Håkan Nesser – „Der Choreograph“

Mittwoch, 25. März 2020

(btb, 256 S., HC)
„Ich bin kein Schriftsteller, kein Mensch, der schreibt. Ich kann es nicht prinzipiell leugnen, dass mir der Prozess an sich gefällt, Buchstaben, Worte, einen Sinn zu formen, auf weißem Papier; aber nach vielen Stunden mit Stift und Notizbuch bin ich meistens nicht besonders interessiert an dem Ergebnis“, bekennt der Ich-Erzähler, den wir später nur durch einen Brief seiner Geliebten als David identifizieren können, gleich zu Beginn seiner ungewöhnlichen Erzählung. Sie beginnt in einem Eisenbahnabteil, einer unbekannten Landschaft mit einer unbekannten Frau, die der Reisende auf Deutsch angesprochen hat.
Er beobachtet aus den Augenwinkeln, wie sich ein Soldat dieser Frau nähert, doch das erotisch anmutende Intermezzo fällt in sich zusammen, als sich der Erzähler mit einem Schlucken bemerkbar macht. So ähnlich verhält es sich mit der schicksalhaften Bekanntschaft, die der Mann am Ziel seiner Reise macht. In K. begegnet der Mann, der vor zehn Jahren seine zweijährige Ehe scheiden ließ, in einem Geschäft der „schönsten Frau der Welt“. Er spricht die Frau namens Maria in dem roten Kleid mit den schwarzen Applikationen an, sie verabreden sich für den Nachmittag und lieben sich auf eine Weise, die in dem Erzähler das Verlangen nach Mehr weckt.
Doch Maria verschwindet immer wieder spurlos, bekennt, dass sie mit ihm nicht zusammen sein könne, kommt aber auch nicht von ihm los. Was folgt, ist eine kuriose Odyssee, eine Suche, in die schließlich auch Davids Kollegen von der Universität einbezogen werden, als er zusammen mit ihnen einen Ausflug in die Berge unternimmt. Doch ein romantisches Happy End ist dieser Beziehung natürlich nicht vergönnt …
„Wie konnten wir diese lange Zeit über zusammen sein, ohne Fragen zu stellen? Wie sonderbar erscheint das doch im Nachhinein. Einem anderen Menschen so nah zu sein und trotzdem nicht zu wissen, wer er eigentlich ist.
Doch etwas sagte mir, dass es genau so sein sollte.“ (S. 111) 
Der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser ist durch seine charismatischen Kommissare bekannt geworden, vor allem mit der Reihe um Van Veeteren, die 1993 mit „Das grobmaschige Netz“ begann, später auch mit Gunnar Barbarotti, der 2006 in „Mensch ohne Hund“ seinen Einstand feierte. Doch bereits 1988 veröffentlichte Nesser mit „Koreografen“ seinen ersten Roman, der nun – längst überfällig – als limitierte Sonderausgabe anlässlich des 70. Geburtstags des Autors erschienen ist. Literarisch ist „Der Choreograph“ schwer einzuordnen. Das hängt vor allem mit der eigenwilligen Struktur der Erzählung zusammen. Was für den Ich-Erzähler als leidenschaftliche Romanze in einer fremden Stadt beginnt, entwickelt sich nur kurz zu einem Krimi-Plot, wenn die Suche nach Maria thematisiert wird und die Begegnung mit ihrem Mann einen dramatischen Höhepunkt zu versprechen scheint. Doch Nesser untergräbt die Erwartungshaltung des Publikums immer wieder geschickt. Indem Nesser die Geschichte in die Hände seines Erzählers legt, sind die Leser den Launen und der tiefer liegenden psychischen Befindlichkeiten ausgeliefert, also auch den unvermuteten Wechseln von Zeit, Ort und betroffenen Personen.
Es lässt sich gut nachvollziehen, dass „Der Choreograph“ erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, denn für einen gänzlich unbekannten Autor wäre es schwer gewesen, mit so einem Stück die Lesermassen zu gewinnen. Dafür verschließt sich der Plot einer nachvollziehbaren Struktur, und nicht wenige Handlungsstränge verlaufen einfach im Nichts, bis auch das Ende viele Leser unbefriedigt zurücklassen wird. Auf der anderen Seite präsentiert „Der Choreograph“ bereits die schriftstellerischen Stärken des schwedischen Bestsellerautors, nämlich das immens ausgeprägte Einfühlungsvermögen in seine Figuren. Die bruchstückhaften Erzählungen, Erinnerungen und Phantasien, die der Ich-Erzähler lose aneinanderreiht, packen den Leser auf einer emotionalen Ebene und lassen ihn dann auch nicht mehr los, so dass es am Ende nicht viel ausmacht, dass eine konventionelle Auflösung der geschilderten Ereignisse ausbleibt.
Das mag nicht für alle Leser zutreffen. Abgerundet wird das Buch übrigens von einem sehr informativen Vorwort von Eugen G. Brahms und einem Nachwort von Paula Polanski, von der das zusammen mit Håkan Nesser veröffentlichte „Strafe“ ebenfalls bei btb erhältlich ist.
Leseprobe Hakan Nesser - "Der Choreograph"

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