Am 24. Mai 1998 hat sich der 40-jährige Tom nach Art der Greise aufgehängt, nachdem er sich noch beim Pizzadienst neben der Pizza noch drei Dosen Warsteiner-Bier (das er eigentlich überhaupt nicht mag) bestellt und die Wäsche mit Sunil – wie seine Mutter – gewaschen hatte. Außerdem las er noch James Ellroys „Stiller Schrecken“ zu Ende – übrigens das erste, das er in seinem Leben je ausgelesen hat, ganz anders als sein älterer Bruder Sören, der als Kulturjournalist davon überzeugt ist, dass Bücher sogar Leben retten können. Auch sonst trennen die beiden vaterlos aufgewachsenen Brüder Welten. Während Sören nicht nur einen coolen Beruf hat, sondern auch massenweise Frauen ins Bett bekommt, schlägt sich Tom mit Aushilfsjobs bei der Post durch, konsumiert in seiner Wohnung im Arbeiter-Viertel Hamburg-Berne vorwiegend Horrorfilme und wird wegen seines Aussehens, das wegen der langen Haare an Jesus erinnert, für schwul gehalten.
Was alles schief gelaufen ist in seinem Leben, resümiert der meist aus der Ich-Perspektive erzählende Tom auf den folgenden 300 Seiten. Am Ende werden die Wünsche und das Erreichte auf einem Zettel gegenübergestellt: „Da kommt nix mehr“, heißt es da nur nüchtern. Die Polizei beschreibt dieses Vorgehen als „Bilanzselbstmord“. Dabei gibt es durchaus vielversprechende Ansätze in Toms Leben. Sören vermittelt seinem Bruder zunächst Leserbrief-Aufträge, dann darf er – weil der Redaktion seine Leserbriefe zu Joschka Fischer und der Klappstulle so gut gefielen - sogar Bruce Springsteens neues Album „The Ghost of Tom Joad“ rezensieren. Doch nach einem tollen Eröffnungssatz geht Tom, glühender Anhänger von Rory Gallagher, die Puste aus, und Musikchef René schreibt letztlich die Kritik. Bei den Frauen läuft es auch nicht rund. Mit seiner Verlobten hat er während der zwölf Jahre andauernden Beziehung eigentlich keinen Sex, doch dann geschieht ein Wunder, als die attraktive Ärztin Eva aus Aachen in sein Leben tritt und sich in Tom verliebt. Allerdings will sie mit ihrem ebenfalls noch in der Aachener Nachbarschaft lebenden Ex-Freund John befreundet bleiben, was Tom schier in den Wahnsinn treibt. Sören hält ihn für einen „Liebeskasper“, Eva schlägt ihm sogar eine Eifersuchtstherapie vor. Doch ebenso wie ihm Beruf bricht ihm auch in dieser Hinsicht die Angst zu versagen buchstäblich das Genick …
„Ich bin 40 Jahre alt, nach Eva kommt nichts mehr. Bis ich Eva kennenlernte, dachte ich ja auch, da war nie was, da kommt nichts. Mit Eva hatte ich doch eine ganz neue Welt. Jemand wie ich kann so eine Welt doch gar nicht erwarten. So eine Chance kriege ich nie wieder.“ (S. 305)Nachdem Uwe Kopf von 1990 bis 1996 als Textchef bei Tempo tätig gewesen war und für Magazine wie Faces, den Rolling Stone und Theo geschrieben hatte, verstarb er im Januar 2017 kurz nach der Diagnose an einer Krebserkrankung, konnte aber noch die über Jahre gestreckte Arbeit an seinem ersten – und leider auch einzigen – Roman noch beenden, bevor er beim Tempo-Imprint des Hoffmann und Campe Verlags posthum veröffentlicht wurde.
Zwar finden sich viele autobiografische Verweise in „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ wie die Kindheit in Kaiserslautern und die Tatsache, dass sein eigener Bruder Tom hieß und sich selbst umbrachte, aber das spielt für den Unterhaltungswert des Romans überhaupt keine Rolle. Auf ebenso mitfühlende, aber nicht mitleiderregende wie humorvolle Art beschreibt Kopf das Scheitern seines Protagonisten an seinen Lebenserwartungen. Die sind nicht allzu hoch gesteckt - Eva, Respekt, Sinn, Ruhe -, aber am Ende seines vierzigjährigen Lebens scheint davon einfach nichts erreicht worden zu sein. Toms Lebens- und Leidensgeschichte ist überraschenderweise aber überhaupt nicht kitschig melodramatisch, sondern trifft einfach immer den richtigen Ton.
Seine Milieubeschreibungen treffen einfach den Nagel auf den Kopf. Als der Autor beispielsweise Uli Rehberg und seinen legendären Plattenladen „Unterm Durchschnitt“ beschreibt, konnte ich nur lächelnd zustimmend nicken. Aber auch die immer wieder souverän eingeflochtenen Beschreibungen des Zeitgeistes – Vader Abrahams „Lied der Schlümpfe“; der Fall der Mauer in dem Augenblick, als Tom seinen Bruder mit Toms Freundin im Bett erwischt, der Deutsche Herbst mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer, Sean Connerys Besuch in einem italienischen Restaurant anlässlich der Premiere von „Family Business“ und die vielen popkulturellen Verweise auf Musikalben, Filme und Bücher – machen „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ zu einem flüssig und mit lakonischem Humor geschriebenen, schnörkellosen wie tiefgründigen Lesegenuss. Dazu trägt auch die Erklärung bei, wie die Pet Shop Boys zu ihrem Namen gekommen sind …
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