Jonathan Franzen – „Die Korrekturen“

Sonntag, 29. März 2020

(Rowohlt, 782 S., HC)
Der 39-jährige Chip Lambert holt seine Eltern vom LaGuardia Airport in New York City ab, damit sie mit Nordic Pleasurelines eine weitere Kreuzfahrt antreten können, vielleicht die letzte in ihrem Leben, denn Chips Vater Alfred leidet zunehmend unter Parkinson. Dabei sitzen sie noch immer dem Missverständnis auf, dass Chip beim Wall Street Journal arbeitet. Stattdessen liefert Chip, der vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte an einem College in Connecticut wegen eines Vergehens verloren hatte, in das eine seiner Studentinnen involviert gewesen war, nicht honorierte Beiträge für das Magazin Warren Street Journal: Monatsschrift der Transgressiven Künste ab. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einen Teilzeitjob als Korrektor bei einer Anwaltskanzlei, während sein gerade fertiggestelltes – von vor Phallusängsten und Brüsten triefendes - Drehbuch keinen Abnehmer findet. So bleibt ihm nur seine Wohnung in Manhattan und seine hübsche – leider verheirateten - Freundin Julia. Die hat natürlich von seiner Sexsucht bald genug und sucht das Weite. Interessanterweise erhält Chip ausgerechnet von Julias Mann, den litauischen Diplomaten Gitanas, das Angebot, ihn nach Litauen zu begleiten und bei seinem neuen Projekt zu unterstützen, bei dem es um die Gewinnung internationaler Investoren für die – natürlich betrügerische - „Parteigesellschaft Freier Markt“ geht.
Doch auch seine Geschwister haben ihre Probleme. Gary war erfolgreicher Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank, leidet aber unter Depressionen und dem Gefühl, dass sich seine Frau Caroline und seine drei Kinder gegen ihn verschworen haben. Denise scheint es mit ihren 32 Jahren zunächst gut getroffen zu haben, macht als Spitzenköchin Karriere, doch die Ehe mit dem fast doppelt so alten Emile Berger hält nicht. Denise lässt sich von Brian Callahan engagieren, in den Räumen eines alten Kohlekraftwerks ein eigenes Restaurant zu leiten. Doch als sie sowohl mit Brian als auch seiner Frau Robin eine Affäre beginnt und beide davon erfahren, löst sich ihre Karriere in Luft auf. Von all diesen Problemen bekommen Alfred und Enid Lambert auf ihrem Kreuzfahrtschiff nichts mit. Enid ist nur noch von dem innigen Wunsch getrieben, ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest in St. Jude zu feiern …
„Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.“ (S. 665) 
Jonathan Franzen legte 2002 mit „Die Korrekturen“ seinen dritten Roman vor. Seine ersten beiden Werke „The Twenty-Seventh City“ (1988) und „Strong Motion“ (1992) wurden erst nach dem internationalen Erfolg seines dritten Romans in Deutschland veröffentlicht und untermauerten die erzählerische Qualität des 1959 in Western Springs, Illinois, geborenen und nun in New York lebenden Autors. In „Die Korrekturen“ entwirft er ein Familienportrait, das als Querschnitt der amerikanischen Mittelschicht gelesen werden kann. Während Alfred auf eine erfolgreiche Karriere als Bahningenieur zurückblickt, aber seiner Frau nach zwei Jahre zu früh in Pension gegangen ist, kam seiner Frau die Erziehung der Kinder zu, auf die sie keinen Einfluss mehr ausüben, da sie im ganzen Land verstreut ihren eigenen Lebensentwürfen folgen.
Franzen gibt sich viel Mühe, die einzelnen Biografien minutiös und überzeugend auszugestalten. Dabei bildet Chip das unstete Leben im Kreativ-Bereich ab, wirkt durch seine sexuelle Promiskuität, vor allem aber auch durch sein Engagement in Litauen wie eine Karikatur. Weitaus glaubwürdiger ist der Erzählstrang um den Banker Gary ausgefallen, der nicht wie sein Vater allein für das Aufkommen des Familienunterhalts zuständig ist und sich damit gewisse Rechte bei der Ausgestaltung des familiären Lebens herausnehmen könnte, sondern mit Caroline eine selbstbewusste, finanziell unabhängige Frau an seiner Seite hat, die souverän ihre eigenen Interessen zu vertreten versteht und für den größten Widerstand bei den Weihnachtsplänen ihrer Schwiegermutter sorgt.
Denise wiederum reibt sich zunächst im Beruf auf, trifft aber unglückliche Entscheidungen im Bereich ihrer persönlichen Beziehungen, was nicht ohne Folge auf ihre Karriere bleibt. Sie erweist sich allerdings am Ende als die gute Tochter, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Gary am meisten darum sorgt, wie es mit ihren Eltern weitergeht. All diese Einzelschicksale verwebt Franzen zu einem großen Familienroman, der einerseits den Wechsel im Umgang mit Traditionen von einer Generation zur nächsten nachvollzieht, zum anderen aber auch die Probleme zunehmend individualisierter Lebensentwürfe in einer post-modernen Welt aufzeigt.
Franzen bezieht dabei die Probleme der „New Economy“ ebenso mit ein wie die Schwierigkeit, bei der grenzenlos erscheinenden Auswahl an geschlechtlichen und gesellschaftlichen Rollen seinen eigenen Weg zu finden, ohne die eigenen Eltern mit ihren festen Moralvorstellungen zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Dabei bedient sich der Autor einer wunderbar fließenden, bildgewaltigen Sprache, die viel Humor und Sympathie für die Figuren erkennen lässt.

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