Tamar Halpern – „California Girl“

Dienstag, 31. Oktober 2023

(Diogenes, 304 S., HC) 
Die in Los Angeles lebende Tamar Halpern hat ihren akademischen Abschluss an der University of Southern California's School of Cinematic Arts gemacht und seit 2001 bislang hier weithin unbekannte Filme wie „Shelf Life“, „Your Name Here“, „Jeremy Fink and the Meaning of Life“ und „Llyn Foulkes One Man Band“ inszeniert. Nun legt sie mit „California Girl“ ihr literarisches Debüt vor, das sich ähnlich wie Vendela Vidas „Die Gezeiten gehören uns“ mit den Erfahrungen eines pubertierenden Mädchens im Kalifornien der 1980er Jahren auseinandersetzt. 
Anfang der 1980er Jahre pendelt die vierzehnjährige Timey zwischen ihrem in Berkeley lebenden Vater, der als Physikprofessor an der Universität lehrt, und ihrer in Los Angeles lebenden Hippie-Mutter, die dort gerade ihr Kunststudium beendet hat, hin und her und lernt so zwei ganz unterschiedliche Welten kennen. Während sie im San Fernando Valley die beiden Zwillinge B und N als beste Freundinnen hat, die ihr den California Lifestyle nahebringen, helfen ihr in San Francisco die Joints über die tristen Zeiten in ihrem Leben hinweg. 
Timey ist es gewohnt, sich ständig an neue Umgebungen anpassen zu müssen, denn mit ihren Eltern, die eine offene Beziehung zu leben versuchten und daran scheiterten, zog sie jedes Jahr um, musste sich immer wieder als Außenseiterin mit anderen Außenseiterinnen anfreunden. Mittlerweile ist Timeys Mutter zum dritten Mal verheiratet, ihr Dad hat seine neue Freundin Minnie im Schauspielkurs kennengelernt und mit seinen merkwürdigen Regeln immer neue Konflikte verursacht. Im prädigitalen Zeitalter verabredet man sich noch per Telefon und vereinbart geheime Codes, um sicherzustellen, auch den einzigen Telefonanschluss im Haus zu sichern, wenn der Anruf einer Freundin erwartet wird. 
Es werden verschiedene Moden und Drogen ausprobiert, das Desegregation-Busing, mit dem die Milieus an den Schulen vermischt werden sollen, entwickelt sich zu einem Flop. Timey lernt Bands wie D.O.A., R.E.O. Speedwagon und Journey kennen, hält aber Led Zeppelin und Pink Floyd für die größten Bands der Welt. 
„Heute Abend ist die Musik laut und wütend und besitzergreifend. Da ist keine Schönheit, kein langes Gitarrensolo, das dir klarmacht, wie viel in der Welt noch darauf wartet, die das Herz zu brechen. Ich sehe zu, wie Jeni ihre rote Lockentolle über die Waschbäraugen schüttelt. Dabei wird mir klar, dass sie und ich nicht dieselbe Person sind, und das tut mir weh.“ (S. 133) 
Timey macht die üblichen Teenager-Erfahrungen, wird beim Ladendiebstahl erwischt, schwänzt den Theaterkurs, um Gras zu rauchen, und lernt auf nicht ganz freiwillige Weise, was es mit dem großen Ding namens Sex auf sich hat… 
Tamar Halpern erzählt in ihrem Romandebüt zwar die Coming-of-Age-Geschichte eines Teenager-Mädchens, das durch die Scheidung ihrer Eltern die unterschiedlichen Lebenskulturen im San Francisco Valley und Los Angeles aus nächster Nähe kennenlernt, aber wirklich Kontur gewinnt weder die 14-jährige Icherzählerin noch die vielen Menschen, denen sie in der kurzen Zeit sowohl hier als auch dort begegnet. Durch den episodenhaften, fragmentarischen Charakter kommt man zwar mit einer Vielzahl von Phänomenen der 1980er Jahre in Verbindung, doch das lässt eher eigene Erinnerungen aufploppen, sofern man in jener Zeit seine Teenagerjahre verbracht hat, als eine Nähe zu den Figuren aufzubauen. Die bleiben leider bis zur Karikatur nur skizzenhaft. Dafür überzeugt Halpern mit einem flüssigen Schreibstil, der sowohl humorvolle als auch ernste Töne miteinander zu verbinden vermag. 
Das Interessanteste an Tamar Halperns Romandebüt ist vielleicht nicht die Erzählung selbst, sondern die immerhin fünfzig Seiten umfassenden Fußnoten, die „wegen ihrer Bedeutsamkeit in der gleichen Größe wie der Text gesetzt“ sind. Hier gibt die Autorin versierte Exkurse zur Valley-Architektur, Fotografie, Teenager-Telefonanrufe, Föhnwellen und Kartonwein zum Besten, was den zeitgeschichtlichen Rahmen, in dem „California Girl“ angesiedelt ist, noch mehr Profil gewinnen lässt.  

Lina Nordquist – „Mein Herz ist eine Krähe“

Samstag, 28. Oktober 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Als hätte die 1977 im schwedischen Norrala geborene Lina Nordquist als außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und Politikerin nicht schon genug zu tun, legte sie im Jahr 2021 mit dem nun auch in deutscher Übersetzung erhältlichen Buch „Mein Herz ist eine Krähe“ ihr Romandebüt vor, das in ihrer Heimat gleich als Buch des Jahres ausgezeichnet worden ist. Erzählt wird die Geschichte zweier durch eine im Wald gelegene Kate und Familie verbundene Frauen, die schwer mit ihrem Los zu kämpfen haben. 
Im Jahr 1897 sieht sich Unni gezwungen, mit ihrem Sohn Roar ihre norwegische Heimatstadt Trondheim zu verlassen, nachdem der Pfarrer, der sie zuvor missbraucht hat, sie als Kindsmörderin anklagt und in die Irrenanstalt abtransportieren lassen will. Mit den zwei gestohlenen Goldringen der Prälatur Trondheim und ihrem Geliebten Armod gelingt ihr die Flucht über die Grenze. Nach der entbehrungsreichen Reise über die Grenze gelangen sie in das schwedische Hälsingland, wo sie von Bauer Nilsson eine Waldhütte pachten können. „Frieden“ nennen sie ihr neues Zuhause, doch die ersten Jahre sind von einem mehr als harten Überlebenskampf geprägt. 
Die Nahrung, die sie im Wald finden und selbst anbauen, reicht ebenso wenig, den ewigen Hunger zu stillen wie die Früchte, die Armods Arbeit einbringt. Schließlich muss er erst die Pachtraten bei Bauer Nilsson abarbeiten, ehe er für seine Familie sorgen kann. Der allgegenwärtige Hunger belastet auch die Beziehung zwischen Unni und Armod, doch am Ende hält ihre Liebe sie zusammen – bis Armod bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt und Unni sich und die mittlerweile zwei Kinder allein durchbringen muss. Das nutzt Bauer Nilsson gnadenlos aus, sucht Unni zu jedem beliebigen Zeitpunkt heim, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, nie verliert sie ihren Mut. 
„Der Schmerz sprach in unzähligen Zungen. Und dennoch gingen mir die alltäglichsten Dinge durch den Kopf, dass meine Blase drückte oder dass etwas an meiner Schulter scheuerte. Vielleicht konzentriert sich der Körper auf Belanglosigkeiten, wenn seine Bewohnerin nur noch daliegen und aufgeben will. Aber dann versetzte es mir einen Stich, als ich dich neben mir atmen hörte, du warst wach, obwohl wir hätten schlafen sollen, und da wusste ich, ich war noch am Leben. Die Glut in mir erlosch nicht.“ (S. 335) 
1973 sitzen sich die dreiundfünfzigjährige Kåra und ihre Schwiegermutter Bricken gegenüber, um die Beerdigung von Brickens Mann Roar zu planen. Auch Kåra hat eine Geschichte von Entbehrungen zu erzählen, war ihre Ehe mit Brickens und Roars Sohn Dag kaum von Erfüllung geprägt. 
Der Tod dient als Aufhänger von Lina Nordquists in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Romandebüt. Er zieht sich ebenso wie der Hunger, der Schmerz und die Gewalt wie ein roter Faden durch „Mein Herz ist eine Krähe“, verbindet die Ich-Erzählungen zweier Frauen, die nur mit Mühe zu einem in Ansätzen selbstbestimmten Leben gelangen. 
Vor allem Unni wächst dem Leser schnell ans Herz. Ihr Leben wirkt wie eine Tour de Force, die die Autorin mit ungebändigter Sprachgewalt ihrer Leserschaft bildreich vor Augen führt. Wie Unni, die über fundierte Heilkräuter-Kenntnisse (samt ihrer giftigen Verwandten) verfügt, erst der Tortur durch den heimischen Pfarrer, dann der Wanderung durch die Wälder bis nach Hälsingland und schließlich durch die von Hunger und Not geprägten Winter in der gepachteten Waldkate zu entkommen versucht, ist erschütternd eindringlich beschrieben und nichts für schwache Nerven. 
Kåras Nöte sind von anderer Qualität, muss sie sich doch in einem Konstrukt von Lügen bewegen, um das fragile Zusammenleben mit Bricken und Roar auf der einen Seite und mit ihrem Mann Dag auf der anderen Seite nicht zu gefährden. 
Mit ihrer poetischen Sprache fesselt Nordquist ihr Publikum allerdings von Beginn an, wobei die beiden Frauencharaktere so eindringlich charakterisiert werden, dass man ihren bewegenden Schicksalen bis zum nicht ganz hoffnungslosen Ende unbedingt folgen möchte. Dieses sprachlich außergewöhnliche Debüt sollte mühelos auch das deutsche Publikum begeistern!  

Vendela Vida – „Die Gezeiten gehören uns“

Mittwoch, 25. Oktober 2023

(Diogenes, 288 S., Tb.) 
Die US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Vendela Vida, die mit dem bekannten Schriftsteller Dave Eggers verheiratet ist und mit ihrer Familie in der San Francisco Bay Area lebt, beschäftigt sich seit ihrem im Jahr 2000 erschienenen Debüt „Girls on the Verge: Debutante Dips, Drive-Bys, and Other Initiations“ vor allem um die emotionalen Achterbahnfahrten, die Frauen auf dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung erleben, so auch in ihrem vielleicht bekanntesten Roman „Liebende“
Nachdem die gebundene Ausgabe von Vidas aktuellen Roman „Die Gezeiten gehören uns“ im vergangenen Jahr im Hanser Verlag erschienen war, ist die Taschenbuchausgabe nun bei Diogenes erhältlich. 
Die vierzehnjährige Eulabee lebt Mitte der 1980er Jahre mit ihren Freundinnen Julia, Faith und Maria Fabiola in Sea Cliff, einer wohlhabenden Gegend im kalifornischen San Francisco, wo der Blick auf das Meer und die Golden Gate Bridge nicht verstellt ist und besucht mit ihnen die Spragg School for Girls. Eulabees Vater Joseph unterhält eine Kunst- und Antiquitätengalerie in der Gegend, ihre aus Schweden stammende Mutter Svea arbeitet als Krankenschwester. 
Die unbeschwerte Mädchen-Freundschaft erfährt allerdings eine harte Zäsur, als die Mädchen eines Morgens von einem Mann in einem weißen Auto angehalten und nach der Uhrzeit gefragt werden. Während Maria Fabiola anschließend gegenüber der Polizei behauptet, der Mann habe sich dabei angefasst, will Eulabee nichts davon bemerkt haben und wird daraufhin zur Aussätzigen. Schließlich wird Maria Fabiola vermisst und zu einem echten Medienereignis. Während das verschwundene Mädchen täglich in den Nachrichten erwähnt wird, verliebt sich Eulabee in den coolen Keith…
 „Ich spiele mit dem Gedanken, ihm von meiner Theorie zu erzählen, dass sie gar nicht entführt wurde, sondern ihr Verschwinden selbst inszeniert hat, beschließe aber, dass es gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ich habe nicht genug Beweise; streng genommen gar keine. Außerdem habe ich es satt, dass Maria Fabiola das einzige Gesprächsthema ist. Und das schon seit Monaten. Selbst wenn Leute über andere Themen reden, reden sie eigentlich über sie.“ (S. 131)
In ihrem ebenso kurzen wie eindringlich geschriebenen Roman gelingt es Vendela Vida über ihre Ich-Erzählerin Eulabee, die komplexe Gefühlswelt von Teenager-Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden zu beschreiben. Darin werden vor allem die Mechanismen aufgezeigt, mit denen die Mädchen um die Aufmerksamkeit und Anerkennung nicht nur ihrer Geschlechtsgenossinnen ringen, sondern auch mit ihren aufkeimenden weiblichen Reizen die jungen Männer zu fesseln vermögen und dabei natürlich auch wieder Eifersüchteleien und Missgunst hervorrufen. 
So kommt es, dass sich die Mädchen einiges einfallen lassen, um ihre Stellung unter ihresgleichen zu erhöhen, wobei die Wahrheit mehr als nur etwas gedehnt wird. 
„Die Gezeiten gehören uns“ ist ein wunderbar einfühlsamer, ebenso humorvoller wie erschütternder und vor allem authentisch wirkender Roman über die Herausforderungen pubertierender Mädchen, ihren Platz in einer Welt zu finden, in der der schöne Schein mehr bedeutet als ein moralisch integres Wesen. Dabei entwickelt die Geschichte einen magischen Sog, dem man sich bis zum Sprung in die Gegenwart nicht entziehen kann.  

Håkan Nesser – „Ein Fremder klopft an deine Tür“

Dienstag, 17. Oktober 2023

(btb, 368 S., HC) 
Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren hat der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser seit 1993 maßgeblich zur Popularität skandinavischer Krimis vor allem auch im deutschsprachigen Raum beigetragen, doch hat sich Nesser stets bemüht, die Grenzen des Krimi-Genres auszuloten und sich auf literarische Krimis mit philosophischen Zügen zu verlegen. Dazu trugen nicht nur die Romane um Inspektor Barbarotti bei, sondern auch unzählige eigenständige Romane wie zuletzt „Der Fall Kallmann“ und „Der Halbmörder“. Mit seinem neuen Buch bewegt sich Nesser zumindest regional in Van Veeterens Gefilden, nämlich in Maardam, wo nun sein Nachfolger Kommissar Jung seinen Dienst verrichtet. „Ein Fremder klopft an deine Tür“ stellt eine Sammlung von drei unabhängigen Geschichten dar, in denen Jung allerdings nur jeweils eine winzig kleine Nebenrolle verkörpert. 
In „Bewunderung“ verspürt Anna Kowalski ein gewisses Kribbeln, als sie am Valentinstag genau zwischen ihrer eigenen Wohnungstür und der ihrer Nachbarin Wilma Verhoven einen Briefumschlag entdeckt, der nicht beschriftet, sondern nur mit einem gezeichneten Herzen versehen worden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Brief eigentlich eher an die zehn Jahre jüngere, sehr attraktive und. entsprechend begehrte Wilma gerichtet ist, doch nicht zuletzt der Neid lässt Anna den Brief an sich nehmen und öffnen lässt. Der darin enthaltene Schlüssel führt Anna zu einem Schließfach am Bahnhof, dann zu einem begehrten Logenplatz in der Oper, wo der heimliche Bewunderer allerdings nicht auftaucht. Für Anna stellt diese geheimnisvolle Schnitzeljagd eine willkommene Abwechslung zu der zehnjährigen Ehe mit dem Kartonfabrikanten Herbert dar, doch mit der Entdeckung einer Leiche wird aus dem amourösen Spiel auf einmal bitterer Ernst… 
„Buße“ erzählt die Geschichte eines 65-jährigen Mannes, der vor zehn Jahren in das ländliche Lembork gezogen ist, vor fünf Jahren die beiden Islandpferde eines verstorbenen Bauern übernommen und es sich zur Gewohnheit gemacht hat, zweimal die Woche mit dem Bus nach Lindenberg zu fahren, wo er sich in das Café gegenüber der Kirche setzt und zu seinem Kaffee ein Käsebrot verzehrt. Das ist eine willkommene Abwechslung zu der Arbeit an der Übersetzung eines 1300 Seiten umfassendes Werk eines deutschen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert darstellt, mit der der Mann normalerweise seine Zeit verbringt. Immer wieder muss er aber auch an das Mädchen in der dünnen Lederjacke denken, das ebenfalls regelmäßig in dem Bus sitzt und offensichtlich zum Gymnasium in Lindenberg geht. Doch dann macht er eine beunruhigende Beobachtung und folgt dem Mädchen… 
„Ihm ist klar, dass er zurückkehren wird, und wenn an diesem vorerst noch konturlosen Platz etwas erforscht werden muss, wird er Zeit haben, es zu tun. Aber jetzt, während er dort sitzt, sind ihre tiefen Atemzüge, wie sie sich wappnete, ihr Widerwille, die schmale Straße in Moerkerlands Wald hinaufzugehen, wichtig. Das Bild ist auf eine Weise fordernd, mit der er nicht richtig umzugehen weiß. Noch nicht, aber es eilt auch nicht. Wie gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, wird er wissen, was seine nächsten Schritte sein werden.“ (S. 165) 
In der Titelgeschichte erinnert sich die fünfundvierzigjährige Judith Miller an die Ereignisse, die vor fast achtzehn Jahren ihren Anfang genommen haben, als sie einem fremden, verwahrlost aussehenden Mann während eines Unwetters die Tür ihrer Waldhütte öffnete und ihm das Bett überließ, damit er sich einmal richtig ausschlafen konnte. Wie sich nach dieser ungewöhnlichen Nacht herausstellen sollte, hat Judiths nächtlicher Gast zusammen mit zwei weiteren Männern bei einem Einbruch Goldbarren im Wert von einer Million Euro erbeutet. Vor einem halben Jahr hat Judith nun einen Brief mit einer Karte und Erklärungen bekommen, die ihr und ihrer Tochter Nora ein unbeschwertes Leben ermöglichen sollten. Doch auf den verborgenen Schatz hat es noch jemand abgesehen… 
Auch wenn es in jeder dieser drei Geschichten um Verbrechen geht, handelt es sich weniger um klassische Whodunit-Plots, auch nicht um die kriminalistische Auflösung der Fälle, sondern vor allem um die Schilderung einzelner Schicksale, wie sie in Verbindung mit den nachfolgenden Verbrechen gekommen sind. Die Frage nach der Täter-, Mittäterschaft oder des Opfers spielt dabei ebenfalls eine nachgeordnete Rolle. 
Nesser schildert in seiner gewohnt leicht verständlichen, bildreichen und immer wieder auch humorvollen Sprache ausführlich die jeweiligen Lebensumstände der männlichen wie weiblichen Protagonisten und widmet deren Alltag und Handlungen ebenso viel Aufmerksamkeit wie den vielfältigen Gedankengängen, wobei Nessers Sinn fürs Philosophische immer wieder durchscheint. Fans klassischer Krimiliteratur werden wenig erbaut sein von den Plots, in denen das Zufallsprinzip gerade in den nur kurz skizzierten Auflösungen arg überstrapaziert wird. Das hat Nesser früher weitaus besser gelöst. 

James Patterson – (Women’s Murder Club: 19) „Das 19. Weihnachtsfest“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Blanvalet, 382 S., Pb.) 
Nachdem sich James Patterson mit der 1993 gestarteten Reihe um den in Washington lebenden Polizeipsychologen Alex Cross zu einem internationalen Bestseller-Autoren gemausert hatte, veröffentlichte er 2001 nicht nur den bereits siebten Band um Alex Cross, sondern mit „1st To Die“ („Der 1. Mord“) auch den Auftakt einer neuer Reihe, die in San Francisco angesiedelt ist und in der Sergeant Lindsay Boxer mit ihren weiblichen Verbündeten den Kampf gegen das Verbrechen aufnimmt. 
Zunächst war noch Andrew Gross Pattersons Co-Autor, seit dem vierten Band weiß der ehemalige Leiter einer Werbeabteilung die ansonsten unbekannte Maxine Paetro an seiner Seite. Allerdings kommt dieses Arrangement nur Pattersons ohnehin üppig gefülltem Portemonnaie zugute, während die Qualität der Women’s-Murder-Club-Reihe seit Jahren darunter leidet. Da macht „Das 19. Weihnachtsfest“ leider keine Ausnahme. 
Vier Tage vor dem Weihnachtsfest unternimmt Sergeant Lindsay Boxer mit ihrem Mann Joe, ihrer dreieinhalbjährigen gemeinsamen Tochter Julie und ihrer in die Jahre gekommenen Border-Collie-Hündin Martha einen fröhlichen Spaziergang durch die bunt geschmückten Straßen von San Francisco. Ihre Freundin, die Staatsanwältin Yuki Castellano, freut sich mit ihrem Mann Brady, der neben seiner Funktion als Lieutenant der Mordkommission momentan auch noch das Amt des Polizeichefs bekleidet, auf einen gemütlichen Abend im Schlafzimmer. Dieses Vergnügen bleibt der investigativen Journalistin Cindy Thomas und ihrem Lebensgefährtin Rich Conklin verwehrt, hat sie doch ein wichtiges Interview vor sich. Die Pathologin Claire Washburn ist mit ihrem Mann Edmund auf dem Weg nach San Diego, wo sie in den Winterferien ein Kompaktseminar für den Masterstudiengang in Kriminalmedizin abhalten soll. 
Doch die fröhliche Weihnachtsstimmung wird empfindlich getrübt, als Boxer und ihr Partner Conklin während ihrer Mittagspause am 21. Dezember einen Ladendieb erwischen und von ihm im Verhör auf einen spektakulären Raub hingewiesen werden, der von einem mysteriösen Mann namens Loman geplant worden ist. In Folge der Ermittlungen stoßen Boxer und ihre Kollegen allerdings auf verschiedene Orte, wo der Raub stattfinden soll. Neben dem de Young Museum stehen auch eine Internet-Firma, ein Attentat auf den Bürgermeister Caputo und der Flughafen von San Francisco auf der möglichen Liste, was immer mehr polizeiliche und militärische Kräfte der Stadt auf den Plan ruft. Doch was hat dieser Loman wirklich vor? 
Wenn Patterson und Paetro zu Beginn von „Das 19. Weihnachtsfest“ kurz abstecken, wie die einzelnen Mitglieder des Clubs der Ermittlerinnen ihre Vorweihnachtstage verbringen, kommt kurz Hoffnung auf, dass sich der Plot um etwas mehr dreht als nur um einen gewöhnlichen Kriminalfall, doch dagegen spricht schon der knapp bemessene Raum von fast hundert, jeweils ca. dreiseitigen Kapiteln, die schnell von Lindsay Boxer und ihrem Partner Rich Conklin in Beschlag genommen werden, wenn sie auf eine Schnitzeljagd nach irreführenden Hinweisen zu einem spektakulären Raubüberfall gehen, der allerdings nur skizzenhaft thematisiert wird. 
Patterson und seine Co-Autorin setzen allein auf eine forcierte Handlung, bei dessen Inszenierung die Figuren nur schemenhaft umrissen werden und zu denen die Leserschaft keine Beziehung aufbauen kann. Leider ist nicht mal der Loman-Raub ein besonders interessanter Fall, so dass an der Story letztlich nur ungewöhnlich erscheint, dass die anfangs so glücklich beschriebenen Paare über die Feiertage wegen des immensen Arbeitspensums einige Krisen zu bewältigen haben. Es ist allerdings bezeichnend, dass die Chance zu einer psychologisch tieferen Charakterisierung fahrlässig vertan wird. 
Das trifft auch auf die am Rande erwähnten Nebenschauplätze wie Cindys Reportage über die Weihnachtsbräuche von Einwanderern zu, mit der die Autoren die Möglichkeit gehabt hätten, etwas mehr über die soziale Struktur in San Francisco in den Plot einfließen zu lassen. „Das 19. Weihnachtsfest“ erweist als alles andere als ein festliches Vergnügen, da die Protagonistinnen kaum Gelegenheit bekommen, Profil zu gewinnen. Stattdessen wird ein unnötig aufgebauschter Kriminalfall in den Fokus gestellt, dessen Auflösung ebenfalls bar jeder Überraschung ist.  

Stephen King – „Holly“

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.