Michael Connelly – (Renée Ballard: 1) „Late Show“

Dienstag, 28. April 2020

(Kampa, 432 S., HC)
Seit Detective Renée Ballard ihren Vorgesetzten Lieutenant Robert Olivas erfolglos wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte und von der Robbery-Homicide in die als „Late Show“ bezeichnete Nachtschicht der Hollywood Division versetzt worden ist, versieht sie mit ihrem Partner John Jenkins vor allem Streifendienst. Sie wurden an jeden Tatort gerufen, an denen ein Detective erforderlich war, nahmen erste Protokolle auf, schrieben die entsprechenden Berichte und übergaben diese am Morgen an die jeweils zuständigen Einheiten. Ballard, die im Alter von vierzehn Jahren tatenlos am Strand mitansehen musste, wie ihr surfbegeisterter Vater im Meer ertrank, wuchs größtenteils bei ihrer Großmutter auf und verbringt ihre Freizeit am liebsten mit ihrer am Strand zugelaufenen Hündin Lola und Stand Up Paddling am Venice Beach. Zu gern würde sie auch mal einen Fall zu Ende bearbeiten.
Die Gelegenheit ergibt sich, als Ballard sich noch Hollywood Presbyterian Medical Center befindet, wo sie das Opfer einer schweren Körperverletzung, die Transvestitin Ramona Ramone vernehmen sollen. Auch das einzig überlebende Opfer einer Schießerei in dem Club „Dancers“ wird ins Hollywood Pres gefahren, wo es allerdings seinen schweren Verletzungen erliegt. Während Jenkins zunächst zum Tatort und dann nach Hause fährt, um sich um seine krebskranke Frau zu kümmern, nimmt Ballard die persönlichen Gegenstände der getöteten Kellnerin Cynthia „Cindy“ Haddels an sich und untersucht am Tatort ihr persönliches Schließfach. Offensichtlich verfolgte die junge Frau eine Schauspielkarriere und verdiente sich durch kleine Drogendeals etwas zum Lebensunterhalt dazu.
Um den Fall kümmert sich vor allem ihr ehemaliger Partner Ken Chastain, der Ballard bei ihrer Anzeige damals nicht den Rücken stärkte und den sie deshalb nach wie vor nicht gut zu sprechen ist. Am Tatort beobachtet sie, wie Chastain ein kleines Beweisstück unterschlägt, wenig später wird Chastain in der Garage seines Hauses geradezu hingerichtet. Als sich die Hinweise verdichten, dass ein Cop bei der Schießerei im „Dancers“ beteiligt war, muss Ballard extrem vorsichtig agieren, zumal Lieutenant Olivas zu verhindern versucht, dass sie sich zu intensiv mit dem Fall beschäftigt. Aber auch ihre Ermittlungen im Fall der schweren Körperverletzung begibt sich Ballard in Gefahr, als sie ihrem Verdächtigen Thomas Trent zu dicht auf die Pelle rückt.
„Für sie war Trent keineswegs mehr nur eine Person von Interesse. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er der Gesuchte war, und es gab nichts, was über eine solche plötzliche Einsicht ging. Etwas Größeres gab es für einen Detective nicht. Das hatte nichts mit Beweisen oder juristischen Verfahrensweisen oder einem hinreichenden Verdacht zu tun. Es war nichts Geringeres als die felsenfeste Überzeugung, dass man es einfach wusste, und es gab nichts in Ballards Leben, was es mit diesem Gefühl aufnehmen konnte.“ (S. 127) 
Michael Connelly hat mit seinen erfolgreichen Reihen um den ebenfalls in Los Angeles wirkenden Detective Hieronymus „Harry“ Bosch und seinem als Strafverteidiger tätigen Halbbruder Mickey Haller bereits so renommierte Preise wie den Edgar Allan Poe Award, den Deutschen Krimipreis, den Anthony Award und den Maltese Falcon Award abgeräumt. Als ehemaliger Polizeireporter für die Los Angeles Times versteht es Connelly souverän, vor allem den Alltag polizeilicher Ermittlungen so zu beschreiben, dass es genügend tiefe Einblicke gewährt, ohne mit überflüssigen Details zu langweilen. Mit Renée Ballard stellt er nun seine erste weibliche Protagonistin vor, die er als Opfer sexueller Nötigung gleich in der #MeToo-Debatte verortet, die 2017, als „Late Show“ im Original veröffentlicht wurde, mit dem Fall von Harvey Weinstein erst in Gang gekommen war.
Connelly rückt dieses Thema nicht zu sehr in den Vordergrund, aber Ballards exponierte Stellung als „Verräterin“ erklärt das nach wie vor schwierige Verhältnis zwischen ihr und ihren ehemaligen Kollegen/Vorgesetzten. Trotz dieser Vorkommnisse präsentiert sich Ballard als taffe, selbstbewusste und ambitionierte Ermittlerin, die sich mitfühlend um Verbrechensopfer kümmert und hartnäckig daran arbeitet, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Connelly hat mit Renée Ballard eine charismatische Protagonistin erschaffen, die in den beiden nachfolgenden Roman – die hoffentlich bald auch in deutscher Sprache veröffentlicht werden – mit Harry Bosch zusammenarbeitet, und einen Plot konstruiert, der gleich drei unterschiedlich gewichtete Fälle miteinander verknüpft, so dass „Late Show“ einen abwechslungsreichen Krimi darstellt, der auf die Fortsetzungen neugierig macht.

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