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Richard Russo – „Jenseits der Erwartungen“

Dienstag, 19. Mai 2020

(DuMont, 432 S., HC)
Um der alten Zeiten willen treffen sich die mittlerweile allesamt sechsundsechzigjährigen Freunde Lincoln Moser, Teddy Novak und Mickey Giradi im Spätsommer auf Martha’s Vinyard wieder, wo Lincoln das Ferienhaus seiner Eltern in Chilmark zu verkaufen gedenkt. Sie hatten einst zur Zeit des Vietnamkriegs am humanistisch ausgerichteten Minerva College in Connecticut studiert, sich ein Apartment geteilt und jeweils entweder in der Küche oder im Service im Haus der Studentinnenverbindung Theta jobbten.
Seit jener Zeit sind sie in alle Winde zerstreut und haben ganz unterschiedliche berufliche Wege eingeschlagen: Teddy hat sich mit einem Kleinverlag für esoterisch ausgerichtete Schriften in Syracuse selbständig gemacht, Lincoln ist in Las Vegas als Immobilienmakler sesshaft geworden und hat mit seiner Frau Anita eine Familie gegründet, Mickey ist als Musiker und Toningenieur im nahe gelegenen Cape Cod tätig.
Sie alle einen aber die Erinnerungen an die erste der beiden Vietnam-Einberufungslotterien am 1. Dezember 1969, als Mickeys Geburtstag als neunte von 366 Möglichkeiten gezogen wurde und er mit dem Gedanken zu spielen begann, nach Kanada auszuwandern. Doch noch mehr sollte sie das Verschwinden von Jacy Calloway bewegen, in die sie alle gleichermaßen verliebt waren. In dem Ferienhaus, in dem seine Eltern mit der Familie immer den Sommer verbrachten und auf das es nun ihr Nachbar Mason Troyer abgesehen hat, werden die alten Geschichten aufgewärmt, und vor allem Lincoln kommt nicht davon los, herauszufinden, was aus Jacy geworden ist, nachdem sie sich mit Vance verloben wollte und die drei jungen Männer damals nur mit einer Abschieds-Notiz kollektiv verlassen hatte und nie wieder auftauchen sollte. Er stöbert in den Archiven der örtlichen Vineyard Gazette und befragt den damals ermittelnden Polizeibeamten Joe Coffin, doch der Anfangsverdacht ausgerechnet gegen Mason Troyer, der wegen Belästigung junger Frauen bereits aktenkundig ist, bewegt sich schließlich in eine viel beunruhigendere Richtung …
„Als Mickey später witzelte, er werde ihren Verlobten umbringen, regte sich in Lincoln etwas Dunkles, Tückisches, wobei er den Gedanken natürlich , so gut er es vermochte, von sich wies. Nein, natürlich würden sie Jacys Verlobten nicht umbringen. Sie hatten doch lediglich bekräftigt, dass, wenn es eine Frau gab, die es wert wäre, deren Verlobte umzubringen, dann Jacy. Und doch …“ 
Richard Russo, der für seinen Roman „Diese gottverdammten Träume“ 2002 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, erweist sich auch in seinem neuen Werk „Jenseits der Erwartungen“ als einfühlsamer Erzähler, der vor dem Hintergrund einer ungewöhnlichen (Gruppen-)Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang die unterschiedlichen Lebensläufe, Träume und Sehnsüchte seiner drei Protagonisten ausbreitet. Dabei wird deutlich, dass sie sich zwar gern als die drei Musketiere betrachtet haben und kollektiv in Jacy verliebt waren, aber letztlich jeder ganz individuell mit ihrem Verlust umgehen musste. Bei der Charakterisierung zeigt sich Russo als feinfühliger Beobachter der menschlichen Seele. Mit viel Sympathie zeichnet er das Leben der drei Männer nach, ihre familiären Hintergründe und vor allem die Zeit, in der sie lebten, die zwar auch von freier Liebe und Drogenkonsum, aber eben auch vor der Angst vor dem Vietnamkrieg geprägt war.
Durch das Verschwinden ihrer gemeinschaftlichen Traumfrau entwickelt Russo aber auch einen gut durchdachten Krimi-Plot, der allerdings zum Ende hin etwas weitschweifig ausgefallen ist. Davon abgesehen ist „Jenseits der Erwartungen“ ein wundervoller Roman über Freundschaft und Liebe geworden, der die ungewöhnliche Beziehungskonstellation ebenso glaubwürdig wie packend darstellt.