Thomas Harris – „Cari Mora“

Samstag, 18. Mai 2024

(Heyne, 336 S., HC) 
Ein Vielschreiber à la James Patterson, Stephen King, Jeffery Deaver, David Baldacci oder John Grisham ist Thomas Harris mit Sicherheit nicht. Ganz im Gegenteil: Zwischen seinem 1975 veröffentlichten Roman „Black Sunday“ und „Hannibal Rising“, dem 2006 veröffentlichten Prequel zur erfolgreichen „Hannibal Lecter“-Reihe, sind zwar mehr als satte dreißig Jahre vergangen, doch in der Zeit gerade mal die drei Romane der eigentlichen „Hannibal Lecter“-Trilogie erschienen, „Roter Drache“, „Das Schweigen der Lämmer“ und „Hannibal“. Harris darf sich nicht nur rühmen, dass er für „Das Schweigen der Lämmer“ nicht nur mit renommierten Preisen wie dem Bram Stoker Award, dem World-Fantasy-Award und dem Prix Mystère de la critique ausgezeichnet worden ist, sondern dass vom Erstling bis zu „Hannibal Rising“ auch alle Romane verfilmt worden sind, „Roter Drache“ sogar gleich zweifach. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an Harris‘ neuen Roman „Cari Mora“, für den sich der Bestseller-Autor mit dreizehn Jahren so viel Zeit ließ wie noch nie zuvor. 
Der komplett haarlose Deutsche Hans-Peter Schneider verfügt in vielerlei Hinsicht über einen exklusiven Geschmack. Momentan hat er es auf den Goldschatz abgesehen, den der Drogenbaron Pablo Escobar 1989 in seiner Villa an der Biscayne Bay in Miami Beach versteckt hat. Seit dessen Tod wird die Villa vor allem an Film-Crews vermietet, die vor allem die Szenerie mit Filmmonstern, Horrorfilmrequisiten, Jukeboxen, Sex-Möbeln und einem elektrischen Stuhl aus Sing Sing faszinierend finden, aber auch an Playboys und Immobilien-Spekulanten. 
Die 25-jährige Kolumbianerin wird dabei wegen ihrer ausgesprochenen Kenntnisse des Hauses oft als Haushüterin mitgebucht. Solange sie nur über eine Aufenthaltsgestattung verfügt, hält sich die frühere Kinderkriegerin entweder im Haus auf, wo sie sich um einen sprechenden Kakadu, anfallende Reparaturen und gelegentlich um das Catering kümmert, dazu hilft sie als Pflegerin in der Pelican Harbor Seabird Station aus. Um ihren Traum zu verwirklichen, Tierärztin zu werden, fehlt ihr nur die Aufenthaltsgenehmigung und das nötige Kleingeld für das Studium. Als Schneider es durch den Immobilienmakler Felix gelingt, mit seiner Crew vorzeitig in Escobars Villa zu gelangen, ist er noch dabei, dessen alten Weggefährten Jesús Villareal die Informationen abzukaufen, mit denen der geschickt gesicherte Safe geknackt werden kann, ohne dass Schneiders Truppe alles um die Ohren fliegt. Allerdings bleibt Schneider dem im kolumbianischen Barraquilla im Sterben Liegenden die letzte Rate schuldig, weshalb Villareal seine Informationen auch seinem Landsmann Don Ernesto verkauft. 
Als Ernesto, der in seiner Heimatstadt die Diebesschule Ten Bells betreibt, in Miami seine Diebesbande auf den Goldschatz in der Villa ansetzt, nimmt diese auch Kontakt zu Cari auf, die als Insiderin über wesentliche Informationen verfügt. Ernestos Konkurrent Schneider ist jedoch nicht nur an dem Schatz interessiert, sondern auch an der attraktiven Cari, die an den Armen für Schneider interessante Narben aufweist. Denn Schneider ist ein perverser Serienkiller, der Handel mit Frauen und ihren Organen betreibt, mit denen er die Gewaltfantasien einer steinreichen männlichen Klientel bedient… 
Statt eines neuen Hannibal-Lecter-Romans präsentiert Thomas Harris in seinem vielleicht schon letzten Roman einen neuen Serienkiller, doch gibt er sich keine Mühe, den deutschen Hans-Peter Schneider mit einer Hintergrundgeschichte auszustatten. Abgesehen davon, dass Schneider als Junge seine Eltern in einer Kühlkammer eingesperrt hat und ihre gefrorenen Leichen anschließend mit einer Axt in Kleinteile gehackt hat, erfährt man nicht viel aus dem bisherigen Leben des Schatzsuchers und Menschen- und Organhändlers. 
Das trifft allerdings auch – mit Einschränkungen - auf die eigentliche Hauptfigur, die titelgebende Cari Mora zu. Immerhin gewährt Harris hier einen Blick auf ihre Zeit als zwangsrekrutierte Kindersoldatin bei der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), was erklärt, warum sich Cari sehr gut mit Waffen auskennt und sich ihrer Haut zu erwehren versteht. Doch Harris fokussiert sich nicht auf das sich früh abzeichnende Duell zwischen Schneider und Cari, sondern lässt eine fast schon unübersichtliche Vielzahl von Nebenfiguren auftreten, die offenbar keiner näheren Beschreibung bedürfen und oft genug nur dazu dienen, Opfer brutale Tötungen zu werden. 
Harris vernachlässigt aber nicht nur seine Figuren, sondern sträflicherweise auch den Plot. Immer wieder wechselt er die Handlungsorte, Zeiten und Personen, so dass überhaupt kein Erzählfluss zustande kommt. Stattdessen bemüht er ausladende Vergleiche zwischen der Tierwelt und den Menschen, beschreibt ausführlich das Fressverhalten eines Salzwasserkrokodils und die Arbeitsaufteilung in einem Bienenschwarm. 
Zwar fällt es dem Publikum leicht, Cari seine Sympathien zu schenken, doch davon abgesehen berührt der nüchtern geschilderte Ekel kaum, wird keine wirkliche Spannung erzeugt. Als die Geschichte nach 275 Seiten abrupt zu Ende ist und sich als Füllmaterial noch eine 60-seitige Leseprobe von „Das Schweigen der Lämmer“ anschließt, ist die Enttäuschung komplett. „Cari Mora“ wirkt am Ende nicht wie ein Roman aus der Feder von Thomas Harris, sondern eines wenig ambitionierten Ghostwriters, dessen Werk kein Lektorat durchlaufen musste. 

Michael Connelly – (Mickey Haller: 1) „Der Mandant“

Dienstag, 14. Mai 2024

(Heyne, 528 S., HC) 
Als Autor von Kriminalreportagen und später als Polizeireporter für die Los Angeles Times hat Michael Connelly genügend Gerichtssäle von innen gesehen und so genauestens verfolgen können, wie das US-amerikanische Rechtssystem funktioniert. Seit 1992 hat er sein schriftstellerisches Talent und sein Faible für das Justizsystem in packende und preisgekrönte Romane um Detective Hieronymus „Harry“ Bosch gepackt, die schließlich die Grundlage für die mehrere Staffeln umfassende Serie „Bosch“ der Amazon-Studios bilden sollte. Nach zehn Bosch-Romanen und verschiedenen Einzeltiteln wie dem von und mit Clint Eastwood verfilmten „Blood Work“ veröffentlichte Connelly 2005 den Beginn einer neuen Romanreihe, diesmal um den sogenannten „Lincoln Lawyer“. Diesen Namen hat sich der in Los Angeles ansässige Strafverteidiger Michael „Mickey“ Haller durch den Umstand verdient, dass er über kein eigenes Büro verfügt, sondern seine Geschäfte in einem von seinem ehemaligen Mandanten Earl Briggs gesteuerten Lincoln Town Car abwickelt, wobei seine zweite Ex-Frau Lorna ihm die Fälle zuträgt und die Buchhaltung macht. 
Da momentan kaum lukrative Fälle zu verhandeln sind, freut sich Haller, als ihm der Kautionsvermittler Fernando Valenzuela den Fall von Louis Ross Roulet vermittelt. Der Sohn der prominenten Immobilienmaklerin Mary Windsor wird der Vergewaltigung und des versuchten Mordes beschuldigt. Als er das Mandat übernimmt, muss Hallers erste Ex-Frau, die Staatsanwältin Maggie McPherson, als Anklägerin wegen eines Interessenkonflikts den Fall an den noch unerfahrenen Kollegen Minton abgeben. 
Für Haller entwickelt sich der prestigeträchtige Fall zunächst ganz nach seiner Vorstellung, gelingt es ihm doch durch seinen Ermittler Raul Levin, eine Videoaufnahme zu finden, auf der zu sehen ist, wie das vermeintliche Opfer in einer Bar Roulet einen Zettel zugesteckt hat. Außerdem entdeckt Haller eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Campo und der Nachtklubtänzerin Martha Renteria, die vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet worden ist. Bei der Verteidigung des angeklagten Jesus Menendez hat sich Haller damals nicht besonders reingehängt, sondern seinen Mandanten nur durch ein Geständnis vor der Todesstrafe bewahren können, obwohl Menendez bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hatte. 
Als Haller zur Überzeugung gelangt, dass Menendez tatsächlich für ein Verbrechen verurteilt worden ist, das er nicht begangen hat, und dass Roulet ein Serienmörder und -vergewaltiger ist, muss er sehr behutsam bei seiner Verteidigungsstrategie sein, denn Roulet hat einige Druckmittel in petto, mit denen er glaubt, seinen Verteidiger in der Spur halten zu können… 
„Alles lief darauf hinaus, dass einer meiner Mandanten einen Mord begangen hatte, für den ein zweiter Mandant lebenslänglich einsaß. Ich konnte dem einen nicht helfen, ohne dem anderen zu schaden. Ich brauchte eine Antwort. Ich brauchte einen Plan. Vor allem brauchte ich Beweise.“ (S. 236) 
Mit dem Strafverteidiger Mickey Haller hat Michael Connelly eine interessante Figur erschaffen, die im Gegensatz zu John Grishams Kämpfern für die Gerechtigkeit eher am eigenen Prestige interessiert zu sein scheint als an der bestmöglichen Verteidigung seiner Mandanten, die er aber auch mal – sehr zum Ärger seiner Ex-Frau Lorna – kostenlos vertritt. Während Grishams Protagonisten eher juristische Fachbücher wälzen, um die in der Regel sehr finanzkräftige Gegenpartei in die Knie zu zwingen, ist Mickey Haller definitiv aus anderem Holz geschnitzt. Dass er bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, spricht natürlich für sich – auch wenn er zu seinen beiden Ex-Frauen nach wie vor ein gutes Verhältnis pflegt und sich gerade darum bemüht, zu seiner Teenager-Tochter Hayley einen besseren Kontakt herzustellen. 
Haller erweist sich in „Der Mandant“ als gewiefter Strafverteidiger, der der Staatsanwalt immer einen Schritt voraus zu sein scheint und selbst in Bedrängnis einen Plan entwickelt, um seine persönlichen Ziele zu wahren. Der Plot ist jedenfalls äußerst stimmig aufgebaut und steigert die Spannung kontinuierlich, doch verläuft das wendungsreiche Finale auf sehr konstruierten Bahnen, was den Gesamteindruck leicht negativ beeinflusst. 
Am Ende bietet „Der Mandant“ aber so viel packende Unterhaltung, dass es nicht verwundert, dass der Roman 2011 mit Matthew McConaughey in der Rolle des Mickey Haller verfilmt wurde und 2022 sogar in der Netflix-Serie „The Lincoln Lawyer“ mündete.


Philippe Djian – „Doggy Bag – Zwei“

Montag, 13. Mai 2024

(Diogenes, 310 S., Tb.) 
Mit Romanen wie „Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Verraten und verkauft“ avancierte Philippe Djian ab Mitte der 1980er Jahre zum Kultautor, dessen knackige Prosa, unverblümte Sprache und wilden Stories bis heute kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt haben. Im Jahr 2005 startete der Franzose mit „Doggy Bag“ ein ungewöhnliches literarisches Experiment, eine Soap in sechs Bänden. Im Mittelpunkt seiner insgesamt 1800 Seiten umfassenden Seifenoper stehen die beiden Brüder Marc und David Sollens, die in ihren Zwanzigern in dieselbe Frau, Édith, verliebt gewesen sind, worauf sie die Stadt für zwanzig Jahre mit ihrem Ausweich-Lover Paul verließ, nur um zwanzig Jahre später wieder zurückzukehren – mit ihrer neunzehnjährigen Tochter Sonia im Schlepptau. 
Bevor sich die Rivalität der beiden Brüder, die gemeinsam ein Autohaus führen, wieder zuspitzen kann, erscheinen die Fronten im zweiten Band bereits abgesteckt. Der sexbesessene Marc kauft für sich und Édith eine Villa und will fortan monogam leben, während David etwas verunsichert der Hochzeit mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne entgegensieht. Marcs und Davids Vater Victor schlägt sich mit Depressionen angesichts seiner Sterblichkeit herum und hofft, nicht ganz vergebens, auf eine Versöhnung mit seiner Frau Irène. Solange sie sich aber noch sperrt, fokussiert sich Victor ganz auf seine Enkelin Sonia. 
Irène lässt sich derweil auf eine Affäre mit einem wortkargen Tischler ein, der ihr zwar berauschende Orgasmen in seinem Lieferwagen beschert, dann aber eine Seite an sich offenbart, die Irène sprachlos macht. Und Marc muss feststellen, dass es viel schwieriger ist, monogam zu bleiben, als er erwartet hatte… 
„Im Übrigen hatte ihn diese Rothaarige fast mit den Augen verschlungen. Sie hatte ihm keine Chance gelassen, wirklich nicht die geringste. Wie viele Männer hätten sich schon geweigert, die Gelegenheit beim Schopf zu packen? Was für Schlussfolgerungen ließen sich aus dem bedauerlichen Fehltritt ziehen? Keine einzige. Zum Glück keine einzige. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, blieb noch immer der gleiche. Dieser Ausrutscher, diese Entgleisung änderte gar nichts. Nur noch Édith. Von nun an nur noch Édith.“ (S. 216). 
Djian bleibt sich auch bei seiner sechsteiligen Soap insofern treu, als er genüsslich die amourösen Abenteuer und Verstrickungen sich nah stehender Menschen beschreibt und seziert, wobei die Protagonist:innen bei Djian mit ihm zusammen altern. 
Als der Autor im Jahr 2005 mit „Doggy Bag“ begann, zählte er selbst schon 55 Lenze. Insofern verwundert es nicht, wenn nun vor allem die über Vierzigjährigen krachen lassen, aber auch jenseits der sechzig wird hier kräftig bei jeder sich bietenden Gelegenheit gevögelt. Es ist vor allem Djians sprachlicher Finesse zu verdanken, dass „Doggy Bag – Zwei“ kurzweilig zu unterhalten versteht, ohne bei den Beziehungen zwischen den Beteiligten besonders in die Tiefe zu gehen. 
„Ich versuchte, mich auf demselben Terrain durchzukämpfen, auf dem sich das Fernsehen bewegt, und ich versuche die zurückzuerobern, die kein Buch mehr aufschlagen und nur noch auf den Bildschirm starren“, beschrieb der Autor das Konzept von „Doggy Bag“. „Die Schlacht ist vielleicht von vornherein verloren, aber man muss sie trotzdem schlagen…“ 
Es ist in der Tat kaum anzunehmen, dass Djians ehemalige Leser, die nun vor der Glotze versauern, ausgerechnet durch seine Soap-Romane zurück in die literarische Welt finden, vor allem nicht über sechs Bände lang, doch vergnüglich – mehr aber auch nicht – sind die turbulenten, dialoglastigen und temporeichen Verwicklungen allemal. Und mit einem geschickten Cliffhanger vermag es Djian eventuell sogar, seine Leser zum nächsten Band greifen zu lassen…


David Baldacci – (Amos Decker: 6) „Open Fire“

Sonntag, 5. Mai 2024

(Heyne, 494 S., HC) 
Mit FBI-Agent Amos Decker, einem ehemaligen Football-Profi, der nach dem Bodycheck eines Gegners nicht nur eine folgenschwere Hirnverletzung davongetragen hatte, sondern dadurch auch ein fotografisches Gedächtnis und synästhetische Fähigkeiten beschert bekam, hat der US-amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“, „Die Wächter“) einen seiner faszinierendsten Figuren erschaffen. Mit „Open Fire“ erscheint nun der bereits sechste Fall von Decker und seiner Partnerin, der ehemaligen Journalistin Alex Jamison. 
Der Jäger Hal Parker entdeckt während seiner Jagd auf einen Wolf in den Badlands von North Dakota eine nackte Frauenleiche, der die Schädeldecke abgetrennt und die offenbar bereits obduziert worden ist. Als Decker und Jamison von ihrem Chef Bogart beauftragt werden, den Mord in der Kleinstadt London zu untersuchen, hat dieser sich ungewöhnlich wortkarg gegeben. 
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Opfer um Irene Carter, die in einer Täufergemeinde als Lehrerin arbeitete und offensichtlich nebenbei als Escort-Dame tätig war. Durch seinen Schwager Stan Baker, der durch das florierende Fracking-Geschäft nach London gezogen ist, und Lieutenant Joe Kelly vom hiesigen Police Department bekommen Decker und Jamison schnell einen Überblick über die Lage in London. Demnach sind die beiden Geschäftsleute Hugh Dawson und Stuart McClellan die Platzhirsche in der Kleinstadt, doch sind ihre Geschichten von verschiedenen Tragödien geprägt, zu denen sich bald weitere gesellen, denn offenbar will jemand mit allen Mitteln verhindern, dass die beiden FBI-Agenten hinter die Zusammenhänge zwischen dem Fracking und einer durch eine private Sicherheitsfirma streng bewachten militärischen Anlage kommen, in der einst verbotene Kampfstoffe produziert wurden. 
Als Decker und Jamison selbst zu Gejagten werden, taucht ein geheimnisvoller Mann namens Will Robie auf, der die beiden immer wieder aus brenzligen Situationen befreit. Doch Robies Anwesenheit wirft weitere Fragen auf, vor allem über eine „tickende Zeitbombe“… 
„Hatte das irgendwie mit den Rettungswagen zu tun, die Decker auf dem Gelände gesehen hatte? Und erklärte das vielleicht die mangelnde Bereitschaft des Stationskommandanten, Colonel Sumter, mit ihnen zusammenzuarbeiten? Sie mussten den Mann finden, diesen Ben, der Stan Baker gegenüber die Bemerkung über die tickende Zeitbombe gemacht hatte. Außerdem musste sich Decker mit Bakers Hilfe intensiver mit dem Fracking-Business auseinandersetzen. Nach Deckers Erfahrung waren besonders gewinnträchtige Geschäfte immer für ein Mordmotiv gut.“ (S. 162f.) 
Baldacci hat mittlerweile so viele Thriller-Serien konzipiert, dass es langsam schwerfällt, die Übersicht zu behalten, zumal die einzelnen Reihen selten mehr als fünf Romane umfassen. Dass mit „Open Fire“ bereits der sechste Band um den sogenannten „Memory Man“ Amos Decker veröffentlicht worden ist – ein siebenter namens „Long Shadows“ wartet noch auf seine deutsche Übersetzung -, spricht für das anhaltende Interesse sowohl des Autors als auch des Publikums an der Figur Amos Decker. 
Baldacci rekapituliert für Neueinsteiger noch einmal die Umstände, wie Decker zu seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten gelangt ist, beschreibt dessen Trauer über den Tod seiner Frau und seiner Tochter und das schwierige Verhältnis zu seiner Schwester Renee, die sich gerade von ihrem Mann Stan trennt, der für Deckers neuen Fall eine gute Informationsquelle darstellt. 
„Open Fire“ wartet mit einer Vielzahl von Figuren, merkwürdigen Selbstmorden und Unfällen – bereits in der Vergangenheit – auf sowie lange undurchsichtig erscheinenden Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren. Baldacci erweist sich als sehr geschickt darin, sukzessive die unzähligen Puzzleteile ins Spiel zu bringen und seine Ermittler daranzusetzen, diese Teile so zusammenzusetzen, dass die zunehmenden Todesfälle und merkwürdigen Erscheinungen Sinn ergeben. Dass Decker und Jamison dabei von einem anderen Serien-Helden Baldaccis – Will Robie – Unterstützung bekommen, sorgt vor allem für mehr Action und Geheimdiensthintergrund, macht die Handlung aber gerade im letzten Viertel zunehmend unglaubwürdiger. Dazu zählt die überraschend einfache Befreiung von Ketten und aus einem unterirdischen Verlies – in dem zufällig auch noch Sprengstoff gelagert wird -, aber auch das sehr konstruierte Motiv, das hinter den ganzen Morden steckt. Hier wäre weniger – an Figuren, Action und Zusammenhängen – definitiv mehr gewesen.