt werden, so dass der Windpark meist nur mit einer Leistung von unter sechzig Prozent läuft. Ein automatisches Instandhaltungssystem unterrichtet die beiden Mechaniker, welches Windrad welches Problem hat und was es zur Reparatur benötigt, doch über die Jahre hat das System an Zuverlässigkeit eingebüßt.
Tag für Tag machen sich der Junge und der alte Mann auf den Weg zu den reparaturbedürftigen Windrädern, ohne viele Worte miteinander zu wechseln. Meist geht es nur um die Sehnsucht nach richtigem Essen, weil sie das ewige Allerlei aus den Dosen nicht mehr ertragen. Abwechslung bringt nur der Müll, den die Strömungen antreiben. Möbel, brüchige Gehäuse elektrischer Geräte, verblichene Kleidung, einmal sogar ein ganzes, aus seiner Verankerung gerissenes Haus finden sich hier neben den üblichen Plastiktütenschwärmen.
Doch eines Tages entdeckt der Junge ein verschollenes zweites Wartungsboot, mit dem offensichtlich sein Vater, dessen Platz im Windpark er nach seinem Verschwinden eingenommen hatte, zur offenen See hinaus fahren wollte. Die Erinnerungen des Jungen an ihn sind sehr verschwommen. Nur der Schiffsführer des Versorgungsschiffes vermittelt ihm einige Eindrücke, die den Jungen neugierig machen. Da der alte Mann aber Schweigen über das Schicksal seines Vaters bewahrt, macht sich der Junge während seiner Wartungsmissionen heimlich auf die Suche nach seinem Vater, doch der alte Mann scheint ihm schnell auf die Schliche gekommen zu sein …
„Erst, als der alte Mann zurück zur Plattform kam, begriff der Junge, was da vorging. Das Boot folgte exakt der Route, die er, der Junge, genommen hatte, als er von den Windrädern zurückgekommen war, einschließlich des Abstechers, den er dabei gemacht hatte.
Der Junge lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte auf den Bildschirm. Jetzt folgte der alte Mann ihm.“ (S. 121) 
Der britische Literaturwissenschaftler Ben Smith lehrt an der Universität Plymouth Kreatives Schreiben, wobei das Thema Klimawandel einen besonderen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet. Für seinen ersten Roman hat er sich folglich auf vertrautes Terrain begeben und ein mehr als tristes Bild einer Welt gezeichnet, aus der er allerdings nur einen verschwindend kleinen Teil präsentiert. Der Mikrokosmos eines maroden Windparks in der Nordsee ohne Aussicht auf die Vergnügungen einer hedonistischen und verschwenderischen Gesellschaft bildet die Bühne für ein Kammerspiel mit sehr überschaubarem Ensemble und ebenso minimal inszenierten Plot. Smith nimmt sich viel Zeit, die bescheidenen Lebensumstände der beiden Mechaniker zu beschreiben, den frustrierenden Arbeitsalltag, die wenig schmackhafte Nahrungsaufnahme und die kaum greifbaren Freizeitbeschäftigungen. Es wird nicht mal viel gesprochen, was es dem Leser schwer macht, sich in die anonymen Figuren hineinzufühlen. Auf den gut 250 Seiten passiert eigentlich nicht viel. Die Suche des Jungen nach seinem Vater bedeutet den einzigen Ausbruch aus dem ewig gleichen Alltag, bringt die Geschichte aber nicht wirklich voran und bewirkt noch weniger eine Entwicklung der Figuren.
Das Versteckspiel zwischen dem Jungen und dem alten Mann ist weder spannend inszeniert, noch verändert es den Blick des Lesers auf die postapokalyptische Welt, die Smith hier beschreibt. Die Reduzierung auf das Wesentliche in dieser dystopischen Geschichte übt fraglos einen gewissen Reiz aus, wobei die klare Sprache auch eine düstere atmosphärische Dichte kreiert, doch mich persönlich hat „Dahinter das offene Meer“ einfach nur gelangweilt.

Lisa McInerney – „Blutwunder“

Samstag, 28. September 2019

(Liebeskind, 334 S., HC)
Mit knapp einundzwanzig Jahren hat der in der irischen Kleinstadt Cork lebende Ryan Cusack zwar keinen Schulabschluss, aber schon eine bemerkenswerte Karriere im Drogengeschäft hingelegt. Nachdem Dan Kane bei einem Ausflug nach Rotterdam beim Abhängen mit einigen Jungs auch Neapel seiner Unzufriedenheit mit seinem Lieferanten Luft gemacht hat, will er die Stadt mit hochwertigem Ecstasy überschwemmen. Da passt es ihm gut in den Kram, dass sein Kumpel Ryan gerade von seinem Sommerurlaub aus Neapel zurückkehrt und von den qualitativ hochwertigen Pillen dort schwärmt.
Doch nachdem Dan im Corker City-Hotel den Deal mit dem Neapolitaner klargemacht hat, wobei Ryan als Übersetzer fungierte und der Rest der Truppe – Shane „Shakespeare“ O’Sullivan, Pender, Cooney und Feehily - einfach abhing, geht gleich die erste Lieferung verloren. Während Kane in Ruhe herauszufinden versucht, wer aus seiner Truppe ihn übers Ohr gehauen haben könnte, wird Ryan zunächst von seiner langjährigen Freundin Karine vor die Tür gesetzt, dann lässt er sich unmittelbar mit Natalie ein, die sich ausgerechnet als Dan Kanes Liebchen entpuppt. Ryan muss sich aber nicht nur vor Dan Kane in Acht nehmen und die Wogen bei Karine glätten, die ihn mit ihrer bereits weit fortgeschrittenen Schwangerschaft konfrontiert, sondern auch Jimmy Phelan beschwichtigen, der als Oberhaupt des organisierten Verbrechens ins Cork gar nicht erfreut über die Aktivitäten ist, die Kane und Cusack an den Tag legen …
„Dan braucht mich treu und unverbrüchlich, und das bin ich nicht. Insgeheim tu ich, was J.P. will, und ich schlafe mit einer, mit der ich nicht schlafen sollte, weil es mir nichts ausmacht, Lügen zu erzählen, um zu kriegen, was mir nicht gehört.“ (S. 198) 
Bereits mit ihrem 2015 erschienenen Debütroman „The Glorious Heresies“ hat die irische Autorin Lisa McInerney den Baileys Women’s Prize for Fiction sowie den Desmond Elliott Prize für Debütromane erhalten. Nachdem ihr preisgekröntes Debüt 2018 bei Liebeskind unter dem Titel „Glorreiche Ketzereien“ veröffentlicht wurde, liegt dort nun auch ihr neuer Roman „Blutwunder“ vor, der sich wie McInerneys frühes Idol Hubert Selby Jr. auf einfühlsame Weise mit den Randexistenzen der Gesellschaft auseinandersetzt.
Mit Ryan Cusack hat McInerney alles andere als eine sympathische Figur geschaffen, und doch kann man dem jungen Kerl kaum böse sein, dass er auf die schiefe Bahn geraten ist. Schließlich hat sich seine Mutter umgebracht, sein Vater ist ein versoffener Schwächling, der den Jungen verprügelte und misshandelte. Allerdings bringt er sich auch immer wieder selbst in Schwierigkeiten. Dass er sich unwissentlich ausgerechnet an Dans Freundin Natalie heranmacht, nachdem Karine ihm den Laufpass gegeben hat, wirkt wie andere Situationen zwar etwas konstruiert, sorgt aber für Spannung und Dramatik in einer Geschichte, in der sich die Ereignisse zunehmend überschlagen. Denn zwischen zwei misstrauischen Gangstern so zu manövrieren, dass man überlebt, und dabei zwei Frauen, die einem etwas bedeuten, bei Laune zu halten, sorgt für einen konstant hohen Adrenalinpegel und etliche Verwicklungen und Wendungen, die einfach Laune machen.
Mit ihrer schnörkellosen, direkten und humorvollen Art wirkt McInerney wie das weibliche Pendant zu Irvine Welsh („Porno“, „Trainspotting“). Mit „Blutwunder“ hat sich die irische Schriftstellerin auf jeden Fall als starke Stimme in der irischen Literaturszene etabliert und dürfte auch hierzulande immer mehr Leser gewinnen und Kritiker begeistern.
Leseprobe Lisa McInerney - "Blutwunder"

David Keenan – „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“

Mittwoch, 17. April 2019

(Liebeskind, 320 S., HC)
Airdrie, ein kleines Kaff irgendwo zwischen Glasgow und Edinburgh, ist in den 1980er Jahren ebenso ein Schmelztiegel für die verrücktesten künstlerischen Ideen wie wahrscheinlich jedes andere Kaff im britischen Königreich, vor allem für musikalische Ausdrucksformen wie Post-Punk, Wave, Avantgarde und Industrial, aber auch die Heimat von Möchtegern-Philosophen, -Mystikern, -Künstlern und -Schriftstellern. So unterhält der Sci-Fi-, Horror- und Existenzialismus-Freak Ross Raymond zusammen mit Johnny McLaughlin das Fanzine „A Night is a Morning That You Hasten to Light“, für deren erste Ausgabe sie Big Patty interviewt haben. Auf den Plattentellern drehen sich die Ramones, Can, Public Image Ltd., Pere Ubu, The Gun Club, Roxy Music, Nurse With Wound, Johnny Thunders und die Stooges; das Geld für die Platten wird mit Jobs als Zeitungsausträger, im Blumenladen oder als Küchenhilfe verdient; in der Freizeit hängt man in Bars und Cafés ab, wo sich die vermeintliche Szene trifft.
Raymond läuft Patty, der schon in einigen anderen Bands gespielt hat, immer wieder über den Weg, bekommt so aus erster Hand mit, wie er mit dem verträumten Sänger Lucas Black, der Bassistin Mary Hanna und Remy Farr (Bass, Keyboards) die Band Memorial Device gründet, die mit ihrer Zwei-Akkorde-Jamsessions wie „autistische Joy Division auf dem Grund eines Brunnens“ klingen. Sie absolvieren einige Live-Auftritte und veröffentlichen ab 1983 eine LP und diverse Kassetten, doch als das Gerücht umgeht, dass Sonic Youth die Band 1986 im Vorprogramm ihrer Show in Glasgow haben wolle, ist Memorial Device bereits Geschichte …
„Manche Leute wurden ‚Dichter‘, andere wurden ‚Musiker‘, aber das Gute an einer Szene wie der in Airdrie war, dass alle von Natur aus so durchgeknallt waren, dass gar niemand versuchte, einer vorgegebenen Vorstellung des Möglichen zu entsprechen. Es war unmöglich, möglich zu sein. Das brachte die ganze Szene auf den Punkt.“ (S. 261) 
Ähnlich wie sein ebenfalls aus Schottland stammender Kollege John Niven („Kill Your Friends“, „Music from the Big Pink“) stammt auch David Keenan aus der Musikszene. Während Niven allerdings als A&R-Manager bei einer Plattenfirma für das Entdecken neuer Acts und die kommerzielle Vermarktung ihrer Musik verantwortlich gewesen ist (und diese Tätigkeit auf bitterböse, schwarzhumorige Weise in seinen besten Werken thematisiert hat), ist Keenan in den Neunzigern als Musiker in verschiedenen schottischen Underground-Bands auf der anderen Seite des Musikgeschäfts tätig gewesen ist und legt mit „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“ eine wunderbar authentisch wirkende Darstellung der verschiedensten Ambitionen junger Menschen in einer an sich unbedeutenden schottischen Kleinstadt vor.
Zwar beginnt der Roman mit einem Rückblick und einer Einführung des Ich-Erzählers Ross Raymond, der die Entwicklung von Memorial Device von Beginn an dokumentiert, aber dann kommen in den folgenden Kapiteln auch sein Co-Autor und Fanzine-Mitherausgeber Johnny McLaughlin, der Künstler Robert Mulligan, Groupies, Konzertbesucher und andere Zeitzeugen zu Wort, die jeweils in ihrem eigenen Ton, ihrer individuellen Sprache wiedergeben, wie sie das Leben in Airdrie empfunden haben, und sich an die Begegnungen mit verschiedenen Mitgliedern der Band erinnern.
Herausgekommen ist dabei weit mehr als die vielseitige Biografie einer fiktiven Post-Punk-Band, die nie den Durchbruch geschafft hat, sondern eine auch stilistisch breitgefächerte Milieustudie, die auf lebendige Weise nachzeichnet, wie Jugendliche in einem so unbedeutenden Nest zu sich selbst zu finden versucht haben, wie verschiedene Begegnungen den eigenen Lebensweg prägten, neue Ideen freisetzten und Persönlichkeiten bildeten. Das gängige Klischee von Sex, Drugs & Rock’n’Roll bekommt hier einen pulsierenden, dreckig-abgestumpften Beat verpasst, denn Keenan gelingt es, jeden einzelnen der hier portraitierten Typen interessante Aspekte abzugewinnen, die sie so lebensecht vor Augen entstehen lassen. Vor allem führt der Roman eindrücklich vor Augen, wie Musik buchstäblich (auch und gerade die eigene) die Welt verändern und unvorstellbare Energien freisetzen kann. Abgerundet wird der Roman durch eine kommentierte Diskografie von Memorial Device, ein ausführliches Personenregister und ein leider über 30-seitiges Stichwortregister, in dem sicher niemand etwas nachschlagen wird.
Leseprobe David Keenan - "Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird"

James Sallis – „Willnot“

Montag, 18. Februar 2019

(Liebeskind, 224 S., HC)
In der amerikanischen Kleinstadt Willnot stößt der Jäger Tom Bale mit seinem Hund Mattie eines frühen Morgens auf eine Grube voller Leichen. Der örtliche Sheriff Hobbes und seine Leute werden ebenso zum Tatort gerufen wie die State Police und Lamar Hale, ein ortsansässiger Arzt, der nicht nur seine eigene Praxis hat, sondern auch im Krankenhaus arbeitet. Auffällig ist der Kalkgeruch, aber die Identität der Opfer ist ebenso unklar wie das Motiv für die grausame Tat.
Zurück in seiner Praxis erhält Hale Besuch von Brandon „Bobby“ Lowndes, der im Alter von sechzehn Jahren als Folge eines Jungenstreichs ins Koma gefallen und von Hale ein Jahr lang wieder aufgepeppelt worden war, bevor er der Stadt den Rücken kehrte und jetzt unangekündigt zurückgekehrt ist. Auch hier liegen die Gründe für den Arzt im Dunkeln, denn Freunde und Familie besitzt Bobby in der Stadt nicht, der sich nach eigener Auskunft auch nur auf der Durchreise befindet und Hallo sagen wollte.
Als sich aber die FBI-Agentin Theodora Odgen nach ihm erkundigt, überschlagen sich die Ereignisse in dem sonst so beschaulichen Ort. Bobby, der nach FBI-Informationen ein Elitekiller der Marines sei, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt haben soll, wird selbst angeschossen, kann aber aus dem Krankenhaus fliehen, bevor er zu dem Vorfall befragt werden kann, doch scheint er immer wieder wie ein Gespenst mal hier, mal dort in der Stadt aufzutauchen und ebenso schnell wieder unterzutauchen.
„Menschen in Willnot neigen dazu, auf dem schmalen Rand von Landkarten zu verweilen, mehr als nur ein paar von ihnen starren dem Tiger ins Auge. Liegt etwas in ihrer Natur, das sie dorthin zieht, sie dort hält? Oder sickert das im Laufe der Zeit durch den Kontakt, die Beziehungen ein? Lass sie sich in einer geraden Linie aufstellen, und sie stehen schief da.“ (S. 77) 
James Sallis, der durch seine Romanreihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin bekannt geworden ist und 2008 für seinen Roman „Driver“ mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde, beginnt „Willnot“ zwar mit der Entdeckung eines Verbrechens, aber die darauf folgenden Ermittlungen nehmen dann nur noch einen rudimentären Teil des Plots ein. Vielmehr lässt der amerikanische Autor seinen Ich-Erzähler Lamar Hale, der mit dem zum Schulleiter beförderten Lehrer Richard liiert ist und zusammenlebt, über die Lebensumstände in Willnot philosophieren, wobei die Erinnerungen an seinen Vater eine wesentliche Rolle spielen, der als Schriftsteller vor allem im Science-Fiction-Genre erfolgreich gewesen ist.
Aus den erinnerten Zusammenkünften mit anderen Schriftstellern auf Kongressen und den phantastischen Geschichten, die Hale in all den Jahren gelesen hat, dringen immer wieder Erkenntnisse über die menschliche Natur, über Leben und Tod, über die Wege, die ein Leben einschlagen kann, durch. So erinnert sich Hale an einer Stelle an die Geschichte „Der Biograf“ über einen Mann, der Menschen aus ihrem Leben herausnimmt, ihren Platz einnimmt, Dinge tut, die sie selbst nie tun würden, um sie dann wieder in ihr Leben zurückzubringen, wo sie mit den neuen Erfahrungen, die sie geerbt haben, ihrem Leben eine ganz neue Richtung geben.
So geht es dem Leser bei „Willnot“ immer wieder. Durch die Querweise auf reale oder fiktive andere Romane aus dem Umfeld von Lamar Hales Vater durchziehen regelmäßig philosophische Betrachtungen die Handlung, die nur als Katalysator für weitere Gedankengänge zu dienen scheint. Sallis gelingt es, vor allem Lamar und Richard sorgfältig und einfühlsam zu charakterisieren und sie als Mittelpunkt der Geschichte zu etablieren. Dazu sorgen die lebendigen Dialoge, Hales tiefsinnige Betrachtungen und der ungewöhnliche Plot für ein Lesevergnügen der besonderen Art.

Josephine Rowe – „Ein liebendes, treues Tier“

Montag, 21. Januar 2019

(Liebeskind, 208 S., HC)
Anfang der Neunzigerjahre steht die Familie des Kriegsveteranen Jack Burroughs vor unrettbaren Trümmern. Seine schlechten Träume der über zwanzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit können nicht mal die Beruhigungspillen vertreiben. Als auch noch sein geliebter Hund von einer Wildkatze buchstäblich zerrissen wird, sieht er den herumliegenden Körperteilen gleichsam die Überreste seines eigenen verpfuschten Lebens und verschwindet spurlos – diesmal für immer, wie seine Tochter Ruby glaubt.
Offensichtlich hat ihr Vater nie eine echte Chance gehabt. Erst seine Mutter, die in ihrem Selbstmordversuch auch ihre Kinder mit in den Tod reißen wollte und in einer psychiatrischen Anstalt landete, dann der Vietnamkrieg, dessen Echo noch immer in seinem Schädel dröhnt. Sein Bruder Les hat sich sogar die Finger abgehackt, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen.
Die drei Frauen in Jacks Leben gehen jeweils auf ihre eigene Weise mit dem Unglück um, das Jack in ihr Zuhause gebracht hat. Lani, die älteste Tochter, vertickt nicht nur die Beruhigungspillen ihres Vaters auf Partys, sondern gerät auch so immer wieder in Schwierigkeiten. Ihre kleine Schwester Ruby verliebt sich in einen Mann aus anderen Verhältnisse und lernt erstmals eine Familie kennen, die mehr zu bieten hat als pure Verzweiflung und unerfüllte Träume. Jacks Frau Evelyn fühlt sich einfach um ein besseres Leben betrogen, geht an der Unterstützung, die sie Jack zu geben versucht, selbst zugrunde.
„Hier ist was schwer durcheinandergeraten, wie durch den Fleischwolf gedreht. Jemand anderes hat sich ihr Leben geborgt und gurkt damit durch die Gegend, macht Strecke, wie man das mit einem geklauten Auto tut. Aber irgendwann ist Schluss damit. Irgendwann ist man zermürbt vom schlechten Gewissen. Keine Spritztour kann ewig dauern. Eines Tages wird Ev aufwachen, und dann ist es wieder da, ihr wahres Leben, steht ordentlich geparkt vor dem Haus und glänzt.“ (S. 45) 
Die 1984 im australischen Queensland geborene Josephine Rowe wurde nach Aufenthalten in den USA und Kanada 2016 mit dem Elizabeth Jolley Prize für ihre Kurzprosa ausgezeichnet, die u.a. bei McSweeney’s und in der Paris Review erschienen sind, und veröffentlichte im selben Jahr ihren Debütroman, der nun in der deutschen Übersetzung als „Ein liebendes, treues Tier“ bei Liebeskind vorliegt.
Darin verleiht sie den Figuren rund um den Kriegsveteranen Jack Burroughs und seiner Familie jeweils eine eigene Perspektive, einen individuellen Erzählton. Das ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, oft genug besteht die Sprache nur aus abgehackten Satzfetzen (so Jacks vereinzelte, aneinandergereihte Erinnerungen an den Krieg), unzusammenhängend wirkenden Gedanken, die deutlich machen, wie zerrüttet das Leben der Burroughs ist.
Eine konventionelle Dramaturgie sucht der Leser in dem gerade mal gut zweihundert Seiten umfassenden Bändchen vergebens, dafür wird er mit scharfen Beobachtungen und düsteren Gedanken konfrontiert, die in einer ebenso klaren wie verwirrend aufwühlenden und dann wieder zutiefst poetisch betörenden Sprache niedergeschrieben sind.
Wer sich darauf einlassen kann, wird mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis und einer zutiefst melancholischen Geschichte über unerfüllte Träume und die Folgen grausamer menschlicher Triebe belohnt.

Daniel Woodrell – „Zum Leben verdammt“

Samstag, 8. September 2018

(Liebeskind, 256 S., HC)
Der deutschstämmige Jake Roedel schließt sich im Alter von 19 Jahren der Bushwhacker-Truppe First Kansas Irregulars unter Führung von Black John Ambrose an, Rebellen, die im Jahr 1861 im Grenzland zwischen Missouri und Kansas auf Seiten der Konföderierten kämpfen und mit brutaler Gewalt gegen Unionstruppen und ihre Sympathisanten vorgehen.
Im Kreise seiner Kameraden Black John, Pitt Mackeson, Coleman Younger, Jack Bull Chiles, George Clyde und dessen treuen schwarzen Gefährten Holt wird Roedel immer wieder kritisch beäugt, doch als Roedel einen deutschen Jungen hinterrücks erschießt, der seinen am Baum aufgeknüpften Vater retten will, hat er sich den Respekt seiner Mitstreiter verdient, zumal er mit seiner Schönschrift dazu auserwählt war, Briefe für seine Kameraden zu verfassen.
In den blutigen Auseinandersetzungen mit den Föderalisten stirbt schließlich Roedels Kumpel Jack Bull Chiles, der mit Sue Lee gerade erst ein Kind gezeugt hat. Als Roedel nahegelegt wird, die Stelle seines toten Kameraden einzunehmen und Sue Lee zur Frau zu nehmen, beginnt er die zunehmend willkürlichen Gräueltaten der Rebellen zu hinterfragen.
„Viele Qualen fanden ohrenbetäubenden Ausdruck. Die Frauen klagten. Kinder schrien. Weit und breit war keine Armee in Sicht. Die Bürger gaben nicht mal einen Schuss ab, um sich zu wehren. Viele von ihnen standen auf den Straßen und gafften uns sprachlos an, als könnten sie nicht glauben, dass wir genau das waren, wonach wir aussahen.“ (S. 199) 
Nach seinem 1986 veröffentlichten Debüt „Under the Bright Lights“ (das 1994 unter dem Titel „Cajun Blues“ in deutscher Übersetzung erschien) legte der 1953 in Springfield, Missouri, geborene Schriftsteller Daniel Woodrell ein Jahr später mit „Woe to Live On“ an und präsentierte damit die literarische Vorlage für den Ang-Lee-Western „Ride With the Devil“ aus dem Jahre 1999, an dessen Drehbuchfassung der Autor ebenfalls mitwirkte. Gleich zu Beginn des nun durch den Liebeskind Verlag neu aufgelegten Titels beschreibt Woodrell, wie erbarmungslos brutal die Rebellen während des amerikanischen Bürgerkriegs unterwegs waren, wobei der junge Ich-Erzähler Jake Roedel recht nüchtern über das Aufknüpfen eines unbescholtenen Deutschen, der mit seiner Familie nach Utah unterwegs ist, und seinen eigenen Mord an dem zur Rettung seines Vaters eilenden Sohn berichtet. Schließlich ist Roedel eher per Zufall zu den Freischärlern gekommen und versucht, sich als einer der ihren zu etablieren. Doch je brutaler Black John und seine Gefolgsleute gegen die andere Seite vorgehen, desto mehr beginnt sich Roedel von dem zweckentfremdeten brutalen Vorgehen seiner Truppe zu distanzieren.
Woodrell beschreibt Jake Roedels Teilnahme an den entsetzlichen Massakern der Rebellen zunächst recht nüchtern, so dass es dem Leser gar nicht in den Sinn kommt, dessen Aktivitäten besonders verwerflich zu finden. So waren eben die Zeiten damals. Doch Woodrell lässt auch immer wieder trockenen Humor in die pointierten Dialoge und Beschreibungen einfließen, vor allem, als die kecke Sue Lee eine immer größere Rolle in Roedels Leben einzunehmen beginnt. Der zuweilen lakonische Ton lockert die Geschichte immer wieder auf, täuscht aber eben nicht darüber hinweg, dass Woodrell hier ein ganz düsteres Kapitel der US-amerikanischen Geschichte thematisiert.  Die Geschehnisse aus der Sicht eines unbedarften 19-Jährigen zu schreiben, erweist sich als geschickter Schachzug, denn so erhält auch der Leser einen ganz unverfälschten persönlichen Blick auf die schrecklichen Ereignisse und muss sich nicht mit den möglichen Motivationen der Rebellen herumschlagen, die auch Roedel nicht so ganz begreifen kann.
Leseprobe Daniel Woodrell - "Zum Leben verdammt"

Lisa McInerney – „Glorreiche Ketzereien“

Dienstag, 26. Juni 2018

(Liebeskind, 446 S., HC)
In ihren jungen Jahren hat Maureen Phelan einen unehelichen Sohn gezeugt, ihn bei ihren Eltern aufwachsen lassen und sich selbst nach London abgesetzt, um der familiären Schmach zu entfliehen. Mittlerweile ist ihr Jimmy der Gangsterboss in der irischen Kleinstadt Cork und hat seine Mutter zurück nach Cork geholt und sie in einem Haus untergebracht, das vorher als Bordell gedient hat. Als Maureen eines Tages einen vermeintlichen Einbrecher mit einer steinernen Devotionalie erschlägt, beauftragt sie Jimmy mit der Entsorgung der Leiche, der sich aber damit nicht selbst die Hände schmutzig macht, sondern dafür seinen alten Kumpel Tony Cusack einspannt.
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Toten um Robbie O’Donovan, der für seine Freundin, die Prostituierte Georgie Fitzimons, eben jenen Skapulier besorgen sollte, der ihm zum tödlichen Verhängnis wurde. Tony Cusack hat allerdings auch selbst genügend Probleme. Der alkoholsüchtige Vater von sechs Kindern muss miterleben, wie sein 16-jähriger Sohn Ryan erst von der Schule fliegt und dann für seinen Kumpel Dan wegen Drogenhandels in den Knast wandert. So verpasst Ryan den Abschlussball und wird später mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, dass seine Freundin Karine bei diesem Ball fremdgegangen ist. Allerdings hat es auch Ryan bislang mit der Treue nicht so genau genommen. Da Jimmy zunehmend genervt davon ist, dass Georgie wegen Robbie unangenehme Fragen stellt, sollen die Cusacks für eine nachhaltige Lösung sorgen …
„Was war aus ihm geworden auf seiner Reise durch die Unterwelt? Nichts weiter als ein weiteres betrügerisches Arschloch in einer Stadt voller betrügerischer Arschlöcher. Mit fünfzehn hatte er angefangen und war dumm genug gewesen zu denken, er könnte wieder damit aufhören. Die Vorhersehbarkeit seiner Wandlung schmerzte fürchterlich.“ (S. 346) 
Die aus der irischen Provinz Connacht stammende Lisa McInerney war zunächst als Bloggerin unterwegs, ehe sie von dem Schriftsteller Kevin Barry dazu ermuntert wurde, Kurzgeschichten zu schreiben, die dann auch in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen sind.
Ihr Debütroman „Glorreiche Ketzereien“ wurde 2016 gleich für den Irish Book Award und den Dylan Thomas Award nominiert, erhielt den Bailey’s Women’s Prize for Fiction und Desmond Elliott Prize. Man fühlt sich ein wenig an Douglas Couplands „Alle Familien sind verkorkst“ erinnert, wenn der Leser Bekanntschaft mit all den verzweifelten Typen macht, die in Cork ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen, weil sie dem Alkohol, den Drogen oder dem Sex verfallen sind und vor Betrug, Verrat und Mord nicht zurückschrecken, um ihre kaputten Familien zu schützen.
Vor diesem Hintergrund entwickelt die Autorin einen vielschichtigen Plot, in der irgendwie alle familiären und frei gewählten Beziehungen auf dem Prüfstein stehen. Dabei treffen die vortrefflich gezeichneten Figuren am laufenden Band die falschen Entscheidungen und bringen sich und ihre Liebsten noch mehr in die Bredouille, wobei der Gangster Jimmy Phelan keine Gnade mit den Menschen kennt, die ihm auch nur ansatzweise in die Quere kommen könnten.
Es fällt nicht immer leicht, den ständig wechselnden Figuren und ihren verzwickten Situationen zu folgen, in die sie sich manövrieren, aber der Roman lebt vor allem von seinem schwarzen Humor und der drastischen Sprache, die Lisa McInerney für all die Verfehlungen ihrer verkorksten Charaktere verwendet, die ihr Heil mal in einer Sekte, oft genug aber einfach im Drogenrausch suchen.
Es ist ein tristes, düsteres und unheilvolles Schicksal, das Corks Bewohner teilen, aber McInerney schafft es, die verhängnisvollen Verwicklungen so temporeich, humorvoll und sprachgewandt zu schildern, dass der Lesefluss und die Neugier auf den weiteren Verlauf der Handlung gesichert ist. Zum Glück hat die Autorin mit „The Blood Miracles“ schon eine Fortsetzung veröffentlicht, die hoffentlich auch bald ins Deutsche übersetzt wird. 
Leseprobe Lisa McInerney "Glorreiche Ketzereien"