Harry Bosch hat in der Neujahrschicht beim Morddezernat der Polizei von Los Angeles bereits zwei Selbstmorde aufnehmen müssen, bekommt er einen Anruf von Mankiewicz, dem diensthabenden Sergeanten in der Hollywood Division des LAPD. Offenbar hat der Hund eines pensionierten Arztes in Laurel Canyon, Dr. Paul Guyot, den Oberarmknochen eines Kindes ausgebuddelt. Bei weiteren Ausgrabungen an der Fundstelle auf dem dicht bewaldeten Hang werden nicht nur weitere Knochen, sondern auch ein Rucksack und einige Kleiderstücke gefunden. Die Obduktion ergibt nicht nur, dass der Todeszeitpunkt des Jungen grob geschätzt Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre angesiedelt werden muss, sondern dass der Junge Opfer massiver Misshandlungen gewesen war, wie die unzähligen Frakturen auch am Schädel beweisen.
Die erste Spur führt zu dem Filmrequisiteur Nicholas Trent, der 1966 bereits wegen der sexuellen Belästigung eines kleinen Jungen verurteilt worden ist. Durch eine undichte Stelle beim LAPD sickert dessen Identität jedoch zu den Medien durch, worauf sich der Verdächtige erhängt. Während Boschs Vorgesetzte Lieutenant Billets und Deputy Chief Irvin Irving darauf drängen, den Fall schnell zu den Akten zu legen, sagt Boschs Bauchgefühl, dass die Sache längst nicht abgeschlossen ist. Als sich Sheila Delacroix bei der Polizei meldet und das Opfer schließlich anhand ihrer Aussage mit den gefundenen Beweisen als ihr Bruder Arthur identifizieren lässt, gerät Sam Delacroix, der Vater des Jungen, ins Visier der Ermittlungen. Bosch ist von dem Fall, der ihn immer wieder an seine eigene Kindheit als Pflegekind erinnert, und seinen Begleiterscheinungen so frustriert, dass er an der Sinnhaftigkeit seines Jobs zu zweifeln beginnt …
„Er hatte immer gewusst, dass er ohne seinen Job und seine Dienstmarke und seine Aufgabe verloren wäre. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er mit all dem genauso verloren sein konnte. Er konnte sogar wegen all dem verloren sein. Genau das, was er am meisten zu brauchen glaubte, war das, was ihn mit dem Leichentuch der Sinnlosigkeit umhüllte.“ (S. 414)Es ist ein erschütternder Fall, den Hieronymus „Harry“ Bosch in seinem achten Fall auf den Tisch bekommt. Dabei hat er nicht nur mit dem Umstand zu kämpfen, dass der Junge bereits vor gut einem Vierteljahrhundert ermordet wurde und die Beweislage mit dem Auffinden möglicher Zeugen sehr dünn ist, sondern auch mit einem Leck bei der Polizei, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Ermittlungsergebnisse an die Medien weiterleitet, und den strukturellen Problemen in seiner Einheit, wo auch andere, aktuelle Morde auf ihre Bearbeitung warten.
Im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen mit Kollegen und Vorgesetzten stößt Bosch diesmal aber niemandem wirklich heftig vor den Kopf. Zwar haben sowohl seine Vorgesetzten Billets und Irving bestimmte Vorstellungen über die Art der Ermittlungen und den Umgang mit den Medien, und auch von seinem Partner Jerry Edgar muss sich Bosch immer wieder die Rüge gefallen lassen, dass er nicht in seine Vorgehensweise eingeweiht wird, doch bis auf wenige Stolperfallen kann Bosch diesmal recht frei seinen Weg verfolgen.
Kritisch beäugt wird eher sein Verhältnis zu der ehemaligen Anwältin und Weltreisenden Julia Brasher, die als Streifenpolizistin gerade erst angefangen hat und somit im Dienstgrad unter Bosch steht. Besonders überzeugend ist die Ausgestaltung der Affäre zwischen Bosch und Brasher allerdings nicht gelungen, vor allem das merkwürdige Ende ihrer Beziehung wirkt nicht gelungen. Auch sonst hält sich Connelly nicht lange genug mit seinen Figuren auf, um ihnen ein charismatisches Profil zu verleihen. Das Thema Päderastie und die Bestrafung der Täter, der Umgang der Medien mit heiklen Informationen und auch das oft bedauernswerte Schicksal vieler Pflegekinder werden nur kurz angerissen, aber nie tiefergehend abgehandelt.
So stellt „Kein Engel so rein“ einen unterhaltsamen Krimi mit stringent konstruierten Plot dar, der aber kaum eine nachhaltige Wirkung hinterlässt.
Leseprobe Michael Connelly - "Kein Engel so rein"
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