„Filmjahr 2023/2024 – Lexikon des internationalen Films“

Sonntag, 31. März 2024

(Schüren, 528 S., Pb.) 
Auch nach über 75 Jahren seit seiner Gründung zählt nicht nur der „Filmdienst“ selbst als unerschütterlicher Wegweiser durch die Welt der Kinofilme, Fernsehproduktionen, DVD- und Blu-ray-Veröffentlichungen, Streamingdienste und Serien, sondern auch das zum Glück nach wie vor als Printprodukt verfügbare „Lexikon des internationalen Films“
Mittlerweile hat sich das Angebot von kritischen Filmrezensionen fast ausschließlich auf Online-Medien verlagert, auch der „Filmdienst“ ist nach seiner Einstellung als Print-Magazin seit 2017 nur noch online verfügbar. Mit dem alljährlichen Rückblick auf das vergangene Filmjahr bietet der Filmdienst in Zusammenarbeit mit dem Schüren Verlag aber zum Glück nach wie vor auch in Buchform Orientierung und Gelegenheit zum Schmökern durch die facettenreiche Welt des Films, die nach der Überwindung der Corona-Pandemie nun vor allem unter der Bedrohung der Kriege in der Ukraine und in Gaza, aber auch der Herausforderung durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz steht. 
Das „Lexikon des internationalen Films“ sieht sich deshalb nicht nur als umfassendes Kompendium über das Medium Film an sich, sondern gibt gleich zu Anfang einen Überblick über das (Film-)Jahr 2023 mit monatlichen Schlagzeilen aus dem Weltgeschehen, den wichtigsten Filmen und Wegpunkten wie Filmfestivals und jüngst verstorbenen Filmschaffenden. 
So subjektiv Filmrezensionen auch sind, so geben gerade die von den Kritikerinnen und Kritikern von www.filmdienst.de zusammengestellten „20 besten Filme des Jahres 2023“ im (Heim-)Kino eine sinnvolle Orientierung oder auch einen wichtigen Impuls zum Entdecken. Ausführlich werden hier Filme wie Todd Fields „Tár“, Aki Kaurismäkis „Fallende Blätter“, Justine Triets „Anatomie eines Falls“, Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ oder Christopher Nolans „Oppenheimer“ besprochen. Viele Filme sind den Cineasten entweder schon selbst im Kino begegnet oder spätestens im Umfeld der Berichterstattung über die diesjährige Oscar-Verleihung ins Bewusstsein gerückt, einige andere wie „Music“, „The Quiet Girl“ und „Limbo“ dürften für viele Kinogänger noch zu entdecken sein. Gleiches gilt auch für die anschließend vorgestellten Serien und Mini-Serien. 
Das Kernstück des Lexikons bildet natürlich wie immer die mehr als 260 Seiten umfassenden Kurzkritiken aller im Jahr 2023 erstmals veröffentlichten Filme im Kino, im Fernsehen, bei Streaming-Diensten und auf DVD/Blu-ray in alphabetischer Reihenfolge, doch macht sich das „Filmjahr 2023/2024 – Lexikon des internationalen Films“ auch durch verschiedene Essays zu ausgewählten Themen zu einem treuen Begleiter für Filmbegeisterte. 
Zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten setzen sich verschiedene Autoren beispielsweise mit dem Ende des Autorenstreiks in Hollywood, mit dem bereits seit 1963 ausgestrahlten „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF und der Thematisierung der Atombombe im Film auseinander, portraitiert Filmschaffende wie den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki, die isländische Komponistin Hildur Guðnadóttir („Joker“, „Tár“) und Schauspieler Brendan Fraser („Die Mumie“, „The Whale“) und präsentiert Interviews mit internationalen Filmemachern. 
Abgerundet wird das Nachschlagewerk durch Nachrufe, Preisträger nationaler wie internationaler Filmfestivals und einer Auflistung der 50 herausragendsten Blu-ray- und 4K-UHD-Editionen des Jahres. Es gibt also auch jenseits des Kinosaals und des heimischen Fernsehers viel zu lesen und zu entdecken, um die Welt des Films und die Welt, in der wir uns bewegen, besser verstehen zu lernen.

Robert R. McCammon – „Durchgedreht“

Sonntag, 24. März 2024

(Knaur, 544 S., Tb.) 
Robert R. McCammon stand zwar stets im Schatten der großen Horror-Autoren Stephen King, Dean R. Koontz, Peter Straub und Clive Barker, hat in den 1980er Jahren aber eine ganze Reihe lesenswerter Genre-Werke wie „Höllenritt“, „Tauchstation“, „Blutdurstig“, „Wandernde Seelen“ und „Das Haus Usher“ publiziert, die auch hierzulande eine treue Leserschaft fanden. 
Während die deutschen Übersetzungen allesamt bei Knaur erschienen sind, wechselte Campbell in den USA von Avon Books über Henry Holt & Company bis zu Pocket Books, die sich schließlich nicht mit den Ambitionen des Schriftstellers anfreunden konnten, dass dieser auch mal abseits des Horror-Genres seine literarischen Qualitäten ausprobieren wollte. So kam es, dass der 1992 veröffentlichte Roman „Gone South“ für lange Zeit das letzte Werk von McCammon gewesen sein sollte. Dabei demonstrierte der Autor gerade mit seinen „normalen“ Thrillern „Unschuld und Unheil“ und „Durchgedreht“ (der deutschen Ausgabe von „Gone South“) die ganze Palette seines Könnens. 
Wie so viele Vietnam-Veteranen hat der 42-jährige Dan Lambert nicht die besten Erinnerungen an seinen Einsatz in Fernost. Es sind jedoch nicht nur die Flashbacks an unmenschliche Gemetzel und den sinnlosen Tod befreundeter Kameraden, sondern auch die Nachwirkungen des in Vietnam eingesetzten Agent Orange, die Lambert zusetzen, leidet er doch unter Leukämie und einem Gehirntumor. Sein Vietnam-Trauma zerstörte seine Ehe und hat dazu geführt, dass er seinen Sohn Chad seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat. Dazu ist der Arbeitsmarkt anno 1991 in Shreveport, Louisiana, nicht gerade rosig. Mit den Raten für seinen Pick-up hängt Lambert seit zwei Monaten hinterher, und die Fahrten nach Death Valley, wo er immer wieder vergeblich einen Job als Tagelöhner zu finden versucht, erweisen sich als deprimierende Pflichtaufgabe. 
Während Lamberts bisheriger Bankberater Mr. Jarrett noch Verständnis für seine Situation hatte und die Raten stundete, zitiert ihn Jarretts knochenharter Nachfolger in die First Commercial Bank, um seinen Wagen zu pfänden. Lambert tickt daraufhin aus, und als ihm der skrupellose Emory Blanchard eine Pistole auf ihn richtet, schnappt sich der in die Enge getriebene Handwerker die Waffe des herbeigeeilten Sicherheitsmannes und schießt Blanchard in den Hals. In einer weiteren Kurzschlussreaktion flüchtet Lambert aus der Stadt. Die Bank setzt eine Belohnung von 15.000 Dollar auf Lamberts Ergreifung aus, worauf der schmierige Kautionsagent Smoates den routinierten Kopfgeldjäger Flint Murtaugh auf Lambert ansetzt. 
Dass Smoates darauf besteht, Murtaugh den Elvis-Imitator Cecil „Pelvis“ Eisley einzuarbeiten, bringt Murtaugh schnell zur Weißglut und führt immer wieder dazu, dass das kuriose Duo die sicher geglaubte Beute wieder aus den Augen verliert. Lambert gabelt unterwegs in einer Kneipe die junge Arden Halliday auf, die auf der Suche nach dem „Leuchtenden Mädchen“ ist, einer Heilerin, von der Arden hofft, dass sie Ardens riesiges Feuermal im Gesicht beseitigt. Doch die Odyssee in den Süden wird von weiteren Komplikationen und Leichen begleitet… 
„Selbst wenn er im Schutz der Dunkelheit fuhr, wusste er doch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor die Polizei ihn fand. Und seine Zeit lief schnell ab, wie es schien. Sollte er weiterhin versuchen zu fliehen oder einfach aufgeben und selbst die Polizei rufen? Es gab kein Entrinnen vor dem Gefängnis; es gab kein Entkommen vor der Krankheit, die Stück für Stück sein Leben verschlang. Nach Süden abgegangen, nach Süden abgegangen, dachte er. Wohin konnte man fliehen, wenn alle Auswege blockiert waren?“ (S. 280) 
Mit der Bezeichnung „Nach Süden abgegangen“ – und da wären wir auch bei der Erklärung des Romantitels „Gone South“ - beschreibt Dan Lambert die Erkenntnis, die falsche Abzweigung im Leben genommen zu haben, und vor allem die ersten Seiten und die Erinnerungen an die schreckliche Zeit in Vietnam, wo Lambert seinen besten Freund Farrow verloren hat, machen deutlich, welche dramatischen Entbehrungen und Verluste Lambert in seinem Leben hinnehmen musste. 
McCammon gelingt es gerade durch die Flashbacks, Lambert als pflichtbewussten Soldaten zu charakterisieren, der während des Krieges leider feststellen musste, dass er und seine Kameraden in einem sinnlosen Krieg verheizt wurden, und nun aufgrund der dort erlittenen psychischen wie körperlichen Beeinträchtigungen nicht mehr seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Und trotzdem gibt er nie die Hoffnung auf, fährt Tag für Tag ins deprimierende Death Valley, um wieder keinen Job zu bekommen. 
McCammon beschränkt sich aber nicht nur auf die Geschichte eines Mannes auf der Flucht, sondern nimmt sich sehr viel Zeit, um Lamberts Jäger einzuführen, den aus einer Freak-Show stammenden Murtaugh (den haarlosen, aus seinem eigenen Körper ragenden Arm seines Bruders Clint mit dem fast unscheinbaren Mund versucht Flint so gut wie möglich vor den Augen anderer zu verstecken) und den leicht dümmlich wirkenden, korpulenten Elvis-Imitator Pelvis Eisley. Hier kommt McCammons Mitgefühl für die Randschichten der Gesellschaft, die Abgehängten und Verlorenen, zum Ausdruck, allerdings wirkt die Zusammenstellung des Kopfgeldjäger-Gespanns mehr als unglaubwürdig, denn warum Smoates ausgerechnet einen völlig ungeeignet erscheinenden Elvis-Imitator an die Seite eines routinierten, wenn auch ebenfalls skurril wirkenden Jägers stellen sollte, wird nie plausibel erklärt. Dieses Gespann ist es allerdings auch, was der Hetzjagd einige komische Momente beschert – ob man dies in einem Thriller schätzt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Mit der durch ein Feuermal entstellten Arden und dem Motel-Ehepaar finden sich aber noch weitere merkwürdige Figuren in einem Thriller, der gerade zum Finale hin auch einiges an Action bietet. 
„Durchgedreht“ zählt sicher zu den besten Romanen von McCammon und wartet mit einer Handvoll interessanter, sorgfältig gezeichneter Figuren auf, doch leidet die Dramaturgie immer wieder durch Ungereimtheiten im stellenweise sehr konstruiert wirkenden Plot.


J. Paul Henderson – „Daisy“

(Diogenes, 336 S., HC) 
Mit „Der Vater, der vom Himmel fiel“ und „Letzter Bus nach Coffeeville“ hat der britische Schriftsteller J. Paul Henderson bereits zwei eindrucksvolle Belege seiner Fähigkeiten präsentiert, mit viel Wärme und Feingefühl die Lebensgeschichten einfacher, aber doch irgendwie besonderer Menschen zu erzählen, die der Leserschaft bereits nach wenigen Seiten ans Herz wachsen. Mit seinem neuen Roman „Daisy“ ist Henderson ein weiterer äußerst liebenswerter Wurf gelungen. 
Dass Herod S. Pinkey nach dem Kindermörder Herodes benannt worden ist, stellt nur eine von vielen Kuriositäten und Demütigungen dar, die Herod durch seinen Vater im Leben erleiden musste. Dazu zählt auch der Umstand, dass Herod nach seinem Schulabschluss zwar in der Firma seines Vaters arbeiten durfte, aber nie über einfache Tätigkeiten in der Poststelle oder im Facility Management hinaus gefordert wurde. 
Nach dem Tod seines Vaters und dem Selbstmord seiner Mutter ist Herod, der lieber Rod genannt werden will, ein reicher Mann, der völlig überfordert damit gewesen wäre, die Firma seines Vaters weiterzuführen, und stattdessen praktisch umsonst in einer Galerie zu arbeiten anfängt, um neue Freunde zu finden. Rod kommt auf diese Weise auch an ein paar Dates, doch erst als er seinen Freunden Donald und Edmundo den neuen Fernseher vorführen will, verliebt er sich in Daisy, die in der Gerichtsshow „Judge Judy“ ihren Ex-Freund auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt hat. Rod schaut sich am folgenden Tag wiederholt die Aufzeichnung der Sendung an, wobei er sich nicht daran stört, dass diese selbst bereits vor dreizehn Jahren ausgestrahlt worden ist. 
„Der größte Haken dabei war, dass ich nun zwar Daisy kannte, ganz gleich wie virtuell, sie aber noch nicht einmal ahnte, dass es mich überhaupt gab. Ich wiederum wusste nichts von ihren derzeitigen Umständen: wo sie wohnte, ob sie alleinstehend oder verheiratet war, am Leben oder – Gott bewahre – tot. All dass musste ich natürlich erst in Erfahrung bringen, bevor ich in ein Flugzeug stieg und mich in einem Land, in das ich nie wieder einen Fuß zu setzen geschworen hatte, auf die Suche nach ihr machte.“ (S. 159) 
Tatsächlich engagiert Rod eine Detektei, die wiederum in den USA einen Detektiv auf die Suche nach Daisy Lamprich ansetzt. Zusammen mit seinen beiden Freunden unternimmt Rod schließlich eine abenteuerliche Odyssee in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten… 
Obwohl der Ich-Erzähler Herod „Rod“ S. (für Solomon) Pinkey gleich zu Beginn konstatiert, dass er zu der Sorte Mensch zähle, die nicht gern von sich reden, und in eine Daisy Lamprich verliebt sei, erweist sich Herod auf den folgenden 330 Seiten als sehr eloquenter, humorvoller Chronist seines ungewöhnlichen Lebens. 
Bereits in der Beschreibung seines komplizierten Verhältnisses zu seinen Eltern lässt sich erahnen, dass Herods Biografie einige Stolpersteine bereithält, und Henderson beweist großes Geschick darin, seinen Protagonisten als einen sich selbst nicht allzu ernst nehmenden Lebenskünstler zu portraitieren, der trotz leichter Legasthenie und Schwierigkeiten, Freunde und Anerkennung zu finden, seinen Weg macht und bereit ist, auch unorthodoxe Wege zu seinem Glück einzuschlagen. 
Henderson nimmt sich viel Zeit, um nicht nur Herod mit all seinen liebenswert erscheinenden Schrullen zu charakterisieren, sondern auch dessen Beziehungen zu den Menschen, die ihm am nächsten stehen und die ihn schließlich von England aus auf die Odyssee in den USA begleiten. 
Mit „Daisy“ ist Henderson eine sehr kurzweilige Geschichte über das ungewöhnliche Leben eines Mannes mit einigen Handicaps gelungen, wobei diese immer wieder durch kursiv gedruckte Kapitel umrahmt wird, in denen sich Rod mit seinem Verleger Ric darüber unterhält, wie er die Liebesgeschichte rund um die titelgebende Daisy am besten verpackt. Es ist ein Roman voller liebenswürdiger Charaktere und skurriler Abenteuer, ein Roman voller Fantasie und Mut, seine Träume zu verwirklichen, so unmöglich sie auch erscheinen mögen. Das macht einem vor allem die grandiose Pointe vor Augen. 

Scott Alexander Howard – „Das andere Tal“

Mittwoch, 20. März 2024

(Diogenes, 464 S., HC) 
Denkt man an Zeitreisen, kommt einem als Filmliebhaber sofort mehrere Filme in den Sinn, von George Pals „Die Zeitmaschine“ (1960) nach dem Roman von H.G. Wells, Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“-Trilogie und James Camerons „Terminator“-Filme bis zu Darren Aronofskys „The Fountain“. In der Literatur sind es vor allem Science-Fiction-Autoren wie Robert A. Heinlein („Predestination – Entführung in die Zukunft“), Dan Simmons („Ilium“) und Stephen Baxter („Zeitschiffe“), die sich mit Zeitreisen beschäftigen, aber auch im Bereich der Fantasy und der „normalen“ Belletristik sind thematisch relevante Werke wie Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“ oder Félix J. Palmas „Die Landkarte der Zeit“ zu finden. Nun hat sich der kanadische Philosoph Scott Alexander Howard in seinem Debütroman „Das andere Tal“ auf ebenso philosophische wie einfühlsame Weise mit dem Thema auseinandergesetzt. 
Die schüchterne Odile Ozanne steht kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag und damit auch vor der Entscheidung, welchen Weg sie nach der Schule einschlagen werden. Bevor der Unterricht durch Pichegru endet und die praktische Lehre in der (namenlosen) Stadt beginnt, stellen verschiedene Handwerker und Angestellte in der Schule ihre Tätigkeiten vor, dazu stehen Ausflüge zu Bauernhöfen, zur Sägemühle und an die Grenze an. Die dort stationierten Grenzbeamten achten darauf, dass es zu keinen unerlaubten Grenzübertritten in die jeweils benachbarten Täler kommt – mit den jeweils gleichen Städten, aber zwanzig Jahre in der Vergangenheit bzw. in der Zukunft liegen. Über die Petitionen, wem ein Grenzübertritt gestattet wird – in der Regel nur bei Trauerfällen -, entscheidet das Conseil. 
Odiles Mutter hatte sich einst dort beworben, den strengen Auswahlprozess aber nicht überstanden und fristet nun als gewöhnliche Angestellte dort ihr Dasein. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als ihre Tochter nun dort eine Ausbildung absolviert, um auch ihren eigenen Status in der Gemeinde zu erhöhen. Tatsächlich gelingt es Odile, trotz ihrer nicht überzeugenden Aufsätze, von ihrem Lehrer Pichegru als als eine von zwei Kandidat:innen zum Auswahlverfahren berufen zu werden, bei dem sich die Teenager mit ihnen vorgelegten Modellfällen auseinandersetzen, das Für und Wider der Petitionen der Trauernden abwägen und letztlich eine Entscheidung über Gewährung oder Ablehnung des Gesuchs treffen müssen. Selbst bei einer Zusage ist es den Trauernden nicht gestattet, Kontakt zu den geliebten Personen aufzunehmen, sondern sie dürfen sie nur aus sicherer Entfernung aus beobachten. 
Dass Odile dabei eine Hürde nach der anderen nimmt, ist fraglos auch dem Umstand geschuldet, dass sie kürzlich zwei Besucher aus der Zukunft erkennt und ihr bewusst wird, dass ihr Schulkamerad Edme nicht mehr lange zu leben hat. Odile beginnt, sich mit Edme anzufreunden, doch gelingt es ihr nicht, sein Verschwinden nach einem gemeinsamen Ausflug mit Alain, Justine und Jo zu verhindern. Am Ende muss sie selbst einen Weg finden, um in der Vergangenheit einen Weg zur Beeinflussung der tödlichen Ereignisse zu finden, denn je mehr Zeit Odile mit Edme verbringt, desto mehr entwickelt sie Gefühle für ihn… 
„Wie er so aufs Ufer zurannte, wurde mir etwas bewusst. Auch wenn es nur ein stilles Eingeständnis vor dem Spiegel gewesen war – dadurch, dass ich meine Gefühle in Worte gefasst hatte, hatte ich alles zwischen uns verändert. Von jetzt an würde ich mich immer fragen, ob es mit Edme voranging oder nicht so gut lief, würde messen, wie weit ich noch von einem unklaren, aber dennoch schmerzhaft ersehnten Ziel entfernt war.“ (S. 115) 
Scott Alexander Howard, der sich in Harvard als Postdoktorand mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur beschäftigte, ist mit „Das andere Tal“ ein ungewöhnlicher Roman gelungen, der in einer zwar französischsprachigen, aber nicht näher definierten Gegend und Zeit angesiedelt ist. In der Konstellation dreier komplett von der Außenwelt abgeschnittener, identischer Täler und Städte, zwischen denen jeweils zwanzig oder vierzig Jahre liegen, spielt der Autor natürlich überwiegend mit dem Gedanken, welche Auswirkungen ein Eingreifen in vergangene Ereignisse auf die Gegenwart und Zukunft haben könnte, aber es ist auch eine sanft erblühende Liebesgeschichte zwischen zwei Jugendlichen, die keine echte Chance bekommt, sich zu entwickeln, geschweige denn zu vollenden. 
Was Howard dabei besonders gut gelingt, ist die Beschreibung einer fast diktatorisch beherrschten Welt, in der argwöhnisch das Treiben der Mitmenschen beäugt und bei auffälligem Fehlverhalten entsprechende Strafmaßnahmen eingeleitet werden. Wie die Patrouille, zu der schließlich auch Odile eingeteilt wird, auch mit tödlichen Schüssen an der Grenze darauf achtet, dass Trauernde zu keinen unüberlegten Handlungen hingerissen werden, erinnert nicht von ungefähr an die frühere Grenze zwischen der BRD und der DDR, aber inmitten dieser tristen Schilderung des Alltags in einer Art Überwachungsstaat lässt der Autor viel Raum für die komplexen Gefühlswelten seiner Ich-Erzählerin Odile. 
Scott Alexander Howard ist mit „Das andere Tal“ ein kluger, einfühlsamer und philosophischer Roman über vorbestimmtes Schicksal und freien Willen, über Trauer, Liebe, Pflichterfüllung und Tod, über Selbstbestimmung und Gemeinschaftswohl, über Loyalität und Verrat gelungen. Viel Stoff also für einen einzigen Roman, dem es allerdings über den zahlreichen Gedankenspielen nicht immer gelingt, die emotionale Entwicklung seiner Protagonistin nachvollziehbar zu gestalten. 

 

Ray Bradbury – „Die goldenen Äpfel der Sonne“

Freitag, 15. März 2024

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Seit Ray Bradbury (1920-2012) im Jahr 1938 in der Zeitschrift Imagination! seine erste Geschichte veröffentlichte, folgten viele weitere Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften, bis 1947 sein erstes Buch erschien. Mit dem Erfolg der sozialkritischen „Mars-Chroniken“ (1950), mit denen Bradbury die Kolonialisierung des Planeten Mars und die Ängste der Amerikaner in den 1950er Jahren thematisierte, wuchs auch das Interesse an seinen Erzählungen. 
Eine der ersten Sammlungen veröffentlichte Doubleday 1953 mit „The Golden Apples of the Sun“, die 22 zwischen 1945 und 1953 entstandene Science-Fiction-Geschichten enthielt, die 1970 erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Geh‘ nicht zu Fuß durch stille Straßen“ erschienen und 1981 von Diogenes unter Verwendung des Originaltitels neu veröffentlicht worden ist. 
Die Geschichte „Der Fußgänger“ ist im Jahr 2053 angesiedelt und spielt in einer Dreimillionenstadt, die nur noch von einem Polizeiauto patrouilliert wird. Der Wagen fährt durch die verlassenen Straßen und gabelt mit Leonard Mead einen einsamen Mann auf, dessen Lieblingsbeschäftigung das Hinauswandern in die Stille ist. Da Mead über keinen Beruf verfügt, auch nicht über eine Frau, die ihm ein Alibi verschaffen könnte, soll er ins Psychiatrische Forschungszentrum für regressive Tendenzen gebracht werden… 
„Die Aprilhexe“ ist ein siebzehnjähriges Mädchen namens Cecy, die einer wundersamen Familie mit Zauberkräften entstammt und die Fähigkeit besitzt, ihren Körper zu verlassen und ihren Geist auf jedes erdenkliche Abenteuer zu entsenden. Sie schlüpft in den Geist von Ann Leary und lässt sie sich in den Jungen Tom verlieben, doch Tom bemerkt die Veränderung, die Ann durchmacht, und verliert das Interesse an ihr, was Cecy verzweifeln lässt. 
„Die Wildnis“ erzählt von den beiden Schwestern Janice und Leonora, die sich im Jahr 2003 darauf vorbereiten, die sechzig Millionen Meilen von Independence, Missouri, zum Mars zurückzulegen. Während Leonora voller Furcht ist, freut sich Janice darauf, endlich ihren Will wiederzusehen. Mit einem Anruf will sie ihren Liebsten über ihren Plan informieren, doch die Verbindung bricht schnell ab… 
In „Die Früchte am Grund der Schale“ versucht William Acton den Mord an Donald Huxley zu vertuschen, indem er systematisch alle Gegenstände und Flächen in Huxleys Haus zu säubern versucht. Währenddessen rekapituliert er, wie es zu diesem Mord gekommen ist… 
In „Die Flugmaschine“ wird im Jahr 400 Kaiser Yuan von einem Diener darüber informiert, dass er über der Chinesischen Mauer einen fliegenden Menschen gesehen habe. Als er den Mann vom Himmel herunterrufen lässt, will ihn der Kaiser vom Henker töten lassen… 
Die beste Geschichte präsentiert uns Bradbury aber mit „Das Nebelhorn“. An einem Novemberabend erzählt McDunn von dem Nebelhorn, das sie am Meeresufer hören, davon, wie seit drei Jahren einmal im Jahr zu ebendieser Zeit ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres auftaucht und das Nebelhorn anschreit. 
„Das Nebelhorn blies. Das Ungeheuer antwortete. Ich begriff das alles, ich kannte das alles – die Million Jahre einsamen Wartens, dass jemand wiederkäme, der nie wiederkam. Die Million Jahre der Abgeschiedenheit am Meeresgrund, der Wahnsinn Zeit dort unten, während die Reptilien-Vögel von den Himmeln verschwanden, die Sümpfe auf den Kontinenten austrockneten, die Faultiere und Säbelzahntiger ihre Zeit erlebten und in Teergruben sanken und die Menschen wie weiße Ameisen über die Hügel liefen. Das Nebelhorn blies.“ (S. 17) 
Mit „Das Nebelhorn“, das noch im Erscheinungsjahr 1953 unter dem Titel „Panik in New York“ verfilmt worden ist, hat Ray Bradbury eine seiner poetischsten Geschichten geschrieben und damit auch seiner Faszination für die ausgestorbenen Dinosaurier zum Ausdruck gebracht, die er immer wieder mal in seinen Geschichten thematisierte. 
Neben der berührenden Vorstellung, wie ein Millionen von Jahren altes Meeresungeheuer mit einem Nebelhorn kommuniziert, ist es vor allem die magische, alle Vorstellungskraft befeuernde Sprache, die Bradbury wie kaum ein Zweiter beherrscht. Die übrigen Geschichten kommen allerdings selten an diese Qualität von „Das Nebelhorn“ heran. Oft sind es nur kurze Gedankenspielereien, fantastisch oder märchenhaft anmutende Episoden, die auch mal ohne richtige Pointe beendet werden, als hätte Bradbury am Ende die Lust verloren, die Geschichte weiterzuspinnen.


Stephan Schäfer – „25 letzte Sommer“

Donnerstag, 14. März 2024

(Ullstein, 176 S., HC) 
Work-Life-Balance und Achtsamkeit sind seit Jahren in unserer Gesellschaft in aller Munde, unzählige Ratgeber und Artikel (nicht nur) in Frauen-Zeitschriften und darauf abgestimmte Unternehmenskulturen machen die modernen Arbeitnehmer darauf aufmerksam, dass es um mehr im Leben geht als um Karriere und möglichst viel Geld zu verdienen. Werke wie Khalil Gibrans „Der Prophet“ und Paulo Coelhos „Der Alchimist“ fanden sich auf einmal auch in sonst eher spärlich bestückten heimischen Bücherregalen. 
Mit seinem gerade mal 176 Seiten kurzen Roman „25 letzte Sommer“ legt der 1974 in Witten geborene Stephan Schäfer ein Debüt vor, das sicher gern als deutschsprachiges Pendant zu diesen Klassikern angesehen werden möchte, zumindest aber dessen Quintessenz widerspiegelt. 
Der namenlose Ich-Erzähler entscheidet sich am Samstagmorgen für morgendliches Jogging auf dem Land, wo er sich oft am Wochenende von den Strapazen des Alltags in der Stadt oder auf Reisen zu erholen versucht. So richtig will ihm das nie gelingen. Immer wieder denkt er an Mails, die noch zu schreiben, Rückrufe, die zu erledigen und andere Dinge seiner endlos erscheinenden To-Do-Liste abzuhaken sind. Ihm ist durchaus bewusst, dass er irgendwann im Leben die falsche Abzweigung genommen, den inneren Kompass, seine Freiheit und Fröhlichkeit verloren hat, stattdessen Arbeit, Anerkennung und Geldverdienen zum Mittelpunkt seines Lebens geworden sind. An diesem Morgen folgt er dem Trampelpfad hinunter zum See, wo er Karl kennenlernt, einen weltoffenen, kommunikativen Kartoffelbauer, der ihn erst zum Baden im See animiert, dann zu sich nach Hause auf eine Tasse Kaffee einlädt. 
Und so lernen sich an dem Wochenende zwei ganz unterschiedliche Männer kennen, schütten sich einander das Herz aus, sprechen über ihre Familien, aufgegebene und teilweise wiederentdeckte Hobbys, über einschneidende Erlebnisse, letztlich über den Sinn des Lebens. Als Karl vor Jahren schon mit der Diagnose einer nicht heilbaren Krankheit konfrontiert wurde, entschied er sich, jeden Augenblick seines Lebens zu genießen, keine Kompromisse mehr einzugehen, wieder zu malen und Rituale wie den „faulen Sonntag“ oder das Nachmittagsschläfchen zu begehen. Das bringt auch den sonst so geschäftigen Ich-Erzähler ins Grübeln. 
„Vor mir lagen noch 25 Sommer, wie Karl es am See so bildhaft auf den Punkt gebracht hatte. Irgendwann ist immer jetzt. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren, die vergangenen beiden Tage sollten mir Zuversicht geben. Mut hilft immer, Angst nie. Das hatte Karl mir gezeigt. Warum sollte mir das nicht auch gelingen?“
Stephan Schäfer versucht es seinem Publikum einfach zu machen. Wer es trotz unzähliger Ratgeber noch nicht geschafft haben sollte, mit mehr Achtsamkeit sein Leben zu gestalten, auf sein Herz zu hören, sich um die Dinge zu kümmern, die einem wirklich wichtig sind, der wird vielleicht durch diese sehr einfach gestrickte Geschichte auf den rechten Pfad gelenkt. 
Offenbar gehören nur wenige Dinge wie Mut, Offenheit und Zuversicht dazu, sich auf andere Menschen und Dinge wirklich einzulassen, um sich vom oft erdrückenden Ballast des Alltags lösen zu können und sich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Der Autor rennt mit seiner lebensbejahenden Geschichte bei vielen Lesern und Leserinnen sicher offene Türen ein, allerdings ist die Story auch so überraschungsarm und ohne jede Originalität, dass nur der gutgemeinte Ansatz und die Schlichtheit der Erzählung überzeugt. Doch wirklich berührt hat mich „25 letzte Sommer“ nicht. 

John Grisham – „Die Entführung“

Dienstag, 12. März 2024

(Heyne, 384 S., HC) 
Mit seinem zweiten, 1991 veröffentlichten Roman „Die Firma“ gelang dem früheren Anwalt John Grisham gleich der große Coup. Er verkaufte die Filmrechte für 600.000 Dollar an Paramount, die mit der Verfilmung durch Sydney Pollack mit Tom Cruise in der Hauptrolle des jungen Anwalts Mitch McDeere nicht nur einen Blockbuster ins Kino brachten, sondern auch die Karrieren von Tom Cruise und John Grisham beflügelten. 
Nach über dreißig Jahren legt Grisham nun mit „Die Entführung“ eine vor allem von seinen treuesten Fans lang erwartete Fortsetzung vor – die allerdings über weite Strecken enttäuscht. 
Vor fünfzehn Jahren konnte Mitch McDeere als einer der besten Absolventen der juristischen Fakultät von Harvard unter den besten Job-Angeboten wählen. Entschieden hat er sich für die relativ kleine Kanzlei Bendini, Lambert & Locke in Memphis, die zwar nicht das sagenhafte Gehalt prominenter Großkanzleien zahlten, aber durch ihre familiäre Atmosphäre und großzügige Sozialleistungen auch Mitchs Frau Abby überzeugen konnten. Doch aus dem Traum wurde damals ein lebensbedrohender Alptraum, als Mitch dahinterkam, dass die Kanzlei einer Mafia-Familie in Chicago gehörte, die bereits vom FBI überwacht wurde. Mitch gelang es damals, nicht nur mit heiler Haut aus der Affäre herauszukommen, sondern auch noch zehn Millionen Dollar mitzunehmen, an denen das FBI offenbar kein Interesse hatte. 
Nachdem die McDeeres einige Zeit in Europa, vor allem in Italien, verbracht haben und Eltern von den beiden Zwillingen Carter und Clark geworden sind, hat Mitch Karriere bei Scully & Pershing gemacht, der größten Anwaltskanzlei der Welt mit Hauptsitz in New York und über dreißig Standorten auf allen Kontinenten. Mitch, der mittlerweile Partner bei S & P ist, soll das türkische Bauunternehmen Lannak vertreten, die für den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi eine eine Milliarde Dollar teure Brücke bauen sollten, doch weigert sich Libyen, die ausstehenden vierhundert Millionen Dollar zu zahlen, die nach Beendigung des Projekts noch offen sind. 
Um dieses Geld einzutreiben, reist Mitch mit Giovanna Sandroni nach Libyen. Giovanna ist die ebenfalls als erfolgreiche Anwältin arbeitende Tochter des schwer an Krebs erkrankten Luca Sandroni, der die römische Niederlassung von S & P leitet. Als sie entführt und von Scully & Pershing ein Lösegeld von 100 Millionen Dollar gefordert wird, entwickelt sich ein Wettlauf gegen die Zeit, um Leben und Tod… 
Mitch McDeere ist also – wie von so vielen Fans sehnsüchtig erhofft – zurück. Die dreißig Jahre, die seit seinem rasanten Aufstieg und Fall bei der gut als Mafia-Geldwäscherei getarnten Kanzlei in Memphis, vergangen sind, hat Grisham geschickterweise durch den Kniff halbiert, indem er die Handlung noch zu Lebzeiten des 2011 getöteten libyschen Staatschefs Gaddafi vor dem realen Hintergrund des wahnwitzigen „Great Gaddafi Bridge“-Projekts ansiedelt. Natürlich werden wir erst einmal ausführlich über den weiteren Werdegang der McDeeres informiert, über Abbys Ambitionen als Herausgeberin von Kochbüchern bei einem kleinen Verlag ebenso wie natürlich über die erstaunlich unproblematische Karriere ihres Mannes bei der weltgrößten Kanzlei. 
Doch wirklich nahe kommen wir den McDeeres nicht. Das liegt nicht nur an der skizzenhaften Rekapitulation der Zeit zwischen Bendini, Lambert & Locke und Scully & Pershing, sondern vor allem an Grishams fast schon klinisch nüchternen Schreibstil, der jede emotionale Verbundenheit zu den Figuren unterbindet. 
Dazu liegt Grishams Fokus ganz auf den handlungsgetriebenen Plot gerichtet. Wie Mitch von New York nach Rom und von dort aus nach Istanbul, wieder zurück nach Rom, nach London und New York fliegt, lässt sich logisch kaum begründen und lässt auch die fein austarierten juristischen Manöver vermissen, die gerade die frühen Grisham-Romane zu Eckpfeilern des Justizthriller-Genres werden ließen. 
In „Die Entführung“ wird nur hektisch versucht, die hundert Millionen Dollar Lösegeld aufzutreiben und die Identität der Entführer aufzudecken, packend ist dieser wenig leidenschaftlich ausgefochtene Kampf nicht. Was Grisham zumindest versucht hat, an Spannung aufzubauen, löst der Autor zum Ende hin recht unspektakulär und allzu vorhersehbar auf. Für diesen Plot hätte man die McDeeres nicht wieder aus der Mottenkiste holen müssen – aber dann hätte das Buch ein entscheidendes Verkaufsargument weniger… 

Ray Bradbury – „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“

Mittwoch, 6. März 2024

(Diogenes, 344 S., Tb.) 
Mit seinen verfilmten Werken „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und vor allem „Fahrenheit 451“ machte sich der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) unsterblich und hinterließ seine Spuren in der Kriminalliteratur ebenso wie im Horror-Genre, am eindringlichsten aber sicher im weiten Raum der Phantastik und Science-Fiction. Neben seinen bekannten Romanen erwiesen sich gerade Bradburys Kurzgeschichten als reicher Fundus an originellen Ideen und überbordender Sprachkunst. 1988 erschien mit „The Toynbee Convector“ eine späte Sammlung, die in der deutschen Ausgabe von Diogenes nach der besten Geschichte des Buches betitelt wurde: Vorhang auf für „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“ und 22 weitere Geschichten. 
In der eröffnenden Titelgeschichte der Originalsammlung, „Der Toynbee-Konvektor“ bittet der Reporter Roger Shumway den einzigen Zeitreisenden Craig Bennett Stiles zum exklusiven Interview und erlebt eine erstaunliche Überraschung. 
In der leicht gruseligen Geschichte „Die Falltür“ entdeckt Clara Peck nach zehn Jahren, die sie in dem alten Haus schon lebt, plötzlich eine Falltür, die zu einem unbekannten Dachboden führt – und zu unheimlichen Geräuschen, die sie erst Mäusen, dann Ratten zuordnet, bis sie selbst nachsehen muss, was sie allmählich in den Wahnsinn zu treiben droht. Im „Orientexpress Nord“ wird die alte Miss Minerva Halliday auf der Fahrt von Wien über Paris nach Calais auf einen bleichen Mann aufmerksam, der an einer furchtbaren Krankheit dahinzusiechen scheint. Als gelernte Krankenschwester erkennt sie sofort, an was der gebrechliche Mann leidet – an Menschen. Nach zweihundert Jahren, die er in einem Dorf bei Wien im Schutz von Bücherregalen vor den Atheisten lebte, sei er nun auf dem Weg nach England, wo die Menschen nicht zweifeln, sondern noch glauben, an Mythen und Grablegenden und Erscheinungen aus dem Reich des Unsichtbaren. Die Krankenschwester beschließt, den Mann auf seiner Reise zu begleiten… 
„Eine Nacht im Leben“ begleitet einen Mann auf seiner Reise nach New York, wo er über ein Stück für den Broadway sprechen soll, das nicht schreiben will, eigentlich aber davon träumt, in einer Frühlingsnacht mit einem Mädchen Hand in Hand irgendwohin spazieren zu gehen und in die Sterne zu sehen. 
„Es gibt keine Worte für so eine Nacht. Wir würden uns nicht einmal anschauen. Wir würden in der Ferne die Lichter der Stadt sehen und wissen, dass andere vor uns auf andere Hügel gestiegen sind, und dass es auf der Welt nichts Besseres gibt. Man könnte auch nichts Besseres machen; alle Häuser und Bräuche und Sicherheiten der Welt sind gar nichts gegen eine solche Nacht. Die Städte, die Menschen bei Nacht in den Zimmern der Häuser dieser Städte, die sind das eine; die Hügel und die freie Luft und die Sterne und das Händehalten, das ist das andere.“ (S. 64) 
In der Titelgeschichte der deutschen Ausgabe stehen die Comedy-Stars Stan Laurel und Oliver Hardy nur als Pate für eine außergewöhnliche Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich plötzlich auf einer Cocktail-Party begegnen und sich durch ihre gemeinsame Vorliebe für die beiden Komiker ebenfalls Laurel und Hardy nennen. 
Und so schafft Bradbury mit jeder weiteren Geschichte neue Welten, in der das Phantastische, das Ungeheuerliche, das Unvorstellbare einzieht und die Protagonisten zu kühnen Unterfangen und furchtlosen Träumen animieren. Nicht immer sind die Pointen überzeugend geglückt, und immer mal wieder gefällt sich Bradbury zu sehr in seiner grenzenlos erscheinenden Fabulierkunst, aber oft genug gelingt es ihm, bei seinem Publikum ein Tor in andere Welten zu öffnen, der Fantasie ihren freien Lauf zu lassen.


James Lee Burke – (Aaron Holland Broussard: 2) „Das verlorene Paradies“

Samstag, 2. März 2024

(Heyne, 320 S., Pb.) 
Mit seinen über zwanzig – teilweise auch verfilmten – Romanen um Detective Dave Robicheaux hat sich der 1936 in Houston, Texas, geborene James Lee Burke als vielleicht bedeutendste Stimme im Genre des Südstaaten-Krimis erhoben. Neben den seit 1987 veröffentlichten Romanen um den Vietnam-Veteranen und Alkoholiker sind es vor allem die Geschichten rund um die Holland-Familie, mit denen Burke sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Nach den epischen Abenteuern, die Hackberry Holland („Zeit der Ernte“, „Regengötter“, „Glut und Asche“) und Billy Bob Holland („Dunkler Strom“, „Feuerregen“, „Die Glut des Zorns“) in den ihnen gewidmeten Buchreihen erlebten, feierte der Wanderarbeiter und Nachwuchsautor Aaron Holland Broussard hierzulande 2018 in „Dunkler Sommer“ seinen Einstand. Nun folgt mit „Das verlorene Paradies“ endlich die erste Fortsetzung.
Aaron Holland Broussard macht sich im Frühjahr 1962 als Trainhopper auf den Weg nach Denver, schlägt sich bis zur Heilsarmee durch und fährt mit dem Greyhound bis runter nach Trinidad, wo er auf der Farm von Jude Lowry und seiner Frau anheuert, um sich zusammen mit anderen Saisonarbeitern um das Vieh und den Ackerbau zu kümmern. Als er zusammen mit seinen beiden Kollegen Spud Caudill und Cotton Williams einen Pritschenwagen voller Tomaten zum Packhaus nach Trinidad fährt, werden die drei Freunde nach einem Restaurantbesuch von vier Männern zusammengeschlagen. Offenbar passte ihnen ein Aufkleber der Landarbeitergewerkschaft auf Mr. Lowrys Wagen nicht. 
Auf diese Weise lernt Broussard nicht nur den Detective Wade Benbow kennen, der es trotz Lungenkrebs nicht schafft, mit dem Rauchen aufzuhören, sondern auch die junge Kunststudentin und Kellnerin Jo Anne McDuffy. Doch die sich anbahnende Romanze wird von dem Umstand getrübt, dass Jo Annes schmieriger Dozent Henri Davos Anspruch auf die junge Frau erhebt und sich in ihrer Nachbarschaft ein paar unberechenbare, vollgedröhnte Junkies in einem Bus herumtreiben. Doch die meisten Probleme bereiten Broussard Rueben Vickers und vor allem sein Sohn Darrel, der die Prügelei in Trinidad angezettelt hatte. 
Derweil entwickelt Benbow ein besonderes Interesse an Broussard und zeigt ihm die Fotos von sechs Frauen und Mädchen, die in den letzten drei Jahren rund um Trinidad brutal ermordet worden sind, darunter die zwölfjährige Enkelin des Detectives. Während sich Broussard mit den teilweise unheimlich wirkenden Ereignissen rund um die Farm, die religiös verwirrten Junkies und die brutalen Vickers herumschlägt, wird er auch von beunruhigenden Träumen heimgesucht, die ihn zu seinem Einsatz in Korea 1953 und dem Verlust seines besten Freundes Saber Bledsoe zurückbringen. Detective Benbow hegt bereits einen Verdacht, wer für die Morde an den Mädchen und Frauen verantwortlich gewesen ist, doch fehlen ihm die Beweise. Als er Broussard ins Vertrauen zieht und mit ihm auf Mörderjagd geht, machen sie mehrere zutiefst verstörende Entdeckungen… 
„Am liebsten wäre ich zu den Sternen hinaufgestiegen und über die Berge davongesegelt. Ich wollte in die Welt meines Vaters entfliehen: ans Ufer des Bayou Teche, in Abende, die nach Magnolien, Jasmin, Trompetenblumen und Orangenblüten riechen. Einfach nur irgendwohin. Alles war besser als das Hier und Jetzt, denn ich hatte das Gefühl, gerade Zeuge der Zerstörung Edens geworden zu sein.“ 
Kaum einer versteht es, die Landschaft und das Lebensgefühl in den Südstaaten so bildhaft darzustellen wie James Lee Burke. Die Bilder und die Gerüche, die seine Sprache hervorrufen, entwickeln beim Lesen eine eigene Zauberkraft, dringen tief in die Vorstellungswelt des Publikums ein. Natürlich ist es einmal mehr unaussprechliche Gewalt, die die Geschichte von „Das verlorene Paradies“ prägt, auch wenn Liebe und Vertrauen möglich scheint. 
Die ungeklärten Morde an den sechs Mädchen und Frauen sind aber nur der Aufhänger für dieses Kriminaldrama, denn ebenso geht es um die Last unauslöschlicher Erinnerungen und schmerzhafter Verluste, um religiösen Wahn und die destruktive Kraft übermäßigen Drogenkonsums. Die psychischen Defekte und die unkontrollierte Gewalt, die hier zum Ausdruck kommt, ist nichts für schwache Nerven, folgt aber einer hypnotisierenden Dramaturgie, der man sich nicht entziehen kann. Allein die übernatürlichen Elemente, die über Traumbilder hinausgehen und die Handlung zum Finale hin ebenso maßgeblich wie unglaubwürdig beeinflussen, sorgen für ein paar Wermutstropfen in diesem leider viel zu kurzen Roman.