Michael Connelly – (Renée Ballard: 1) „Late Show“

Dienstag, 28. April 2020

(Kampa, 432 S., HC)
Seit Detective Renée Ballard ihren Vorgesetzten Lieutenant Robert Olivas erfolglos wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte und von der Robbery-Homicide in die als „Late Show“ bezeichnete Nachtschicht der Hollywood Division versetzt worden ist, versieht sie mit ihrem Partner John Jenkins vor allem Streifendienst. Sie wurden an jeden Tatort gerufen, an denen ein Detective erforderlich war, nahmen erste Protokolle auf, schrieben die entsprechenden Berichte und übergaben diese am Morgen an die jeweils zuständigen Einheiten. Ballard, die im Alter von vierzehn Jahren tatenlos am Strand mitansehen musste, wie ihr surfbegeisterter Vater im Meer ertrank, wuchs größtenteils bei ihrer Großmutter auf und verbringt ihre Freizeit am liebsten mit ihrer am Strand zugelaufenen Hündin Lola und Stand Up Paddling am Venice Beach. Zu gern würde sie auch mal einen Fall zu Ende bearbeiten.
Die Gelegenheit ergibt sich, als Ballard sich noch Hollywood Presbyterian Medical Center befindet, wo sie das Opfer einer schweren Körperverletzung, die Transvestitin Ramona Ramone vernehmen sollen. Auch das einzig überlebende Opfer einer Schießerei in dem Club „Dancers“ wird ins Hollywood Pres gefahren, wo es allerdings seinen schweren Verletzungen erliegt. Während Jenkins zunächst zum Tatort und dann nach Hause fährt, um sich um seine krebskranke Frau zu kümmern, nimmt Ballard die persönlichen Gegenstände der getöteten Kellnerin Cynthia „Cindy“ Haddels an sich und untersucht am Tatort ihr persönliches Schließfach. Offensichtlich verfolgte die junge Frau eine Schauspielkarriere und verdiente sich durch kleine Drogendeals etwas zum Lebensunterhalt dazu.
Um den Fall kümmert sich vor allem ihr ehemaliger Partner Ken Chastain, der Ballard bei ihrer Anzeige damals nicht den Rücken stärkte und den sie deshalb nach wie vor nicht gut zu sprechen ist. Am Tatort beobachtet sie, wie Chastain ein kleines Beweisstück unterschlägt, wenig später wird Chastain in der Garage seines Hauses geradezu hingerichtet. Als sich die Hinweise verdichten, dass ein Cop bei der Schießerei im „Dancers“ beteiligt war, muss Ballard extrem vorsichtig agieren, zumal Lieutenant Olivas zu verhindern versucht, dass sie sich zu intensiv mit dem Fall beschäftigt. Aber auch ihre Ermittlungen im Fall der schweren Körperverletzung begibt sich Ballard in Gefahr, als sie ihrem Verdächtigen Thomas Trent zu dicht auf die Pelle rückt.
„Für sie war Trent keineswegs mehr nur eine Person von Interesse. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er der Gesuchte war, und es gab nichts, was über eine solche plötzliche Einsicht ging. Etwas Größeres gab es für einen Detective nicht. Das hatte nichts mit Beweisen oder juristischen Verfahrensweisen oder einem hinreichenden Verdacht zu tun. Es war nichts Geringeres als die felsenfeste Überzeugung, dass man es einfach wusste, und es gab nichts in Ballards Leben, was es mit diesem Gefühl aufnehmen konnte.“ (S. 127) 
Michael Connelly hat mit seinen erfolgreichen Reihen um den ebenfalls in Los Angeles wirkenden Detective Hieronymus „Harry“ Bosch und seinem als Strafverteidiger tätigen Halbbruder Mickey Haller bereits so renommierte Preise wie den Edgar Allan Poe Award, den Deutschen Krimipreis, den Anthony Award und den Maltese Falcon Award abgeräumt. Als ehemaliger Polizeireporter für die Los Angeles Times versteht es Connelly souverän, vor allem den Alltag polizeilicher Ermittlungen so zu beschreiben, dass es genügend tiefe Einblicke gewährt, ohne mit überflüssigen Details zu langweilen. Mit Renée Ballard stellt er nun seine erste weibliche Protagonistin vor, die er als Opfer sexueller Nötigung gleich in der #MeToo-Debatte verortet, die 2017, als „Late Show“ im Original veröffentlicht wurde, mit dem Fall von Harvey Weinstein erst in Gang gekommen war.
Connelly rückt dieses Thema nicht zu sehr in den Vordergrund, aber Ballards exponierte Stellung als „Verräterin“ erklärt das nach wie vor schwierige Verhältnis zwischen ihr und ihren ehemaligen Kollegen/Vorgesetzten. Trotz dieser Vorkommnisse präsentiert sich Ballard als taffe, selbstbewusste und ambitionierte Ermittlerin, die sich mitfühlend um Verbrechensopfer kümmert und hartnäckig daran arbeitet, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Connelly hat mit Renée Ballard eine charismatische Protagonistin erschaffen, die in den beiden nachfolgenden Roman – die hoffentlich bald auch in deutscher Sprache veröffentlicht werden – mit Harry Bosch zusammenarbeitet, und einen Plot konstruiert, der gleich drei unterschiedlich gewichtete Fälle miteinander verknüpft, so dass „Late Show“ einen abwechslungsreichen Krimi darstellt, der auf die Fortsetzungen neugierig macht.

Jon Savage – „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von Joy Division“

Sonntag, 26. April 2020

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)
Die 1976 von Peter Hook, Bernard Sumner und Terry Mason gegründete und dann von Sänger Ian Curtis vervollständigte Band Joy Division nahm bis zu Ian Curtis‘ tragischen Selbstmord am 18. Mai 1980 zwar nur zwei Alben auf, doch avancierte sie nicht zuletzt durch die energiegeladenen Konzerte zum Aushängeschild eines Genres, das die Attitüde und Wildheit des Punk Rock zu den melodischeren Gefilden des Dark Wave und Gothic Rock überführte. Bekanntermaßen führten Bernard Sumner, der Ian Curtis als Sänger ersetzte, Bassist Peter Hook, Drummer Stephen Morris und Keyboarder Gillian Gilbert als New Order erfolgreich das Erbe von Joy Division fort, doch war die Geschichte von Joy Division seither immer wieder Thema für ausführliche Artikel, ganze Bücher und sogar Filme.
So sind nicht nur die Songtexte und Notizen von Ian Curtis („So This Is Permanence. Joy Division Lyrics and Notebooks“) und Erinnerungen seiner Frau Deborah Curtis („Touching From a Distance – Ian Curtis & Joy Division“), sondern auch verschiedene Bücher der Band-Mitglieder und -Involvierten Peter Hook („Unknown Pleasures: Inside Joy Division“), Paul Morley (Joy Division: Piece by Piece“) und Bernard Sumner („Chapter and Verse: New Order, Joy Division and Me“) veröffentlicht worden. Der bekannte britische Publizist Jon Savage, der bereits Bücher über The Kinks, die Sex Pistols und den Punk Rock geschrieben hat und zuletzt „Teenage: The Creation of Youth Culture“ (2007) veröffentlichte, wählte für sein neues Buch über Joy Division einen besonders interessanten Ansatz und lässt in „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ vor allem Zeitzeugen die Geschichte von Joy Division in chronologisch strukturierten Zitaten erzählen.
Als Grundlage dienten dem Autor vor allem die Interviews, die Grant Gee und er selbst für den 2016 entstandenen Dokumentarfilm „Joy Division“ führten, ergänzt durch Gespräche, die u.a. für einen Artikel im „Mojo“ (1994) und zu Savages Buch „England’s Dreaming“ aufgenommen wurden. Dabei beschreiben die Protagonisten und Zeitzeugen zunächst das besondere Lebensgefühl im Manchester Mitte der 1970er Jahre, wo der soziale Wohnungsbau seinen Anfang nahm, wo dank der Hafenanlagen unterschiedlichste Einflüsse und Stile die Stadt überschwemmten und die Manchester Free Trade Hall zu einem Epizentrum der psychogeografischen Energie wurde, in dem Gewerkschaftsveranstaltungen ebenso abgehalten wurden wie Konzerte von Louis Armstrong, Bob Dylan und die Sex Pistols stattfanden. Das Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich prägte die zunehmend von Zerfall geprägte Industrielandschaft, die Sehnsucht nach dem Schönen hinter all der Hässlichkeit. Diese postindustrielle Atmosphäre voller leerstehender Lagerhallen- und Fabrikruinen, in denen sich neue Slums bildeten, war der ideale Nährboden für eine bunt schillernde Club-Szene in den 1960er Jahren, als sich Terry Mason, Bernard Sumner und Peter Hook kennenlernten und sich alles Mögliche an Konzerten ansahen, AC/DC, Dr. Feelgood, Iggy Pop, David Bowie und schließlich die Sex Pistols.
In den nachfolgend aneinandergereihten sehr persönlicher Erinnerungen wird anschaulich geschildert, wie Joy Division ihre ersten Songs einspielten, Martin Hannett als Produzenten gewannen und schließlich mit Tony Wilson zusammentrafen, der eine eigene Musiksendung bei Granada TV hatte und schließlich mit Pete Saville das legendäre Factory Label gründete, auf dem Joy Division zunächst die beiden Songs „Digital“ und „Glass“ auf der Doppel-EP „A Factory Sample“ veröffentlichten, dann die beiden Alben „Unknown Pleasures“ (1979) und „Closer“ (1980).
Je mehr Live-Auftritte Joy Division allerdings absolvierten, je mehr Ian Curtis hin- und hergerissen war zwischen seiner Frau Deborah, mit der er ein gemeinsames Kind hatte, und der gut situierten und gebildeten Belgierin Annik Honoré, desto stärker machten sich seine epileptischen Anfälle und die durch die starken Medikamente verursachten Stimmungsschwankungen bemerkbar. Bei all diesen Schilderungen wird deutlich, wie unsicher und unreif die damals noch Anfang Zwanzigjährigen mit der Situation umgegangen sind, wie sehr sie sich auf Ians Beteuerungen verließen, dass alles gut sei. Jon Savage gelingt es, in der abwechslungsreichen wie intimen Zusammenstellung der Eindrücke und Erinnerungen ein sehr authentisch wirkendes Portrait der Zeit und der besonderen Umstände zu zeichnen, in der Joy Division gewirkt haben. Die „No City Fun“-Autorin Liz Naylor fasst schließlich zusammen:
Joy Division kamen aus einer bestimmten Zeit und von einem bestimmten Ort, und sobald man sie dort herausnimmt, verändert sich ihre Bedeutung. Als hätten sie kollektiv die damalige Aura von Manchester transportiert. Sie waren so, wie Manchester war. Folglich wurde diese Aura auch Ian als Einzelperson zugeschrieben, aber ich denke, das ist ein Missverständnis. Als Band waren sie sehr viel wichtiger denn als Individuen oder als seine Vision, weil ich nämlich nicht glaube, dass es seine Vision war. Ich glaube, es war die Atmosphäre von Manchester.“ (S. 202) 
Angereichert mit einigen schönen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Plakaten, Logos und Fotos bietet „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ einen faszinierenden Einblick in das Entstehen und Wirken einer ungewöhnlichen wie einflussreichen Band, die aus dem Geist des Post-Punk in intellektueller Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung darstellte und musikalisch gerade von deutschen Acts wie Kraftwerk, Neu! und Can zu ihrem einzigartigen Sound inspiriert wurde. Die Vielfalt der eingefangenen Stimmen machen das Portrait von Joy Division ebenso persönlich wie vielschichtig.
Leseprobe Jon Savage - "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 8) „Kein Engel so rein“

Mittwoch, 15. April 2020

(Heyne, 416 S., HC)
Harry Bosch hat in der Neujahrschicht beim Morddezernat der Polizei von Los Angeles bereits zwei Selbstmorde aufnehmen müssen, bekommt er einen Anruf von Mankiewicz, dem diensthabenden Sergeanten in der Hollywood Division des LAPD. Offenbar hat der Hund eines pensionierten Arztes in Laurel Canyon, Dr. Paul Guyot, den Oberarmknochen eines Kindes ausgebuddelt. Bei weiteren Ausgrabungen an der Fundstelle auf dem dicht bewaldeten Hang werden nicht nur weitere Knochen, sondern auch ein Rucksack und einige Kleiderstücke gefunden. Die Obduktion ergibt nicht nur, dass der Todeszeitpunkt des Jungen grob geschätzt Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre angesiedelt werden muss, sondern dass der Junge Opfer massiver Misshandlungen gewesen war, wie die unzähligen Frakturen auch am Schädel beweisen.
Die erste Spur führt zu dem Filmrequisiteur Nicholas Trent, der 1966 bereits wegen der sexuellen Belästigung eines kleinen Jungen verurteilt worden ist. Durch eine undichte Stelle beim LAPD sickert dessen Identität jedoch zu den Medien durch, worauf sich der Verdächtige erhängt. Während Boschs Vorgesetzte Lieutenant Billets und Deputy Chief Irvin Irving darauf drängen, den Fall schnell zu den Akten zu legen, sagt Boschs Bauchgefühl, dass die Sache längst nicht abgeschlossen ist. Als sich Sheila Delacroix bei der Polizei meldet und das Opfer schließlich anhand ihrer Aussage mit den gefundenen Beweisen als ihr Bruder Arthur identifizieren lässt, gerät Sam Delacroix, der Vater des Jungen, ins Visier der Ermittlungen. Bosch ist von dem Fall, der ihn immer wieder an seine eigene Kindheit als Pflegekind erinnert, und seinen Begleiterscheinungen so frustriert, dass er an der Sinnhaftigkeit seines Jobs zu zweifeln beginnt …
„Er hatte immer gewusst, dass er ohne seinen Job und seine Dienstmarke und seine Aufgabe verloren wäre. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er mit all dem genauso verloren sein konnte. Er konnte sogar wegen all dem verloren sein. Genau das, was er am meisten zu brauchen glaubte, war das, was ihn mit dem Leichentuch der Sinnlosigkeit umhüllte.“ (S. 414) 
Es ist ein erschütternder Fall, den Hieronymus „Harry“ Bosch in seinem achten Fall auf den Tisch bekommt. Dabei hat er nicht nur mit dem Umstand zu kämpfen, dass der Junge bereits vor gut einem Vierteljahrhundert ermordet wurde und die Beweislage mit dem Auffinden möglicher Zeugen sehr dünn ist, sondern auch mit einem Leck bei der Polizei, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Ermittlungsergebnisse an die Medien weiterleitet, und den strukturellen Problemen in seiner Einheit, wo auch andere, aktuelle Morde auf ihre Bearbeitung warten.
Im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen mit Kollegen und Vorgesetzten stößt Bosch diesmal aber niemandem wirklich heftig vor den Kopf. Zwar haben sowohl seine Vorgesetzten Billets und Irving bestimmte Vorstellungen über die Art der Ermittlungen und den Umgang mit den Medien, und auch von seinem Partner Jerry Edgar muss sich Bosch immer wieder die Rüge gefallen lassen, dass er nicht in seine Vorgehensweise eingeweiht wird, doch bis auf wenige Stolperfallen kann Bosch diesmal recht frei seinen Weg verfolgen.
Kritisch beäugt wird eher sein Verhältnis zu der ehemaligen Anwältin und Weltreisenden Julia Brasher, die als Streifenpolizistin gerade erst angefangen hat und somit im Dienstgrad unter Bosch steht. Besonders überzeugend ist die Ausgestaltung der Affäre zwischen Bosch und Brasher allerdings nicht gelungen, vor allem das merkwürdige Ende ihrer Beziehung wirkt nicht gelungen. Auch sonst hält sich Connelly nicht lange genug mit seinen Figuren auf, um ihnen ein charismatisches Profil zu verleihen. Das Thema Päderastie und die Bestrafung der Täter, der Umgang der Medien mit heiklen Informationen und auch das oft bedauernswerte Schicksal vieler Pflegekinder werden nur kurz angerissen, aber nie tiefergehend abgehandelt.
So stellt „Kein Engel so rein“ einen unterhaltsamen Krimi mit stringent konstruierten Plot dar, der aber kaum eine nachhaltige Wirkung hinterlässt.
Leseprobe Michael Connelly - "Kein Engel so rein"

Don Winslow – „Broken“

Sonntag, 12. April 2020

(HarperCollins, 512 S., HC)
Während der Nachtschicht in der Polizeinotrufzentrale von New Orleans bekommt Eva McNabb mehr als genug von den Schicksalen gebrochener Menschen mit, die von Raubüberfällen, Schießereien, Ehestreitigkeiten und Prügeleien betroffen sind. Ihr Mann Big John bekam davon als Cop ebenso viel mit wie nun ihre beiden Söhne Jimmy und Danny. Als Ermittler beim Drogendezernat der Sonderermittlunsgeinheit will er im Hafen ein Frachtschiff hochnehmen, das eine riesige Lieferung Meth für Oscar Diaz in die Stadt bringen soll, ohne die Kollegen von der Hafenpolize, der DEA oder ein SWAT-Team hinzuzuziehen. Zwar gerät er mit seinen Kollegen Angelo, Wilmer und Harold unter Beschuss, doch Jimmys Jungs bekommen die Sache in den Griff, schmeißen einen von Diaz‘ Männern ins Wasser, mit schönen Grüßen an seinen Boss von Jimmy McNabb. Diaz ist natürlich stinksauer, schließlich war dieser Deal für ihn die Gelegenheit, in der Topliga mitzuspielen und seine Fracht bis hinauf nach St. Louis und Chicago zu bringen. Natürlich nimmt Diaz die Sache sehr persönlich, lässt Jimmys Bruder zu Tode foltern und verbreitet das dazugehörige Video. Jimmy sieht rot, macht sich mit seinen Männern auf die Suche nach den vier Handlangern, die an Dannys Ermordung beteiligt waren, und schließlich nach Diaz selbst, der sich in seinem Penthouse in Algiers Point versteckt. Hier kommt es zum tödlichen Showdown, wobei das Police Department längst über das Vorgehen informiert ist und sich entscheiden muss, wie es sich in dieser Sache verhalten soll …
Jimmy McNabb stellt in der Titelgeschichte von Don Winslows Band von sechs Erzählungen einen der gebrochenen Männer dar, mit denen ihre Mutter in der Notrufzentrale ständig mehr oder weniger direkt zu tun hat. „Broken“ sind auch viele der Figuren in den nachfolgenden Geschichten, die teilweise alte Bekannte aus dem mittlerweile vielschichtigen Figurenensemble präsentiert, das der US-amerikanische Bestseller-Autor vor allem mit seiner legendären Kartell-Trilogie („Tage der Toten“, „Das Kartell“, „Jahre des Jägers“), der Reihe um den jungen Privat Neal Carey, die Dawn Patrol oder dem von Oliver Stone verfilmten Abenteuer „Zeit des Zorns“ des jungen Drogendealer-Trios Ben, Cho und O(phelia) geschaffen hat.
In der Steve McQueen gewidmeten Geschichte „Crime 101“ dreht sich alles um das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Profi-Dieb Davis, der sein Vorgehen auf den Highway 101 genannten Pacific Coast Highway beschränkt und dabei strikt den Regeln des Verbrecher-1x1 folgt, und Lieutenant Ronald „Lou“ Lubesnick. Der Cop wird von seinen Kollegen für seine Annahme belächelt, dass es bei den Raubüberfällen in den vergangenen Jahren um San Diego herum um einen Einzeltäter handelt. Interessanterweise kommt Lou dem vorsichtig agierenden Gauner erst dann auf die Spur, als er seine Frau beim Fremdgehen erwischt und sich daraufhin übergangsweise eine Wohnung mit Strandblick mietet.
Lubesnick spielt auch eine Nebenrolle in „The San Diego Zoo“, wo er die Abteilung leitet, in die der einfache Streifenpolizist Chris Shea versetzt werden möchte. Doch als ein bewaffneter Schimpanse betäubt wird und Chris bei der Aktion vom Baum fällt, wird er zum Gespött seiner Kollegen. Wenn er aber herausfindet, wie der Schimpanse überhaupt an die Waffe gekommen ist, würden seine Chancen auf eine Versetzung wieder steigen …
In „Sunset“ begegnen wir der Dawn Patrol wieder, als der Kopfgeldjäger Boone Daniels dem Kautionsagenten Duke Kasmajian die flüchtige Surf-Legende Terry Maddux ausfindig machen soll, der leider voll auf Droge gekommen ist und immer wieder in den Knast wandern musste. Nun hat Terry die Kaution verfallen lassen, ist nicht zur Verhandlung erschienen. Wenn der Duke, Boone und seine Surfer-Kollegen von der Dawn Patrol Terry nicht vor den Cops finden, kann sich Duke von dreihundert Riesen verabschieden, was er sich bei der bevorstehenden Gesetzesänderung zu Kautionsgeschäften nicht erlauben kann. Doch Terry erweist sich als sturer Bock und hat immer noch Freunde, die ihm Unterschlupf gewähren.
In „Paradise“ wollen sich Ben, Chon und O auf Hawaii nicht nur eine schöne Zeit machen, sondern ihren Handel mit Marihuana intensivieren. Dass sie mit dem ortsansässigen Tim Karsen Geschäfte machen, ist für die Firma so lange kein Problem, sobald Tim sich der Firma angeschlossen hat oder aus dem Geschäft aussteigt, aber die drei Neuankömmlinge mischen die Drogenszene auf Hawaii ordentlich auf …
In „The Last Ride“ nimmt Dale Strickland, Beamter bei der Border Patrol, alle Risiken auf sich, um ein Mädchen aus dem Auffanglager für illegale Einwanderer über die Grenze zurück zu ihrer Mutter nach Mexiko zu bringen. Es ist nicht nur schön, einige der lebendigsten Charaktere, die Don Winslow über all die Jahre geschaffen hat, in „Broken“ wiederzutreffen und etwas mehr über ihre Geschichten und Abenteuer zu erfahren.
Winslow erweist sich hier einfach auch als ein begnadeter Erzähler, der in der komprimierten Form der Kurzgeschichte packend zu unterhalten versteht. Er braucht keine lange Einleitung, um sein Publikum in die Plots einzuführen. Mit wenigen Sätzen sind Figuren, die örtlichen Gegebenheiten, die Stimmung und die Aufgabe umrissen, denen sich die Protagonisten gegenübersehen. Dabei bedient sich der Autor einer schnörkellosen Sprache, würzt seine Geschichten mit ebenso viel Humor wie blutiger Gewalt, was aber nicht darüber hinwegtäuscht, dass Winslow einfach glaubwürdige Figuren und wendungsreiche Plots zu entwickeln versteht, wobei er ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen auf das tägliche Leben der Menschen auswirkt, die mit den Entscheidungen der politischen Elite tagtäglich zu leben haben. Besonders nachdrücklich gelingt Winslow das in seiner letzten Geschichte „The Last Ride“, die unverblümt Donald Trumps Direktive hinterfragt, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko zu errichten, was offensichtlich viele Einwandererfamilien zerreißt.

Andrea De Carlo – „Uto“

Freitag, 10. April 2020

(Diogenes, 438 S., HC)
Als ihr Mann Antonio bei einem durch ihn verursachten Gasunglück in seinem Büro ums Leben gekommen ist und dabei auch noch einen Priester und ein pensioniertes Lehrerehepaar mit in den Tod riss, wendet sich Lidia verzweifelt an ihre in den USA lebende deutsche Freundin Marianne, da sie sich vor allem Sorgen um ihren neunzehnjährigen Sohn Uto macht, der völlig ungerührt mit dem Tod seines Vaters umzugehen scheint. Marianne, die mit ihrem italienischen Mann Vittorio Foletti, ihrer Tochter Nina und ihrem Stiefsohn Guiseppe in der in Connecticut abgeschiedenen gelegenen Kommune Peaceville lebt, lädt Uto für ein paar Monate zu sich nach Hause ein.
Uto macht sich im Dezember tatsächlich auf den Weg, doch kommt sich der begabte Pianist mit Punkfrisur, Sonnenbrille und schwarzen Rockerklamotten schon bei seiner Ankunft wie in einem falschen Film vor. Er redet nicht viel, nimmt seine Umgebung aber sehr aufmerksam in sich auf. Vittorio betont sogleich, dass es sich bei Peaceville nicht um eine spirituelle Kolonie handelt, sondern um eine spirituelle Siedlung mit einem Zentrum, zu dem jeder gehen kann, wann er will. Ihr spiritueller Führer ist ein alter Hindu, der Swami genannt wird und sich bald nach Utos Ankunft auch zum Abendessen bei den Folettis ankündigt. Uto kann dem allseits vorgeführten Friede-Freude-Eierkuchen-Gehabe allerdings wenig abgewinnen. Stattdessen sorgt er schnell für Unruhe in der vermeintlich so harmonischen Gemeinschaft, lässt die pubertierende Nina endlich ihre Magersucht überwinden, den jungen Guiseppe-Jeff mit harter Rockmusik rebellieren und den erfolgreichen Maler Vittorio in jeder Hinsicht über die Stränge schlagen. Doch Uto selbst kommt sich immer verlorener vor …
„Ich schaute umher und suchte nach einem Punkt, an den ich mich halten konnte, der nichts mit meinen Gedanken zu tun hatte, damit sie von mir abließen und sich in irgend etwas anderes verbissen; ich war von kalter, flüssiger und so konzentrierter Verzweiflung erfüllt, wie es mir nur selten im Leben passiert war. Mir war, als würde ich mich im nächsten Moment auflösen, jede Distanz zur Außenwelt verlieren; ich hatte solche Angst, dass ich hätte schreien können, wenn das nicht schon eine zu positive Geste gewesen wäre.“ (S. 181) 
Mit seinem 1995 veröffentlichten Roman „Uto“ (alternativ auch „Guru“) nimmt der Mailander Erfolgsautor Andrea De Carlo („creamtrain“, „Zwei von zwei“, „Techniken der Verführung“) die Esoterik- und New-Age-Szene genüsslich aufs Korn, entlarvt die „Tue Gutes, und dir wird Gutes getan“-Attitüde selbsternannter Erlösungsfiguren als recht eigentlich verlogenes Getue, das den wahren Charakter eines Menschen nur zu verbergen hilft.
Uto wirkt dabei wie das jüngere Alter ego des Autors. Uto wird zunächst ausführlich als ein hochintelligenter, künstlerisch hochbegabter, analytisch beobachtender und denkender junger Mann vorgestellt, der wenige Worte verliert, sich aber sprachlich äußerst versiert auszudrücken versteht. Mit seiner unnahbaren, aber auch verletzlich wirkenden Art fasziniert er zunächst die beiden Frauen in seiner Gastgeber-Gemeinschaft, während Vittorio den jungen Mann eher eifersüchtig als Konkurrent nicht nur in seinen künstlerischen Ambitionen (obwohl er im Gegensatz zu Uto seine Landschaftsbilder für viel Geld zu verkaufen versteht), die Uto einfach so in den Schoß zu fallen scheinen, sondern auch in der Beziehung zu Frauen.
So versiert und ausschweifend De Carlo allerdings die psychischen Mechanismen in dieser spirituell geprägten Gemeinschaft seziert, so vorhersehbar entwickelt sich leider auch der wenig originelle Plot, wenn Uto nach und nach auf den Grund der einzelnen Charaktere stößt und deren gar nicht so altruistischen und (gemein)wohlwollenden Wurzeln freilegt. So liegt die Stärke in „Uto“ eher in De Carlos sprachlicher Virtuosität und der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Folettis wirken dagegen allesamt sehr flach und klischeehaft gezeichnet, so dass das Publikum nie den Eindruck bekommt, dass hier eine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Uto und den einzelnen Mitgliedern der Foletti-Familie stattfindet. So wird „Uto“ allenfalls eine Leserschaft ansprechen, die ihre Einstellung gegen sektenähnliche Bewegungen auch in literarischer Hinsicht untermauern möchte.

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 3) „Die weiße Löwin“

Mittwoch, 8. April 2020

(Zsolnay, 560 S., HC)
Die Immobilienmaklerin Louise Åkerblom will am Freitagnachmittag noch das abgelegene Haus einer Witwe an der Abzweigung zwischen Krageholm und Vollsjö aufsuchen, bevor sie den Heimweg nach Ystad zu ihrem Mann und den beiden Kindern antritt, als ihr unterwegs bewusst wird, dass sie sich verfahren hat. Als sie sich auf einem anderen Hof nach dem Weg erkundigen will, wird sie mit einem Schuss in die Stirn getötet. Der vierundvierzigjährige Kriminalkommissar Kurt Wallander, der gerade gar nicht damit klarkommt, dass sein fast achtzigjähriger Vater seine gut dreißig Jahre jüngere Haushaltshilfe Gertrud heiraten will, übernimmt die Ermittlungen, als Louises Mann Robert am nachfolgenden Montag eine Vermisstenanzeige aufnimmt.
Die streng religiöse Methodistenfamilie scheint überhaupt keine Probleme gehabt zu haben, so dass Wallander und seinen Kollegen kein Motiv für die brutale Tat einfallen will. Als der Wagen der Toten in einem See und ihre Leiche zufällig auf dem Boden eines Brunnens entdeckt wird, führt der ebenfalls am Tatort gefundene Finger eines Schwarzen in eine ungewohnte Ermittlungsrichtung. Denn auf einmal explodiert ein Nachbarhaus. In den völlig zerstörten Mauern finden sich die Überreste einer russischen Funkanlage und einer ungewöhnlichen Pistole. Währenddessen laufen im April 1992 in Südafrika die Vorbereitungen eines Attentats auf den Präsidentschaftskandidaten Nelson Mandela auf Hochtouren. Der Bure Jan Kleyn, der dem südafrikanischen Geheimdienst angehört, hat mit einigen Verbündeten ein Komplott inszeniert, für das der südafrikanische Auftragskiller Victor Mabasha in Schweden durch den ehemaligen KGB-Agenten Konovalenko mit entsprechender Ausrüstung und Training versorgt werden soll.
Als Mabasha allerdings die unwürdige Behandlung durch seinen russischen Ausbilder nicht mehr erträgt und nicht verstehen kann, wie er die unschuldige Frau erschießen konnte, will er mit der Sache trotz der stattlichen Belohnung nichts mehr zu tun haben. Konovalenko schneidet dem Südafrikaner im Kampf einen Finger ab und verwischt durch einen Sprengsatz alle Spuren. Während er seinem Auftraggeber vorgaukelt, Mabasha getötet zu haben, schickt Kleyn mit Sikosi Tsiki den nächsten Auftragskiller nach Schweden. Als Südafrikas amtierender Präsident de Klerk von dem geplanten Attentat und seinen Hintermännern erfährt, setzt er seinen Verbündeten Scheepers mit der Aufklärung der Hintergründe zu dem Plan ein, doch die Zeit verrinnt …
„Scheepers sah durch die Scheibe und fragte sich, was mit seinem Leben geschehen würde, ob der große Plan, den de Klerk und Mandela formuliert hatten und der den Rückzug der Weißen bedeutete, gelingen konnte. Oder würde er zum Chaos führen, zu unkontrollierter Gewalt, zu einem schrecklichen Bürgerkrieg, in dem sich Positionen und Allianzen ständig änderten und schließlich nicht mehr kalkulierbar wären? Die Apokalypse, dachte er.“ (S. 488) 
Henning Mankell, der während der 68er Bewegung an Protesten gegen den Vietnamkrieg, Portugals Kolonialkrieg in Afrika und gegen das Apartheidregime in Südafrika teilgenommen hatte, schrieb mit (dem erst 2017 hierzulande veröffentlichten) „Der Sandmaler“ bereits 1974 den ersten seiner vielen Afrika-Romane und fühlte sich Zeit seines Lebens besonders innig mit diesem Kontinent verbunden. In seinem dritten Roman um den charismatischen Kriminalkommissar Kurt Wallander aus der schwedischen Kleinstadt Ystad verbindet er erstmals auf komplexe Weise einen Mordfall in seinem Zuständigkeitsbereich mit den aufrührerischen Ereignissen in Südafrika auf dem Höhepunkt der Apartheid. Immer wieder wechselt Mankell zwischen den Zeiten und Orten, nimmt sich vor allem viel Zeit, die kritischen Zustände in Südafrika zu beschreiben. Dabei lässt er in seinem Prolog die Ereignisse Revue passieren, die 1918 in Johannesburg zur Gründung des Afrikaner Broederbond geführt haben, mit dem das rassistische Apartheid-Regime seine Rechtfertigung fand. Eindringlich schildert er die Erniedrigung, unter der die Schwarzen in Südafrika leiden, ebenso wie die rassistischen Überzeugungen der Buren, die ihre Macht mit allen Mitteln zu bewahren versuchen, eben auch mit einem Geheimdienst innerhalb des Geheimdienstes.
Mankell beschreibt die ständige Angst vor Überwachung durch eigene wie durch fremde Leute. In dieser Atmosphäre der Angst, der Unsicherheit und des Hasses entwickelt sich ein Mordkomplett von komplexer Vielschichtigkeit, deren Bahnen bis nach Schweden führen. Hier hat Wallander nicht nur mit den für ihn unverständlichen Heiratsabsichten seines alten Herrn, sondern auch mit der Sorge um seine Tochter Linda und der nicht wirklich klar definierten Fernbeziehung zu der in Riga lebenden Baiba Liepa zu tun und wird schließlich mehr mit dem Mordkomplott in Südafrika verwickelt, als ihm lieb sein könnte.
Henning Mankell erweist sich in seinem dritten Wallander-Roman nicht nur als Verfechter der Aufhebung der Rassendiskriminierung in Südafrika, sondern webt aus diesem brodelnden gesellschaftspolitischen Kessel an Gewalt, Unterdrückung und Hass einen durchweg packenden Krimi-Plot, der bei den Vorgängen in Schweden etwas zu übertrieben actionlastig ausgefallen ist, was das Tempo erhöht, aber die Glaubwürdigkeit mindert.

Uwe Kopf – „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“

Mittwoch, 1. April 2020

(Atlantik, 316 S., Tb.)
Am 24. Mai 1998 hat sich der 40-jährige Tom nach Art der Greise aufgehängt, nachdem er sich noch beim Pizzadienst neben der Pizza noch drei Dosen Warsteiner-Bier (das er eigentlich überhaupt nicht mag) bestellt und die Wäsche mit Sunil – wie seine Mutter – gewaschen hatte. Außerdem las er noch James Ellroys „Stiller Schrecken“ zu Ende – übrigens das erste, das er in seinem Leben je ausgelesen hat, ganz anders als sein älterer Bruder Sören, der als Kulturjournalist davon überzeugt ist, dass Bücher sogar Leben retten können. Auch sonst trennen die beiden vaterlos aufgewachsenen Brüder Welten. Während Sören nicht nur einen coolen Beruf hat, sondern auch massenweise Frauen ins Bett bekommt, schlägt sich Tom mit Aushilfsjobs bei der Post durch, konsumiert in seiner Wohnung im Arbeiter-Viertel Hamburg-Berne vorwiegend Horrorfilme und wird wegen seines Aussehens, das wegen der langen Haare an Jesus erinnert, für schwul gehalten.
Was alles schief gelaufen ist in seinem Leben, resümiert der meist aus der Ich-Perspektive erzählende Tom auf den folgenden 300 Seiten. Am Ende werden die Wünsche und das Erreichte auf einem Zettel gegenübergestellt: „Da kommt nix mehr“, heißt es da nur nüchtern. Die Polizei beschreibt dieses Vorgehen als „Bilanzselbstmord“. Dabei gibt es durchaus vielversprechende Ansätze in Toms Leben. Sören vermittelt seinem Bruder zunächst Leserbrief-Aufträge, dann darf er – weil der Redaktion seine Leserbriefe zu Joschka Fischer und der Klappstulle so gut gefielen - sogar Bruce Springsteens neues Album „The Ghost of Tom Joad“ rezensieren. Doch nach einem tollen Eröffnungssatz geht Tom, glühender Anhänger von Rory Gallagher, die Puste aus, und Musikchef René schreibt letztlich die Kritik. Bei den Frauen läuft es auch nicht rund. Mit seiner Verlobten hat er während der zwölf Jahre andauernden Beziehung eigentlich keinen Sex, doch dann geschieht ein Wunder, als die attraktive Ärztin Eva aus Aachen in sein Leben tritt und sich in Tom verliebt. Allerdings will sie mit ihrem ebenfalls noch in der Aachener Nachbarschaft lebenden Ex-Freund John befreundet bleiben, was Tom schier in den Wahnsinn treibt. Sören hält ihn für einen „Liebeskasper“, Eva schlägt ihm sogar eine Eifersuchtstherapie vor. Doch ebenso wie ihm Beruf bricht ihm auch in dieser Hinsicht die Angst zu versagen buchstäblich das Genick …
„Ich bin 40 Jahre alt, nach Eva kommt nichts mehr. Bis ich Eva kennenlernte, dachte ich ja auch, da war nie was, da kommt nichts. Mit Eva hatte ich doch eine ganz neue Welt. Jemand wie ich kann so eine Welt doch gar nicht erwarten. So eine Chance kriege ich nie wieder.“ (S. 305) 
Nachdem Uwe Kopf von 1990 bis 1996 als Textchef bei Tempo tätig gewesen war und für Magazine wie Faces, den Rolling Stone und Theo geschrieben hatte, verstarb er im Januar 2017 kurz nach der Diagnose an einer Krebserkrankung, konnte aber noch die über Jahre gestreckte Arbeit an seinem ersten – und leider auch einzigen – Roman noch beenden, bevor er beim Tempo-Imprint des Hoffmann und Campe Verlags posthum veröffentlicht wurde.
Zwar finden sich viele autobiografische Verweise in „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ wie die Kindheit in Kaiserslautern und die Tatsache, dass sein eigener Bruder Tom hieß und sich selbst umbrachte, aber das spielt für den Unterhaltungswert des Romans überhaupt keine Rolle. Auf ebenso mitfühlende, aber nicht mitleiderregende wie humorvolle Art beschreibt Kopf das Scheitern seines Protagonisten an seinen Lebenserwartungen. Die sind nicht allzu hoch gesteckt - Eva, Respekt, Sinn, Ruhe -, aber am Ende seines vierzigjährigen Lebens scheint davon einfach nichts erreicht worden zu sein. Toms Lebens- und Leidensgeschichte ist überraschenderweise aber überhaupt nicht kitschig melodramatisch, sondern trifft einfach immer den richtigen Ton.
Seine Milieubeschreibungen treffen einfach den Nagel auf den Kopf. Als der Autor beispielsweise Uli Rehberg und seinen legendären Plattenladen „Unterm Durchschnitt“ beschreibt, konnte ich nur lächelnd zustimmend nicken. Aber auch die immer wieder souverän eingeflochtenen Beschreibungen des Zeitgeistes – Vader Abrahams „Lied der Schlümpfe“; der Fall der Mauer in dem Augenblick, als Tom seinen Bruder mit Toms Freundin im Bett erwischt, der Deutsche Herbst mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer, Sean Connerys Besuch in einem italienischen Restaurant anlässlich der Premiere von „Family Business“ und die vielen popkulturellen Verweise auf Musikalben, Filme und Bücher – machen „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ zu einem flüssig und mit lakonischem Humor geschriebenen, schnörkellosen wie tiefgründigen Lesegenuss. Dazu trägt auch die Erklärung bei, wie die Pet Shop Boys zu ihrem Namen gekommen sind …