James Sallis – „Sarah Jane“

Samstag, 28. August 2021

(Liebeskind, 218 S., HC) 
Mit seinen Serien um den Privatdetektiv Lew Griffin („Die langbeinige Fliege“, „Stiller Zorn“, „Nachtfalter“) und den Ex-Cop Turner („Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“, „Dunkles Verhängnis“) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis in die Herzen anspruchsvoller Krimi-Fans geschrieben. Seit seinem erfolgreich – unter dem Titel „Drive“ mit Ryan Gosling in der Hauptrolle - verfilmten Bestseller „Driver“ hat Sallis hierzulande seine literarische Heimat in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind gefunden, wo mit „Sarah Jane“ ein weiteres Zeugnis von Sallis‘ beeindruckender Erzählkunst erschienen ist. 
Sarah Jane Pullman hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Sie wuchs mit ihrem Bruder Darnell in der Kleinstadt Selmer zwischen Tennessee und Arkansas bei ihren Eltern auf, die sich neben ihren regulären Jobs um eine Hühnerzucht kümmerten, ist früh von zuhause ausgezogen, hat schräge Beziehungen hinter sich gebracht und musste verkraften, dass ihre Tochter bei der Geburt gestorben ist. Als sie nach einer weiteren schlechten Entscheidung vom Richter vor die Wahl gestellt wird, entweder ins Gefängnis oder zur Army zu gehen, entscheidet sie sich für den Militärdienst, arbeitet schließlich als Köchin in ganz verschiedenen Restaurants und Kantinen. 
Sarah Jane macht ihren College-Abschluss und bekommt durch ihren Freund Ran Einblick in die Polizeiarbeit und bewirbt sich schließlich in der Kleinstadt Farr um einen Job als Cop, den ihr der Kriegsveteran Cal Phillips ohne großes Vorgeplänkel schnell anvertraut. Sie macht sich gut, zieht in ein kleines Haus außerhalb der Stadt, scheint ihr Leben in den Griff bekommen zu haben. Doch dann wird Cal vermisst und sie als nun diensthabender Sheriff mit dem Fall seines Verschwindens betraut. Auf einmal muss sie dem Bürgermeister, der immer mit ihr zu flirten schien, ebenso Rechenschaft ablegen wie einem FBI-Beamten, dann tauchen weitere Männer auf, die sich für Sarah Jane interessieren und sie in eine zunehmend misslichere Lage bringen …
„Manchmal kommt es einem vor, als würde man Tag für Tag für die Aufführung proben, ohne je das Drehbuch gesehen zu haben oder zu wissen, welche Rolle man spielt. Oder du stehst im Park vor einem dieser großen Kästen mit einem Plan, auf dem im Großbuchstaben SIE SIND HIER steht, und du weißt verdammt genau, dass das nicht stimmt. Cals Job. Kummer und Leid der Menschen. Was man in anderen Menschen sieht und spürt, ist letztendlich das, was man in sich selbst finden kann.“ (S. 153)
Zum Ende seines neuen Romans lässt James Sallis einen von Sarah Janes College-Dozenten darüber philosophieren, wie Sätze und damit auch Kunst Revolutionen hervorrufen können. Dieses Gefühl bekommt auch der Leser von Sallis‘ Geschichten zu spüren. Ebenso wie seine letzten Werke (vor allem „Willnot“) besticht „Sarah Jane“ mit knackigen, sprachlich vollkommenen Sätzen, die die Kraft ganzer Absätze und Seiten besitzen. Wenn er beispielsweise die Kleinstadt Farr als einen dieser Orte beschreibt, „wo sich historische Pfefferkuchenhäuser direkt neben modernen Reihenhäusern behaupten, wo sich Eisenwarenläden, Tankstellen und Angelshops an den Stadtrand klammern und wo man in den gutturalen Lauten des heimischen Dialekts noch das Raunen alter Zeiten hört“, beschwört er mehr als nur die städtische Architektur, sondern gleichsam ihren Puls herauf. 
Sallis nimmt sich mehr als 60 Seiten Zeit, um Sarah Janes bewegte Vergangenheit zu rekapitulieren. Allein die häufigen Wechsel, was Zeit, Ort und beteiligte Personen angeht, machen deutlich, welch dramatischen Ereignisse die junge Frau bereits verkraften musste, bevor sie den Job als Polizistin in Farr antritt, angefangen vom ebenso plötzlichen wie immer häufigen Abtauchen ihrer Mutter aus dem Familienleben, dem Tod ihres Partners beim Militäreinsatz im Mittleren Osten bis zu den komplizierten, von Krankheit, Verletzungen und Verlusten geprägten Affären, die Sarah Jane letztlich von Stadt zu Stadt flüchten ließen. 
Durch das ohne besonderen Anlass absolvierte Studium lässt Sallis seiner vielschichtigen Protagonistin eine intellektuelle Reife zukommen, die auch den Leser immer wieder zum Nachdenken über existentielle Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Schein und Sein, Freiheit und Verantwortung, Freundschaft und Familie, Leben und Tod anregt. Dabei hat der Autor mit Sarah Jane eine so komplexe Figur geschaffen, deren Geschichte man auch gern über längere Zeit verfolgt hätte. Doch Sallis lässt seinem Publikum genug Raum, die Leerstellen mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu füllen.  

Philippe Djian – „Die Ruchlosen“

Dienstag, 24. August 2021

(Diogenes, 202 S., HC) 

Während die zwischen 2013 und 2016 erschienenen Romane „Love Song“, „Chéri-Chéri“ und „Dispersez-vous, ralliez-vous!“ noch auf ihre deutschsprachige Veröffentlichung warten, knüpft der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Oh…“) mit seinem neuen Roman an die kurze, aber knackige Prosa an, die bereits seine vorangegangenen Werke „Marlène“ und „Morgengrauen“ ausgezeichnet haben. 
Seit Patrick in den Armen seiner Frau Diana gestorben ist, kümmert sich sein Bruder Marc um die immer wieder von depressiven Stimmungen, die schon mal in Selbstmordversuchen münden, gezeichnete Zahnärztin, ist sogar in ihre Wohnung gezogen, wo er sie besser im Blick hat. Im Gegensatz zu seinem ebenso charismatischen wie temperamentvollen Bruder hat Marc nicht den gewissen Schlag bei Frauen, ist mit seinen knapp dreiunddreißig Jahren noch immer Jungfrau. Dass er mal den Platz seines Bruders bei Diana einnimmt, kommt weder für ihn noch seine Schwägerin in Frage. Aber als Marc, der viel zu viel Zeit mit Online-Poker verbringt und dabei sukzessive seine Geldreserven aufbraucht, eines frühen Morgens am Strand drei Päckchen mit Koks vom Meer angeschwemmt findet, hofft er durch Dianas Bruder Joël die Drogenpäckchen zu Geld machen zu können. Der über Sechzigjährige hat sich nicht nur mit seiner Schwester entzweit, sondern auch mit seiner dreißig Jahre jüngeren Frau Brigitte. Die Dinge verkomplizieren sich nicht nur dadurch, dass sich Joël in der Drogensache mit den falschen Leuten anlegt, sondern auch durch die gar nicht so heimlich Affäre, die Diana mit dem Bürgermeistersohn Serge unterhält … 
„Joël pflegte nicht nur guten Umgang, das lag auf der Hand, und Patrick hatte ihm in dieser Hinsicht nicht nachgestanden. Der Jachthafen und die paar Straßen im Umkreis brachten keine Messdiener und Kirchenleute hervor, und das war das Ergebnis, Geschichten wie aus einem Film, mit Engeln und bösen Jungs.“ (S. 60) 
Was den Umfang seiner Geschichten angeht, bewegt sich Djian weiterhin in Richtung zunehmend minimalistischer Regionen, von 280 Seiten („Marlène“) über 236 Seiten („Morgengrauen“) auf nunmehr 202 Seiten, doch qualitativ bewegen sich seine Geschichten auf etwa ähnlichem Niveau. 
Djian hat es sich angewöhnt, ohne große Einleitung gleich zur Sache zu kommen und den Plot wie ein Feuerwerk abzufackeln, ohne viel Mühe darauf zu verwenden, seinen Figuren und Lesern mal eine Ruhepause zu gönnen. Immerhin versteht er es in „Die Ruchlosen“, mit nur wenigen Skizzen sowohl Marc als auch der fast fünfzigjährigen Diana, aber auch dem vor fast einem Jahr verstorbenen Patrick, dessen Geist die Atmosphäre der Geschichte maßgeblich mitprägt, und dem zerstörerischen Joël Charakter zu verleihen. 
Die Frauenfiguren bleiben bis auf Diana aber recht blass, bleiben Sexgespielinnen oder Gefährten beim Rauchen eines Joints. Djian etabliert ein dichtes Geflecht von mehr oder weniger kranken Beziehungen, die durch den Drogendeal, Affären und schließlich Todesfälle das Drama zu einem echten Thriller werden lassen. Es ist Djians nach wie vor ungewöhnlichem sprachlichen Geschick, seiner einzigartigen Art, mit kurzen Sätzen und knackigen Dialogen Tempo zu machen, zu verdanken, dass sich „Die Ruchlosen“ sehr kurzweilig lesen lässt. 
Allerdings überschlagen sich im Finale die Ereignisse dann doch auf recht unglaubwürdige Art und Weise, die das zuvor schon bizarr anmutende Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren noch absurder erscheinen lässt. Spaß macht dieser teuflische literarische Ritt aber doch!  

Tom Franklin – „Smonk“

Montag, 23. August 2021

(Pulp Master, 307 S., Tb.) 
Mit Eugene Oregon Smonk ist wahrlich nicht zu spaßen. Seit Jahren entzieht er sich überall im Land dem Zugriff des Gesetzes, hat sich immer das genommen, wonach ihm gerade war, hat bestochen, erpresst, genötigt, in jeder Form Gewalt ausgeübt. Als ihm in der Kleinstadt Old Texas, Alabama, am 1. Oktober 1911 der Prozess gemacht werden soll, verkleiden sich sogar die Frauen als Männer, um an der Verhandlung teilnehmen zu können. Dem Gerichtsdiener Will McKissick hat der einäugige, schießwütige Farmer einst nicht nur die Arbeit, sondern auch die Frau genommen, aber so erging es vielen Männern in der Gemeinde, die auch in den Bürgerkrieg ziehen mussten und nicht mehr erlebten, wie Smonk sich um die Witwen und ihre Töchter kümmerte. 
Zum Prozess, der letztlich nicht mehr als ein Lynchmob darstellt, kommt es allerdings nicht. Smonk ist clever genug gewesen, zwei auswärtige Auftragskiller zu engagieren, die als Fotografen getarnt ihren Planwagen vor dem vermeintlichen Gerichtsgebäude platziert haben und schließlich mit ihren Maschinengewehren kurzen Prozess mit allen Beteiligten machen, die bereits mit Schürhaken, Reitpeitschen, Ziegelsteinen, Tischbeinen und Billardstöcken bewaffnet darauf warteten, das Urteil vollstrecken zu dürfen. Smonk kann also fliehen. Zwar muss er sein Glasauge im Getümmel McKissick überlassen, dafür entführt er dessen elfjährigen Sohn. 
McKissick wird vom korrupten Richter damit beauftragt, sich auf die Suche nach dem Geflüchteten zu machen. Begleitet wird er vom Schmied Gates, dessen Frau Lurleen und seine Stieftöchter ebenfalls fleischlichen Umgang mit Smonk pflegten und allesamt dem Massaker zum Opfer gefallen sind. Während sich McKissick und Gates zunächst auf den Weg zu Smonks Farm machen, jagen der christliche Sheriff Walton und seine Leute die 15-jährige, knabenhaft aussehende Hure Evavangeline, die für einen Dollar für jedermann die Beine breit macht, um zu überleben, aber auch keine Hemmungen hat, gewalttätige Männer ins Jenseits zu befördern. Gates, der vor Lurleen bereist zwei Frauen hatte und es auch mit seiner Stieftochter Clena getrieben hatte, hofft derweil, durch die Jagd auf Smonk an weitere Gelegenheiten zu kommen, sich mit dem anderen Geschlecht zu vergnügen … 
„Gates stimmte zu. Aber sein Plan – sein geheimer Plan – bestand darin, abzuwarten, bis der Gerichtsdiener Smonk umgebracht hatte, und ihm dann aufzulauern und ihn umzubringen. Und falls sie Smonk nicht fanden, was dem Schmied ganz recht wäre, hätte er immer noch das Auge als Beweis dafür, dass er Schmonk umgebracht hatte. Er malte sich aus, wie er es mehreren jungen Mädchen zeigte und wie ihre Titten seinen Oberarm streiften.“ 
Tom Franklin hatte mit der 1999 veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung „Poachers“ (die 2020 hierzulande vom Berliner Kleinverlag Pulp Master als „Wilderer“ erschienen ist) und seinem vier Jahre darauf folgenden Romandebüt „Hell at the Breech“ (der 2005 bei Heyne unter dem Titel „Die Gefürchteten“ sogar als Hardcover veröffentlicht wurde) bereits zwei gefeierte Bücher veröffentlicht und einen schönen Vorschuss auf sein nächstes Buch erhalten, als er von einer Art Schreibblockade heimgesucht wurde und eine ganz andere Art von Buch begann, das zunächst eine Art Parodie auf Cormac McCarthys „Die Abendröte im Westen“ werden sollte, aber dann einen ganz eigenen Weg einschlug, der zwar McCarthys biblischen Ton beibehielt, aber dann zu einer Western-Groteske auswuchs, in der gleich im ersten Satz verkündet wird, dass der allseits verhasste Smonk innerhalb eines Tages ermordet werden würde. 
Kurz darauf schon erlebt der Leser einen fulminanten Shoot-Out, der das Finale von Sam Peckinpahs „The Wild Bunch“ gemahnt, und eine Odyssee durch die Südstaaten, die von Tollwut, Wollust und Gewalt in allen vorstellbaren Formen geprägt ist. Hier ist jeder nur auf sein eigenes Wohl, die Befriedigung jeder Art von sexuellen Begierden aus, so dass es außer dem fast zwölfjährigen McKinnick Junior keine sympathische Figur in dem Roman gibt. 
Das ist sicher nichts für schwache Nerven und vor allem zartbesaitete Gemüter, doch die Art, wie Franklin in bester Tradition von McCarthy und Larry Brown die dunklen Seite der rauen wie schönen Südstaaten mit seiner wortgewaltigen und humorvollen Sprache aufdeckt, ist einfach ein Genuss. 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 12) „Die Schuld der Väter“

Donnerstag, 19. August 2021

(Pendragon, 468 S., Pb.) 
Im Sommer 1942 beobachteten der damals 12-jährige Dave Robicheaux und sein 15 Monate jüngerer Halbbruder Jimmie am Rande eines Parks in New Iberia, Louisiana, wie sich in einem alten Ford zwei Pärchen miteinander vergnügten, worauf ein Mann, die seine weibliche Begleitung Legion nannte, den Jungs mit seinem aufgeklappten Taschenmesser einen gehörigen Schrecken einjagte. Nun bekommt es Dave Robicheaux, mittlerweile Detective in der Sheriff-Dienststelle des Iberia Parish, erneut mit diesem unheimlich erscheinenden Mann zu tun, als er zusammen mit seiner Partnerin Helen Soileau den Mord an zwei jungen Frauen aufklären muss. 
Für die brutale Vergewaltigung und den Mord an der sechzehnjährigen weißen Einser-Schülerin Amanda Boudreau wird zunächst der 25-jährige schwarze Cajun-Musiker und Straßengauner Tee Bobby Hulin aufgrund seiner Fingerabdrücke am Tatort festgenommen und von Perry LaSalle verteidigt, doch Amandas Freund, der gefesselt worden ist, will zwei Männer mit Sturmhauben gesehen haben, die für die Tat verantwortlich gewesen sein sollen. Der großmütige Perry LaSalle, der Tee Bobbys Verteidigung übernimmt und Spross des mächtigen Plantagenbesitzers Julian LaSalle ist, strengt sich nicht besonders an, die Unschuld seines Mandanten zu beweisen. 
Die Dinge verkomplizieren sich, als mit Marvin Oates ein zwielichtiger Bibelverkäufer auftaucht und die Prostituierte Linda Zeroski ebenfalls tot aufgefunden wird, was ihren Vater, den Mafioso Joe Zeroski, dazu animiert, den Schuldigen selbst zur Rechenschaft zu ziehen. Doch ist es vor allem eine alte Geschichte zwischen Legion, der als Aufseher auf der LaSalle-Plantage berüchtigt dafür gewesen war, sich über beliebige schwarze Frauen herzumachen, und Tee Bobbys Großmutter Landice, die Licht in die Ermittlungen bringt. 
Aber auch der Clubbesitzer Jimmy Dean Styles, der als Manager von Tee Bobby fungiert, beunruhigen sowohl Dave als auch seinen besten Freund und ehemaligen Kollegen bei der Mordkommission in New Orleans, Clete Purcel. Während Purcel sich wie gewohnt mit den falschen Frauen einlässt und seine Unbeherrschtheit kaum zügeln kann, wird auch Robicheaux bei all den zwielichtigen Typen, mit denen er zu tun hat, von gewalttätigen Phantasien heimgesucht … 
„In dieser Nacht lag ich schlaflos in der Dunkelheit, während der Wind draußen durch die Bäume strich und das Laub im Sumpf im gespenstisch weißen Licht der Blitze im Süden flackerte. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt. Einmal mehr gierte ich geradezu danach, die Finger um die Griffschalen und den Abzug einer schweren, großkalibrigen Pistole zu legen, den beißenden Korditgestank zu riechen, alle Selbstbeherrschung fallen zu lassen, mich loszureißen von den Banden, die mich einschränkten und mir die Luft aus den Lungen quetschten. Und ich wusste, was ich tun musste.“ (S. 352) 
Seit James Lee Burke 1987 mit „The Neon Rain“ den ersten Krimi um den Vietnam-Veteranen und Südstaaten-Cop Dave Robicheaux veröffentlichte, bringt die mittlerweile 23 Bände (von denen noch einige auf ihre deutsche Erstveröffentlichung warten) umfassende Reihe immer wieder die besten Werke des Genres hervor. „Die Schuld der Väter“, der 12. Band der gefeierten Reihe, macht da keine Ausnahme. Burke lässt seinen Ich-Erzähler Dave Robicheaux, dessen Adoptivtochter Alafair demnächst aufs College gehen wird, einmal mehr durch die Labyrinthe menschlicher Abgründe waten. Dabei wirken die Charaktere, mit denen er und Purcel zu tun haben, so undurchsichtig, dass es auch dem Leser, der die Geschichte fast ausschließlich aus Robicheaux‘ Perspektive erzählt bekommt, schwer fällt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. 
Einzig bei dem einhellig als unheimlich und stinkenden Legion sind sich alle Beteiligten einig, dass er das pure Böse personifiziert. Burke erweist sich einmal als Meister darin, seinem Publikum nicht nur die besondere Atmosphäre der Südstaaten in seinen bildhaften Beschreibungen lebendig vor Augen zu führen, sondern mit pointierten Dialogen und vielschichtigen Beobachtungen seines Protagonisten tief in die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Wesens einzudringen und auf den Grund der Seele der vielschichtigen Figuren zu stoßen, die selten einfach nur gut oder schlecht sind, sondern von je eigenen Dämonen getrieben werden, die sie manchmal nur im Leben scheitern, manchmal aber auch extrem brutale Verbrechen verüben lassen.  

Lee Child – (Jack Reacher: 23) „Der Spezialist“

Montag, 16. August 2021

(Blanvalet, 446 S., HC) 
Seit seinem Roman- und damit gleichzeitig auch seinem Jack-Reacher-Debüt „Größenwahn“ hat sich der Brite Lee Child bereits Ende der 1990er als Bestseller-Autor etabliert. Auch nach über 20 Jahren und ebenso vielen Fällen gelingt es Child auf bemerkenswerte Weise, immer neue Plots aus dem Hut zu zaubern, die das Herz eines jeden Thriller-Fans und vor allem der Jack-Reacher-Fans höher schlagen lassen. Dabei beginnt sein 23. Abenteuer auf allzu vertraute Weise: Von einer kleinen Küstenstadt in Maine will Reacher per Anhalter eine diagonale Route nach Südwesten einschlagen, die ihn eventuell über Cincinnati, St. Louis und Albuquerque bis hinunter nach San Diego führt. Doch als er zu Beginn seines Trips auf den Wegweiser nach Laconia, New Hampshire, stößt, treibt ihn die Neugier dort hin, denn der Name ist Reacher von allen möglichen Dokumenten seiner Familiengeschichte bekannt. 
Es soll der Geburtsort seines längst verstorbenen Vaters Stan Reacher gewesen sein, der mit siebzehn zum Marine Corps gegangen war. Um mehr über seine familiären Wurzeln zu erfahren, lässt sich Reacher in einem kleinen Hotel nieder und versucht über das Archiv der Stadtverwaltung, nähere Informationen zu seinem Anliegen zu erhalten. So schnell er feststellen muss, dass sich die gewünschten Aufzeichnungen nicht so ohne weiteres einsehen lassen, gerät er auch in Schwierigkeiten. Als er nämlich eines Nachts um drei Uhr aufwacht wegen ungewöhnlicher Geräusche aufwacht und einer in Bedrängnis geratenen jungen Frau vor einem Rowdy rettet, den Reacher kurzerhand krankenhausreif schlägt, muss er mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen, die der in zwielichtigen Kreisen agierende Vater des Jungen aus Boston bestellt. 
Währenddessen führen Reachers Recherchen zu einem Ort namens Ryantown, einer Ruine mitten in den Wäldern, die auch Schauplatz weitere außergewöhnlicher Ereignisse ist. Hier haben Jack Reachers entfernter Verwandter Mark und seine Freunde ein Motel so hergerichtet, dass es den Startpunkt für ein ebenso exklusives wie mörderisches Abenteuer bildet. Mark und seine Crew halten nämlich das aus Kanada stammende Pärchen Patty Sundstrom und Shorty Fleck in Zimmer 10 gefangen, bis sechs Männer aus allen Teilen des Landes eingetroffen sind, um sich mit den beiden auf perfide Art zu vergnügen. 
„Die sechs Männer starrten sie weiter an. Offen, freimütig, gänzlich ohne Hemmungen. Von ihr zu ihm, von ihm zu ihr. Sie wogen ab, bewerteten und schätzten ein. Sie gelangten zu Schlussfolgerungen. Ein kleines Verziehen der Miene, das Befriedigung ausdrückte. Langsames Nicken bewies Anerkennung und Zustimmung. Aufblitzende Augen bewiesen Enthusiasmus.“ (S. 340) 
Interessant ist der Thriller „Der Spezialist“, der im Original treffender „Past Tense“ betitelt ist, vor allem wegen Reacher Spurensuche in eigener Sache. Wie der ehemalige Militärpolizist langsam, aber zielgerichtet seine eigene Familiengeschichte entschleiert, liest sich an sich schon wie ein Krimi, bei dem Reacher viele sympathische Kontakte knüpft. Nur wirkt der Zusammenstoß mit dem Sohn eines Gangsters in einer beschaulichen Kleinstadt wie Laconia doch arg unglaubwürdig, erhöht aber natürlich die Spannung und das Action-Level. 
Es vergeht ungewöhnlich viel Zeit, bis sich die parallel erzählte Geschichte von Patty und Shorty mit der von Reacher kreuzt. Hier zieht die Action noch mal ordentlich an, doch wirken die Ereignisse in dem abgelegenen Motel auch hanebüchen. Ärgerlich ist hier Childs Fortsetzung der analytischen Prozesse, die die Leser bislang ausschließlich von dem ehemaligen Ermittler bei der Militärpolizei kennen und die letztlich das Alleinstellungsmerkmal der Reacher-Romane darstellen. Doch mitten im Wald sind die Sägewerksangestellte und der Kartoffelbauer ebenso mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet, mit denen sie ihren Peinigern ordentlich zusetzen. 
So bietet „Der Spezialist“ zwar kurzweilige Thriller-Kost mit ungewöhnlichem Plot und interessanten Einblicken in Reachers Familiengeschichte, doch liegt der Roman eher im unteren Mittelfeld aller Reache-Romane.  

Stephen King – „Billy Summers“

Freitag, 13. August 2021

(Heyne, 720 S., HC) 
Die über 45-jährige Schriftstellerkarriere des Bestseller-Autors Stephen King wird nach wie vor mit der Bezeichnung „King of Horror“ umschrieben, doch hat der im US-Bundesstaat Maine geborene und nach wie vor lebende Schriftsteller immer wieder beeindruckende Werke jenseits des mit ihm untrennbar verbundenen Genres veröffentlicht. Nach dem mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichneten Krimi „Mr. Mercedes“ legt King mit „Billy Summers“ nun einen weiteren Roman vor, der eher in der Tradition von Charles Dickens als Edgar Allan Poe steht. 
Nachdem Billy Summers seinen Kriegsdienst als Scharfschütze im Irak abeleistet hat und mit ansehen musste, wie viele seiner Kameraden in der Hölle von Falludscha umgekommen sind, verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Auftragskiller. Durch seinen Mittelsmann Bucky bekommt Billy einen ebenso ungewöhnlichen wie lukrativen Auftrag zugeschanzt. Er soll für Nick Majarian den bekannten Frauenschläger und Mörder Joel Allen beseitigen. Der sitzt gerade in Los Angeles seine Haftstrafe ab und hofft, bei einer Anhörung vor Gericht in der Südstaaten-Kleinstadt Red Bluff einen Deal aushandeln zu können. 
Bevor es dazu kommt, soll Billy Joel Allen vom gegenüberliegenden Bürogebäude mit einem gezielten Schuss ausschalten. Dafür soll er ein fürstliches Honorar in Höhe von zwei Millionen Dollar erhalten, ein Viertel davon bei Vertragsabschluss. Da aber niemand vorhersagen kann, wann diese Anhörung stattfindet, muss sich Billy auf eine vielleicht mehrere Wochen oder gar Monate währende Wartezeit einrichten. Deshalb haben ihm seine Auftraggeber eine Tarnung als Schriftsteller mit dem Namen David Lockridge verpasst, der im Gerard Tower an seinem neuen Buch arbeitet. 
Da Billy die ganzen Umstände und die Beteiligung von zwielichtigen Geschäftsmännern wie Ken Hoff und Georgio Piglielli nicht ganz geheuer sind, reaktiviert er eine weitere Tarnung, mietet sich als Dalton Smith und in Verkleidung eine weitere unscheinbare Wohnung und findet sowohl als David Lockridge als auch als Dalton Smith schnell Kontakt zu seinen Nachbarn. Die Wartezeit bis zur Ausführung seines eigentlichen Jobs vertreibt sich Billy tatsächlich mit dem Schreiben. Da er zwar ein eifriger Leser ist und längst nicht so einfältig ist, wie er seinen Auftraggebern gegenüber erscheinen will, aber über keinerlei Erfahrung im Schreiben verfügt, beginnt er mit seiner Lebensgeschichte. Billy, der als kleiner Junge gezwungen war, den Freund seiner Mutter zu erschießen, nachdem dieser Billys Schwester Cassie den Brustkorb eingetreten hatte, schreibt vor allem seine Erlebnisse in der Army nieder und stellt fest, dass er Spaß daran hat. Schließlich rückt der Auftrag in Nähe, den Billy souverän ausführt. Den zuvor verhandelten Fluchtplan nimmt er jedoch nicht in Anspruch, sondern versteckt sich als Dalton Smith solange in seiner Tarnunterkunft, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Doch als drei junge betrunkene Männer eines Nachts die zuvor vergewaltigte Alice aus ihrem Van am Straßenrand ablegen, beginnt für Billy eine ganz außergewöhnliche Odyssee, auf der Billy sich vor allem an den Typen rächen will, die ihn reinzulegen versucht haben, sich aber auch rührend um Alice kümmert … 
„Ist es gefährlich, dass sie ihm so viel bedeutet? Natürlich ist es das. Und ist es ebenso gefährlich, was er für sie bedeutet – dass sie ihm vertraut und sich auf ihn verlässt? Natürlich ist es das. Aber wenn er sieht, wie sie so dasitzt, hat das etwas zu sagen. Falls alles danebengeht, ist das vielleicht nicht mehr so, aber momentan schon. Er hat er die Berge und die Sterne geschenkt, nicht als Besitz, sondern zum Anschauen, und das sagt viel.“ (S. 477) 
Mit „Billy Summers“ ist Stephen King ein sehr vielschichtiger Roman gelungen, der im ersten Teil die Details des Auftrags schildert, der die Geschichte ins Laufen bringt, aber – wie wir Leser bald erfahren – die eigentliche Geschichte beginnt viel früher, mit dem gewaltsamen Tod von Billys Schwester und seiner ebenso gewalttätigen Erwiderung, und setzt sich mit dem traumatischen Kriegseinsatz im Irak fort. Billy Summers wirkt dabei nicht wie ein kaltblütiger Auftragskiller, sondern fragt vor jedem Auftrag, ob es auch „schlechte Menschen“ sind, die er töten soll. 
In seiner Nachbarschaft freundet sich Billy alias David schnell nicht nur mit den Erwachsenen, sondern auch mit deren Kindern an, spielt mit ihnen Monopoly und wirkt auch sonst ganz und gar umgänglich. Im weiteren Verlauf der Geschichte rückt die schriftstellerische Arbeit des Protagonisten zunehmend in den Vordergrund. Interessant ist dabei die Tatsache, dass mit diesem Prozess nicht die Wahnvorstellungen und übernatürlichen Ereignisse verbunden sind, wie sie Kings Figuren in „Stark – The Dark Half“ oder „The Shining“ erleben. Stattdessen findet Billy durch das Schreiben zu sich selbst. Mit der Rettung der betäubten und dann vergewaltigten Alice nimmt die Geschichte eine weitere Wendung, denn nun geht es nicht nur darum, dass Billy die ihm noch zustehenden 1,5 Millionen Dollar von seinen Auftraggebern eintreibt, sondern die Beziehung zu Alice in seinem Leben richtig einordnet. Obwohl Billy sich selbst und auch Bucky als „schlechte Menschen“ bezeichnet, gewinnen sie nicht zuletzt durch ihre Art, wie sie Alice wieder aufpäppeln, die Sympathien des Publikums. 
Stephen King entwickelt hier einen wohltuenden Gegenentwurf zu Trumps Amerika der Hetze und des Hasses, lässt Tugenden wie Nachbarschaftshilfe und Nächstenliebe aufleben, bevor im letzten Teil des Romans die Rachegeschichte in den Vordergrund rückt, in der die Bösen nach und nach dezimiert werden. Hier kommen übrigens mit kleinen Verweisen auf das Overlook-Hotel („Shining“) die einzigen Ansätze übernatürlicher Elemente ins Spiel. 
Davon abgesehen stellt „Billy Summers“ einfach eine packende Geschichte dar, die verschiedene Genres wie Bildungs- und Entwicklungsroman, Krimi und Rachethriller, ja sogar etwas Liebesdrama geschickt miteinander verbindet.  

Jim Thompson – „Der Mörder in mir“

Dienstag, 3. August 2021

(Diogenes, 234 S., Tb.) 
Lou Ford ist ein junger Deputy Sheriff in der texanischen Kleinstadt Central City, wo er allein in dem Haus seines verstorbenen Vaters, einem Arzt, lebt. Nach außen hin wirkt der umgängliche Ford wie die Verkörperung guter Manieren und wird von seinem Vorgesetzten, Sheriff Bob Maples, wegen seiner empathischen Art gern für Verhöre von Verdächtigen eingesetzt, um ihnen ein Geständnis zu entlocken. Niemand weiß allerdings, dass er sich als Vierzehnjähriger mit dem Hausmädchen vergnügt hatte, was sein Vater zwar mitbekam, stattdessen aber Lous zwei Jahre älteren, nichtsnutzigen Ziehbruder Mike für die Schandtat büßen ließ. 
Jahre später verunglückte Mike auf einer Baustelle der Firma von Chester Conway, weshalb Lous Vater vor Gram starb und in Lou einen unbändigen Hass auf den mächtigen Bauunternehmer entflammen ließ. Nach fünfzehn Jahren überkommt Ford ein ähnliches Verlangen, als er die Prostituierte Joyce Lakeland kennenlernt und sie nach einer kurzen Liaison mit ihr ins Koma prügelt. Doch sie bleibt nicht sein einziges Opfer. Aus Rache an Conway lässt Lou Ford auch dessen Sohn Elmer über die Klinge springen, und Lous Freundin, die attraktive Lehrerin Amy, geht dem jungen Deputy Sheriff mit ihrem Heiratsgeschwätz so auf die Nerven, dass auch sie mit ihrem Leben spielt. Doch mit seiner lockeren Art kommt Lou scheinbar überall durch, auch wenn einige mächtige Leute wie Staatsanwalt Howard Hendricks oder der mächtige Gewerkschaftsboss Joe Rothman schon einen Verdacht hegen, dass hinter den ganzen Unglücksfällen in der Stadt mehr steckt, als jedermann ahnt … 
„Die dummen Sprüche passten zu dem etwas vertrottelten, gutmütigen Typ, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Rothman hatte selbst gesagt, dass, ganz egal wie verrückt das Ganze schien, die Vorstellung, ich sei der Mörder, noch verrückter wäre. Und meine Sprüche waren einfach ein Teil von mir – das heißt ein Teil von dem Mann, der sie alle in die Irre geführt hatte. Was würden die Leute denken, wenn ich auf einmal Schluss mit dem Sprücheklopfen machte?“ (S. 92) 
Mit seinem vierten Roman hat der 1906 geborene und 1977 völlig verarmt verstorbene Schriftsteller Jim Thompson 1952 ein Highlight des Noir-Genres abgeliefert. Mit dem nicht mal dreißigjährigen Lou Ford hat Thompson einen Ich-Erzähler etabliert, der nicht von ungefähr zwei Seelen in sich trägt – die des charmanten, höflichen und rechtschaffenen Gesetzeshüters und die des raffinierten Killers -, denn laut eigenen Studien anhand der Bücher seines Vaters leidet Lou Ford an paranoider Schizophrenie. Angetrieben von dem Trauma aus seiner Kindheit, dem daraus resultierenden Kontrollzwang seines Vaters und dem Hass auf den skrupellosen Baulöwen Conway beseitigt Lou Ford nicht nur systematisch alle Menschen, mit denen er auf welch verschrobene Weise auch immer über Kreuz liegt, sondern lässt dafür auch noch Unschuldige die Suppe auslöffeln. 
Es ist Thompsons klarer Sprache und seinem schnörkellos krassen Stil zu verdanken, dass der Leser gebannt den brutalen Verbrechen des Ich-Erzählers folgt, der überhaupt keine Gewissensbisse verspürt. Doch Lou Ford ist bei weitem nicht die einzige Figur mit fragwürdigen Moralvorstellungen. Gerade die Männer in Machtpositionen, die mit dem jungen Gesetzeshüter ihre Spielchen treiben wollen, kommen noch weniger sympathisch rüber als der skrupellose Killer, der ungerührt von seinen Taten berichtet und seine verqueren Motive so überzeugend darlegt, dass man ihn als Beobachter eigentlich nur beipflichten kann und so schon fast zum Komplizen wird.