Der 1952 geborene Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat 1992 mit seinem Bestseller „Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?“ darauf hingewiesen, dass weder Nationalismus noch Religion als Kräfte der Weltpolitik verschwinden würden. Die Tatsache, dass ein Vierteljahrhundert später ausgerechnet die wegweisenden Demokratien der USA und Großbritanniens mit der Wahl Donald Trumps einerseits und dem Beschluss, die Europäische Union zu verlassen andererseits, beängstigender Ausdruck nationalistischer Tendenzen geworden sind, haben den in Stanford lehrenden Professor dazu bewogen, mit seinem schmalen Band „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ eine neue Bestandsaufnahme der Weltpolitik vorzunehmen.
Nachdem die Anzahl repräsentativer Demokratien zwischen den frühen 1970er und 2005 von ungefähr 35 auf über 110 angestiegen war, was mit einem Anwachsen wirtschaftlichen Austauschs (Globalisierung), der Vervierfachung weltweit produzierter Güter und erbrachter Dienstleistungen sowie der Verringerung des Anteils der unter extremer Armut leidenden Menschen um 17 Prozent einherging, ist die Tendenz mittlerweile rückläufig. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang die 2008 vom US-amerikanischen Subprime-Markt verursachte Große Rezession und die Euro-Krise nach der drohenden Staatspleite Griechenlands. Russland und China nutzten diese Ereignisse, um eindeutig undemokratische Wege zu mehr Reichtum und Selbstbewusstsein einzuschlagen, 2011 sorgte der Arabische Frühling zwar zunächst für eine Zerschlagung von Diktaturen im Nahen Osten, konnte aber die Hoffnungen auf demokratische Prozesse nicht erfüllen, so dass sich Libyen, der Jemen, Irak und Syrien in Bürgerkriegen zerfleischten.
Als gemeinsamen Nenner für diese an sich ganz unterschiedlichen Ereignisse sieht Fukuyama das Problem der sogenannten „Identitätspolitik“. Überall auf der Welt würden sich Menschen nicht mehr damit abfinden, respektlos behandelt zu werden. Sowohl die Schwulenbewegung, die Frauenbewegung als auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die jüngste #MeToo-Debatte haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich Menschen wegen ihrer Rasse, ihrer Religionszugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminiert fühlen, und zwar über politische und kulturelle Grenzen hinweg. So verstand es Osama bin Laden beispielsweise, seinen Zorn über die Kränkung der Muslime in der ganzen Welt in seiner Al-Qaida-Bewegung so zu mobilisieren, dass sie mit Gewalt für einen Islamischen Staat eintraten.
In den USA waren es vor allem die ländlichen Wähler, die sich von den städtischen Oberschichten beider Küsten ignoriert fühlten und dankbar Trumps Wahlkampfslogan „Make American Great Again“ aufnahmen. Die Demokratien in aller Welt haben es bislang nicht verstanden, dem individuellen Wunsch nach Würde und Respekt befriedigend zu entsprechen. Schließlich hat schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel darauf aufmerksam gemacht, dass der Kampf um Anerkennung die höchste Antriebskraft der Menschheitsgeschichte sei.
„Viele zeitgenössische liberale Demokratien stehen vor einer immensen Herausforderung. Sie haben einen raschen wirtschaftlichen Wandel durchgemacht und sind infolge der Globalisierung weitaus vielfältiger geworden. Dadurch ist das Verlangen nach Anerkennung bei Gruppen geweckt worden, die früher für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar waren. Solche Wünsche bewirken einen subjektiv empfundenen Statusverlust bei den von ihnen verdrängten Gruppierungen und lösen eine Politik des Unmuts und der Gegenreaktion aus.“ (S. 194)Für Fukuyama besteht die Herausforderung darin, das drängende Problem der steigenden Anzahl von Immigranten dadurch zu lösen, dass die Immigranten in die nationale Bekenntnisidentität eines Landes einbezogen werden, denn nur so können sie eine gewinnbringende Vielfalt in die Gesellschaft tragen, während schlecht integrierte Einwanderer eine Belastung für den Staat und sogar eine Gefahr für die Sicherheit wären. Fukuyama führt seine klugen Überlegungen knapp und anschaulich aus, bemüht griechische Philosophen, frühneuzeitliche Denker wie Hobbes, Locke und Rousseau bis zu Soziologen und Politikwissenschaftler wie Samuel P. Huntington, um die Entwicklung des Identitätsbegriffs und den damit zusammenhängenden Problemen in immer komplexeren Gesellschaften zu beschreiben, wobei er überzeugend darlegt, warum gerade die linken Parteien an den aktuellen Herausforderungen scheitern.
Es sind zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse, die der renommierte Politikwissenschaftler hier auftischt, aber in der Beobachtung und Analyse der gegenwärtigen globalen Krisen bietet „Identität“ einen kompakten Überblick.
Leseprobe Francis Fukuyama - "Identität"
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