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Abi Andrews – „Wildnis ist ein weibliches Wort“

Freitag, 12. Oktober 2018

(Tempo, 400 S., HC)
Die 19-jährige Engländerin Erin packt die Abenteuerlust. Zwar sind ihr auch die Namen von einigen wenigen Frauen wie dem Cowgirl Calamity Jane, der Weltreisenden Nellie Bly und der Forschungsreisenden Mary Kingsley bekannt, aber allzu schmerzlich bewusst ist ihr die Tatsache, dass das Abenteuer fest in der Hand von Männern wie Chris McCandless, Jack London, Henry David Thoreau oder Jack Kerouac zu sein scheint.
Nach dem Abitur hat sie das durch verschiedene Jobs verdiente Geld gespart, um damit die Reisekosten abzudecken, die für ihre Route über Island, Grönland, Kanada bis nach Alaska und wieder zurück anfallen. Sie ist zu Fuß, per Schiff und Anhalter, auf Hundeschlitten und Fischerbooten unterwegs und lernt die verschiedensten Menschen kennen, bringt sich als allein reisende Frau natürlich auch in Gefahr.
Ihre Erlebnisse hält sie mit der Kamera fest, um einen Dokumentarfilm zu drehen, vor allem sinniert sie über Weltraumabenteuer, die Kommunikation zwischen Delfinen, Zeitkapseln, spirituelle Wesen, Seelenwanderung und den Unabomber Ted Kaczynski. Die Begegnung mit einem Grizzly-Bär ist eine der vielen Momente, die einen tiefen Eindruck bei Erin hinterlassen.
„Noch nie hatte ich so unmittelbar und instinktiv gespürt, was es heißen würde, nicht lebendig zu sein. In dem Augenblick wurde mir klar, dass alle Nostalgie, die Der Ruf der Wildnis in uns hervorruft, der Verlustschmerz über das ist, woran wir uns erinnern und was uns fehlt, dort wo wir sind, bevor wir uns auf die Suche danach begeben.“ (S. 264)
Die in London lebende Autorin Abi Andrews bricht in ihrem Debütroman „Wildnis ist ein weibliches Wort“ eine Lanze für den Feminismus. Der Trip in die Wildnis von Alaska, den ihre gerade mal 19-jährige Protagonistin Erin unternimmt, dient dabei als Plot-bildendes Gerüst, an dem sich Erin mit ihren philosophischen Betrachtungen entlanghangelt. Gleich zu Beginn stellt Erin fest, dass Wildheit nicht wie bei Männern Autonomie und Freiheit bedeutet, sondern als „irrationales Fieber“ betrachtet wird. Dem setzt die Abenteuerin einen konkreten Fünf-Punkte-Plan entgegen, zu dem das Lesen vieler aufschlussreicher Bücher, das Eintauchen in die Geschichte und Kultur jedes Ortes, das Lernen wichtiger Sätze in jeder Sprache und das tagtägliche Schreiben gehören.
So erfährt sie von ihrer ersten Reisegefährtin Urla, dass Island in Europa eine Vorreiterrolle für die Durchsetzung der geschlechtlichen Gleichberechtigung einnimmt, die sich vor allem in der Lohngleichheit manifestiert, aber auch in der Tatsache, dass Island 1980 als erstes europäisches Land eine Frau zur Präsidentin gewählt hat und eine Bischöfin das Oberhaupt ihrer Staatskirche ist. Erin will die Natur und die Landstriche, die sie bereist, nicht erobern, was die Männer im imperialistischen Zeitalter angetrieben hat, die koloniale Ausbeutung voranzutreiben und überall ihre Fähnchen reinzustecken. Sie will nur unaufdringlich die Natur erforschen, ohne ihr einen Stempel aufzudrücken, im Augenblick präsent und Dinge vermitteln, die sonst niemand verstehen würde.
In Kanada stellt Erin schließlich fest, dass Naturparks das implizite Eingeständnis darstellen, dass die Natur zerfällt, und ein vergeblicher Versuch, sie zu konservieren. Diese Art von Beobachtungen und Gedankengängen ziehen sich wie ein roter Faden durch die 400 Seiten eines Trips, der allerdings nur in selten erscheinenden Momenten als körperlich anstrengende Reise geschildert wird, sondern vielmehr als Inspiration zur Verbreitung nicht nur feministischer Überzeugungen dient und vor allem als eindringlicher Appell zum Schutz natürlicher Ressourcen gedacht ist.
Wer nur ein weibliches Gegenstück zu Jon Krakauers „Into The Wild“ erwartet, wird sicherlich enttäuscht, denn die in ihrer verdichteten Masse schon recht penetranten Gedanken, Aufklärungen und Belehrungen schießen als Ganzes doch etwas über das Ziel hinaus.

Gay Talese – „High Notes“

Samstag, 31. März 2018

(Tempo, 368 S., HC)
Warum der 1932 in Ocean City geborene Gay Talese zu den Mitbegründern des literarischen Journalismus zählt, haben die deutschen Leser im vergangenen Jahr durch die bei Tempo/Hoffmann und Campe erschienene Reportage „Der Voyeur“ eindrucksvoll nachvollziehen können. Auch wenn sich der Autor mittlerweile wegen Zweifel an seiner Quelle von seinem eigenen Buch distanziert, gelang Talese nicht nur das aufschlussreiche Portrait eines Mannes, der in seinem Motel Vorkehrungen getroffen hat, unbemerkt das Sexualleben seiner Kunden zu beobachten, sondern gewährte auch einen faszinierenden Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner, das sich durch die Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung nachhaltig gewandelt hat.
In dem nun veröffentlichten Sammelband „High Notes“ sind nun einige von Gay Talese wichtigsten Reportagen zusammengefasst, darunter die berühmteste, im Esquire veröffentlichte „Frank Sinatra ist erkältet“, die deshalb so beeindruckend ist, weil Taleses Story entstanden ist, ohne dass der Autor den berühmten Sänger und Schauspieler getroffen hat, und trotzdem ein sehr intimes Portrait des Stars zeichnet, weil Talese sich die Mühe gemacht hat, nahezu alle wichtigen Leute aus Sinatras Umfeld zu interviewen.
Seit Talese in den frühen 1960er Jahren für die New York Times zu schreiben begonnen hat, hat er seine berühmtesten Reportagen für den Esquire verfasst, dazu Bücher wie „Ehre deinen Vater“ (über einen Mafia-Clan) und „Du sollst begehren“ (über die sexuelle Revolution) veröffentlicht.
Nach einem Vorwort von Lee Gutkind, der anhand einiger Beispiele Taleses außergewöhnliche Qualitäten als Reporter verdeutlicht, erzählt Talese in „Ein Sonntag zu Kriegszeiten“ zunächst von seinen eigenen Kindheitserinnerungen und Erlebnissen als ungeschickter Messdiener und einer ungewöhnlichen Begegnung mit dem berühmten New Yorker Baseball-Schlagmann Joe DiMaggio. Tiefe Einblicke in die Geschichte einer Mafia-Familie gewährt „Das Verschwinden Joe Bonannos“, während „Charlie Mansons Ranch im Westen“ von der Erinnerungen eines gewissen George Spahn erzählt, der auf seiner Ranch immer wieder Hippies zu Besuch hatte, darunter auch zeitweise Charlie Manson mit seinen AnhängerInnen.
Mit der 80-seitigen Reportage „Das Reich, die Macht und die Herrlichkeit der New York Times bringt uns Talese nicht nur die internen Strukturen der einflussreichen Tageszeitung nahe, sondern vor allem die charismatischen Figuren, die die Zeitung geprägt haben und Zeugnis davon ablegen, mit welchem Anspruch sie Journalismus betrieben haben. Besonders aufschlussreich ist der recht kurze Artikel „Über die Arbeit an ‚Frank Sinatra ist erkältet‘“, in der Talese die näheren Umstände seiner Arbeit an der Reportage beschreibt, aber auch verdeutlicht, dass die besten Autoren damals oft Wochen und Monate mit Recherchen, Gliederung, Schreiben und Überarbeiten verbracht haben. Über seine eigene Arbeitsweise schreibt Talese:
 „Was mich seit meinen Anfängen als Journalist schon immer interessierte, sind weniger die genauen Worte, die jemand äußert, als deren tiefere Bedeutung. Wichtiger als das, was Leute sagen, ist das, was sie denken, selbst wenn sie es zunächst kaum auszudrücken vermögen und es dem Interviewten eine Menge Grübelei und Selbstbefragung abverlangen mag – ein Prozess, den ich mit meiner Art zu fragen, ihnen näherzukommen und mich in sie hineinzuversetzen, behutsam anzustoßen versuche.“ (S. 217f.) 
Nicht alle hier versammelten kurzen wie langen Artikel und Reportagen mögen für das deutsche Publikum von Interesse sein, aber sie machen deutlich, wie gut sich Talese in die Menschen einfühlen kann, über die er schreibt. In der abschließenden Titelstory „High Notes“ lässt die Reporterlegende beispielsweise die besondere Atmosphäre in dem Studio spüren, in dem der fast 85-jährige Tony Bennett für sein Album mit Duetten, „Duets II“, mit Lady Gaga den Song „The Lady Is a Tramp“ einsingt.
Wer also den New Journalism von Truman Capote, Hunter S. Thompson und Tom Wolfe schätzt, kommt auch an Gay Talese nicht vorbei.

Katherine Heiny – „Gemischte Gefühle“

(Tempo, 350 S., HC)
Fast zwölf Jahre schon sind Graham und Audra miteinander verheiratet, und Graham wundert sich noch immer, wie seine 41-jährige Frau immer und überall mit jedem über alles Mögliche plaudern und auch aus dem Stehgreif die irrwitzigsten Lügengeschichten aus dem Hut zaubern kann, wobei sie die kleinsten Informationen abspeichert. Wenn er seine Frau so im Alltag beobachtet, denkt Graham oft, dass sich Audra und er in Paralleluniversen befinden, denn oft genug verblüfft Audra ihn mit irrwitzig anmutenden Äußerungen, Beobachtungen und vor allem Handlungen.
So hat sie vor drei Wochen in einem Restaurant in Midtown den Mann der ungefähr fünfzigjährigen Bitsy (die sie nur von ein paar Treffen im Buchclub kennt) mit einem Mädchen im Minirock entdeckt, worauf sich der Mann (den Audra ebenfalls nur von einem Buchclub-Treffen her kennt, das bei Bitsy zuhause stattfand, und der als Banker arbeitet) für eine einmonatige Kreativpause nach Ithaca zurückgezogen hat. Aus ihrem Mitgefühl heraus hat Audra kurzerhand Bitsy vor drei Wochen bei sich zuhause aufgenommen. Immerhin kümmert sich Bitsy rührend um Grahams und Audras Sohn Matthew, der unter dem Asperger-Syndrom leidet und nur schwer Freunde findet. Doch dann entdeckt Graham Hinweise, dass Audra eine Affäre haben könnte, und spioniert ihr nach.
„Ach ja, Handys. Manchmal wünschte sich Graham, er hätte eine Affäre, nur damit er von den Annehmlichkeiten seines Handys profitieren konnte. (In etwa so, wie er manchmal mit dem Skifahren anfangen wollte, jetzt, wo es Fleece-Mützen gab, die nicht so juckten wie Wollmützen.) Aber was, wenn die eigene Frau schon immer an ihrem Handy gehangen hatte? Sie hatte auch immer am Festnetz gehangen! Audra vorzuwerfen, sie habe eine Affäre, weil sie zu viel telefoniere, wäre wie Tiger Woods vorzuwerfen, er habe eine Affäre, weil er zu viel Golf spielte. (Obwohl Tiger Woods hier vielleicht nicht der beste Vergleich war.)“ (S. 145) 
Er selbst baut unterdessen wieder eine Beziehung zu seiner eigentlich eher spröden, sehr auf Ordnung und Sauberkeit bedachten Ex-Frau Espeth auf, die er zufällig wiedertrifft und der er eine neue Wohnung besorgt. Aus den anfänglichen Vierer-Dates mit ihrem neuen Freund entwickelt sich schließlich eine ungewöhnliche Dynamik. Aber Graham und Audra haben nicht nur mit weiteren Mitbewohnern (wie dem Nachmittagsportier Julio) zu tun, die Audra immer so freigiebig einlädt, sondern auch mit angestrengten Bemühungen, Matthew wieder glücklich zu machen, nachdem sich sein einziger Freund Derek von ihm abgewendet hat.
Die Aufnahme von Matthew in den ambitionierten Origami-Club von Clayton und Manny scheint da nicht die Lösung zu sein …
Nachdem die in Washington, D.C., lebende Katherine Heiny mit „Glücklich, vielleicht“ ihr Debüt als Geschichtenerzählerin feierte, legt sie nun mit „Gemischte Gefühle“ ihren ersten Roman vor. Darin beschreibt sie mit viel Humor die vielschichtigen Gefühle, die sich im Laufe einer langjährigen Ehe entwickeln. Auch wenn er nicht als Ich-Erzähler auftritt, wird die Geschichte aus Grahams Perspektive erzählt, wobei Graham ebenso einfühlsam wie mit bissigem Humor die besonderen Eigenheiten seiner Frau ebenso beschreibt wie seine eigenen, eben sehr gemischten Gefühle bei dem, was er im Zusammenleben mit ihr beobachtet.
Heiny deckt dabei alle emotionalen Tiefen und Wirrungen ab, die das menschliche Herz im Beziehungsmodus zu empfinden vermag, zieht diese aber bei aller lakonischer Leichtigkeit nie ins Lächerliche, sondern bewegt sich einfach weiter unbeschwert zur nächsten Irritation.
Der erfrischende Humor macht das Lesen zu einer kurzweiligen, erfrischenden Angelegenheit, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Heiny mit ihrem Roman durchaus profunde Wahrheiten über das Beziehungsleben moderner Menschen offenbart.

Kat Kaufmann – „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“

Dienstag, 23. Mai 2017

(Tempo, 271 S., HC)
Von seinem Opa Ernst erbt Jonas einen Umschlag mit 5000 Euro und einer in zittriger, kaum leserlicher Schrift verfasster Botschaft: „Moskau, Finde diesen Mann! Finde ihn und …“ Ob es diesen Valeri Butzukin überhaupt gibt, fragt sich Jonas, denn bei Google scheint er nicht zu existieren. Dennoch wagt er sich auf eine abenteuerliche Odyssee, als er feststellt, dass die seit fünf Monaten laufende Beziehung mit Sina nicht das Wahre ist, seine Mutter ihm in fünfundzwanzig Jahren vorenthalten hat, wer sein Vater ist, und sie davon ausgeht, dass er kurz vor Abschluss seines Examens steht, für das er sich aber gar nicht angemeldet hat.
In dem russischen Club Lavka erkundigt sich Jonas nach einem Pass und lernt die beiden Chaoten Juri und Stas kennen. Zusammen machen sie Nägel mit Köpfen: Jonas fackelt seine eigene Bude ab und reist mit den beiden jungen Männern nach Moskau, wo er sich in einem Club in Yulia verliebt. Doch das ist erst der Anfang eines wahnwitzigen Trips, bei dem Jonas nicht nur mit der Möglichkeit eines neuen Kalten Krieges, sondern auch mit seiner Einsamkeit konfrontiert wird.
„Du weißt nichts von deinem Opa, außer dass er ein Spitzenopa war, dein einziger wirklicher Freund, und den Faustkampf mochte. Du weißt gar nichts von deiner Familie. Weder von deinem Urgroßvater noch von sonst wem. Weil dein ganzes Leben schon immer nur aus Anne und Ernst bestanden hat, und, irgendwie dazwischen, halt Peter. Die anderen wurden nur namentlich erwähnt. Es gab sie nicht.“ (S. 156) 
Für ihren ersten Roman „Superposition“ wurde die aus Sankt Petersburg stammende und in Berlin lebende Autorin, Fotografin und Komponistin Kat Kaufmann 2015 mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Entsprechend ambitioniert präsentiert sich die Tochter eines Regisseurs und einer Balletttänzerin auch in ihrem neuen Roman mit dem programmatischen Titel „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“.
Schon der Prolog fordert dem Leser einiges an Aufmerksamkeit, Konzentration und Geduld ab. Statt klar strukturierter Sätze in einfacher Sprache wird der Leser mit den in zweiter Person verfassten Monologen des Protagonisten konfrontiert, der scheinbar dem Wahnsinn nah zu sein scheint. Dabei hat die Geschichte durchaus das Potenzial, anhaltendes Interesse zu wecken, denn der wieder stärkere Konflikt zwischen Russland und dem Westen nimmt in Kaufmanns Buch sehr konkrete Formen an, wie die gelegentlich platzierten Nachrichten vor Augen führen, die als Lauftext in den Fußzeilen über mehrere Seiten eingefügt sind. Auch die Dialoge wirken stellenweise authentisch und amüsant, können aber keine Konstanz in der sehr wechselhaften Erzählstruktur erzeugen.
So interessant die Figuren und ihre Schicksale auch sein mögen, werden sie doch nicht tiefergehend gezeichnet. Indem die durchaus talentierte und auf unorthodoxen Pfaden wandernde Autorin ihre Geschichte immer wieder ihren Sprachkapriolen opfert, entwickeln Jonas und seine Gefährten keine Identifikationspotenziale, noch vermag der holprig inszenierte Plot eine dramaturgische Spannung erzeugen.

Gay Talese – „Der Voyeur“

Dienstag, 25. April 2017

(Tempo, 224 S., HC)
Als Gerald Foos erfährt, dass der renommierte Autor Gay Talese („Ehre deinen Vater“) in seinem nächsten Buch „Du sollst begehren“ eine landesweite Studie zum Sexualleben der Amerikaner thematisiert, schreibt er ihm im Januar 1980 einen Brief, in dem er wichtige Informationen zum Thema anbietet. Seit fünfzehn Jahren sei Foos nämlich mit seiner Frau Donna Besitzer eines kleinen Motels in Aurora, Colorado, dessen Kundenstamm als repräsentativer Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung gelten darf. Das Besondere an den einundzwanzig Zimmern des mittelständischen Hauses sind die speziell angefertigten Lüftungsgitter in der Decke, die es Foos erlauben, seine voyeuristischen Neigungen zu befriedigen und dabei die Frage zu beantworten, wie sich Menschen in ihrem ganz privaten Umfeld sexuell verhalten.
Foos hat seit den späten 1960er Jahren präzise Aufzeichnungen über seine Beobachtungen angestellt und diese analysiert. Foos ist fest davon überzeugt, dass seine Notizen von großem Interesse sowohl für die Menschheit im Allgemeinen als auch für Sexualforscher im Besonderen sein könnten.
Talese selbst ist allerdings skeptisch. Ihm ist klar, dass er, wenn er Foos‘ Story veröffentlichen würde wollen, auch dessen tatsächlichen Namen nennen müsste, aber dadurch würde Foos in den Fokus der Strafverfolgung rücken. Tatsächlich trifft sich Talese mit dem Voyeur und lässt sich Foos‘ Aufzeichnungen in kleinen Teilen zukommen. Darin beschreibt Foos ausführlich die Sexualpraktiken seiner von ihm ausspionierten Gäste, konventionellen Sex zwischen Ehepartnern oder Geliebten, gleichgeschlechtlichen Sex, Gruppensex, Masturbation, einen signifikanten Anstieg von Oralsex nach dem Kinoerfolg des Pornofilms „Deep Throat“ (1972).
Bei der Durchsicht von Foos‘ Aufzeichnungen stellt sich Talese aber auch einige Fragen:
„Wieso hat er all das schriftlich festgehalten? Genügt es einem Voyeur nicht, Lust zu verspüren und ein Gefühl der Macht zu empfinden? Wozu der Akt der Niederschrift? War das eine Form der Kontaktaufnahme, indem Voyeure sich anderen offenbarten, wie es Foos zuerst mit seiner Frau und dann mit mir getan hatte, um sich schließlich als anonymer Chronist an ein größeres Publikum zu wenden?“ (S. 91) 
Talese, der in den frühen 1960er Jahren für die The New York Times geschrieben hatte, für seine im Esquire veröffentlichten Portraits über Joe DiMaggio, Dean Martin und Frank Sinatra berühmt geworden ist und als Mitbegründer des literarischen Journalismus zählt, zitiert in seinem Buch „Der Voyeur“ nicht nur ausführlich aus Foos‘ Briefen und Aufzeichnungen, sondern rekapituliert auch den persönlichen Hintergrund von Gerald Foos und muss immer wieder feststellen, dass er seiner Quelle nicht unbedingt glauben kann.
Immer wieder stößt er auf Ungereimtheiten in Foos‘ Darstellungen. Das betrifft vor allem einen Vorfall, der sich 1977 ereignet haben soll, bei dem Foos den Mord an einem seiner weiblichen Gäste beobachtet haben will. Zunächst dachte er, dass die Frau noch lebt, am nächsten Morgen wurde sie allerdings tot aufgefunden. Merkwürdig ist nur, dass Talese bei seinen Recherchen später keine Aufzeichnungen weder in den Medien noch bei den zuständigen Polizeistellen fand. Talese selbst wird, nachdem er in einem „New Yorker“-Artikel über sein geplantes Buch berichtet, vorgeworfen, durch sein Schweigen zu einem Mitverschwörer geworden zu sein.
Das Thema ist bei aller Unsicherheit über die Echtheit aller geschilderten Daten dennoch so interessant, dass Steven Spielberg sich sogleich die Filmrechte sicherte. Man mag von der voyeuristischen Praxis, die hier ausführlich geschildert wird, halten, was man will, aber „Der Voyeur“ bietet tatsächlich einen interessanten, gut geschriebenen Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner und den Wandel, den der Sex durch die Erfindung der Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung erfahren hat.