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Dennis Lehane – „Sekunden der Gnade“

Sonntag, 27. August 2023

(Diogenes, 400 S., HC) 
Dennis Lehane weiß, wie man filmreife Geschichten schreibt. Sein 2001 veröffentlichter Roman „Mystic River“ wurde von Clint Eastwood verfilmt, „Shutter Island“ von Martin Scorsese, „Gone Baby Gone“ und „Live by Night“ von Ben Affleck. Dazu schrieb der in Boston geborene und lebende Schriftsteller die Drehbücher zu einigen Folgen von „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“. Mit seinem neuen Roman lässt Lehane eigene Kindheitserinnerungen aufleben, nämlich die Unruhen, die sich im Zuge kontroverser Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung im Jahr 1974 ereigneten. 
Obwohl die 42-jährige Krankenhaushelferin Mary Pat Fennessy Extraschichten in dem Lager der Schuhfabrik eingelegt hat, in dem sie ihrem Zweitjob nachgeht, reicht es nicht, um die Gasrechnung zu bezahlen. Doch mehr Sorgen bereitet ihr der Umstand, dass ihre 17-jährige Tochter Jules eines Nachts nicht nach Hause zurückgekommen ist. Nachdem sie bereits ihren Sohn nach seiner Rückkehr aus Vietnam durch eine Überdosis Drogen verloren hat, ist Jules noch alles, was der Alleinerziehenden im Leben geblieben ist. Mary Pat grast ihre Nachbarschaft in Commonwealth ab, verfolgt nebenbei die geplanten Protestaktionen gegen die richterliche Anordnung, dass im kommenden Schuljahr Kinder aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel gebracht werden sollen. Das betrifft vor allem die beiden Schulen mit der größten afroamerikanischen (Roxbury High School) und mit der größten weißen Schülerschaft (South Boston High School). 
Die Proteste werden von dem Tod des 20-jährigen schwarzen Jungen Augustus Williamson überschattet, dessen Wagen in dem falschen Viertel liegengeblieben war, worauf er in der Columbia Station von einer U-Bahn erfasst worden ist. Als Mary Pat Jules‘ Freunde über den Verbleib ihrer Tochter ausfragt, bekommt sie nur ausweichende Antworten, bis sie erfährt, dass Jules ein Verhältnis mit dem verheirateten Gangster Frank „Tombstone“ Toomey hatte, was ihr offensichtlich am Ende das Leben kostete. 
Nachdem Mary Pat nichts mehr zu verlieren hat, macht sie Jagd auf die Mörder ihrer Tochter und schreckt vor nichts zurück. Selbst der ihr wohlgesinnte Cop Bobby Coyne vermag den Rachefeldzug der verzweifelten Mutter nicht stoppen, zweifelt auch er an der Gerechtigkeit in der Welt. 
„Vier schwarze Jugendliche, die einen weißen vor einen Zug treiben, müssten mit Lebenslänglich rechnen. Bekannten sie sich schuldig, würden bestenfalls zwanzig Jahre strenger Haft daraus. Aber den Kids, die Auggie Williamson vor den Zug gehetzt hatten, drohten nicht mehr als fünf Jahre. Höchstens. Und manchmal schlaucht es, an diese Diskrepanz zu denken.“ (S. 155) 
Dennis Lehane hat im Alter von neun Jahren miterlebt, wie sein Vater auf der Heimfahrt nach Dorchester in South Boston eine falsche Abzweigung genommen und auf Southies Hauptgeschäftsstraße in eine Protestaktion gegen die Einführung von Schultransporten zur Aufhebung der Rassentrennung gekommen war. Dieser Moment erfüllte den jungen Lehane mit so viel Angst, dass er nun passend zum 60. Jahrestag der berühmten „I Have a Dream“-Rede von Bürgerrechtler Martin Luther King einen bewegenden Kriminalroman über den leider nach wie vor nicht aus der Welt geschafften Rassismus und seinen Folgen geschrieben hat. 
Vor dem Hintergrund der sehr plastisch beschriebenen Protestaktion inszeniert der Autor einen filmreifen Plot, bei dem zwar die Morde an einem jungen Schwarzen und einer noch jüngeren Weißen im Mittelpunkt stehen, doch Lehane nutzt dieses Szenario geschickt, um die Ressentiments sowohl der Weißen als auch der Schwarzen gegeneinander zu thematisieren, ohne selbst explizit Stellung zu beziehen. „Sekunden der Gnade“ erzählt von den Folgen einer fehlgeleiteten Erziehung, bei der die „Anderen“ aus Gewohnheit diffamiert werden. Er erzählt von Hass, Gewalt, Drogen- und Waffengeschäften. 
Mit Mary Pat hat er eine komplexe Protagonistin erschaffen, die selbst von Kindheit an mit Gewalt konfrontiert gewesen ist und mittlerweile selbst hart zuzuschlagen versteht. Sie kann sich selbst nicht von rassistischen Ressentiments freisprechen und ist voller ambivalenter Gefühle wie Hass und Mitgefühl, was die Figur so interessant macht. 
Im nachfolgenden Interview sagt Lehane: „Ich fühle mich vom Bösen in den guten Menschen und vom Guten in den schlechten Menschen angezogen, weil die wenigsten von uns etwas anderes sind als ein kompliziertes Sammelsurium von Motiven und Begierden.“ 
Diese Vielschichtigkeit macht auch „Sekunden der Gnade“ aus, der sich als fesselndes Kriminaldrama ebenso gut liest wie als profunde Milieu- und Gesellschaftsstudie mit nach wie vor erschreckend aktuellem Bezug. 

 

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 5) „Kalt wie dein Herz“

Mittwoch, 25. Mai 2022

(Diogenes, 512 S., Pb.) 
Auch wenn Dennis Lehane hierzulande vor allem wegen seiner erfolgreich verfilmten Romane „Mystic River“ (Clint Eastwood, 2003), „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ (Ben Affleck, 2007) und „Shutter Island“ (Martin Scorsese, 2009) bekannt geworden ist, gingen seine Bücher in seiner US-amerikanischen Heimat schlagartig häufiger über den Ladentisch, als Bill Clinton dabei gesehen wurde, wie er beim Aussteigen aus der Air Force One Lehanes Roman „Prayers for Rain“ in der Hand hielt. Es war der bereits fünfte, 1999 veröffentlichte Roman in der Serie um die Privatermittler Patrick Kenzie und Angela Gennaro, der hierzulande erstmals im Jahr 2001 unter dem Titel „Regenzauber“ erschien und nun in neuer Übersetzung von Peter Torberg als „Kalt wie dein Herz“ im Diogenes Verlag vorliegt. 
Im Februar empfing Patrick Kenzie zusammen mit seinem Kumpel Bubba die Klientin Karen Nichols, die sich von einem Stalker namens Cody Falk belästigt fühlte. Kenzie und sein schlagkräftiger Kumpel statteten Falk, der bereits einige Anzeigen wegen Körperverletzung und Vergewaltigung auf seinem Konto aufwies, einen Besuch ab, der zur Folge haben sollte, dass Falk Karen Nichols in Ruhe ließ. Alles schien in Ordnung zu sein, doch nach ungefähr vier Wochen hinterließ Nichols eine Nachricht auf Kenzies Anrufbeantworter, auf die sich der Privatermittler nicht zurückmeldete, weil er mit seiner gerade angesagten Liebschaft, der Rechtsanwältin Vanessa Moore, auf die Bahamas fliegen wollte. Monate später erfährt Kenzie aus dem Radio, dass seine frühere Klientin nackt von der Aussichtsplattform des Costum House in den Tod gesprungen ist. 
Als sich Kenzie vor allem aus Schuldbewusstsein mit den näheren Umständen von Nichols’ Tod befasst, stößt er auf die Nachricht, dass ihr Freund David Wetterau in der Rushhour bei Rot über eine Straße ging, stolperte und von einem Auto so unglücklich erfasst wurde, dass er seitdem im Koma liegt. Karen Nichols fiel anschließend in ein tiefes seelisches Loch, verlor erst ihre Arbeit, dann ihr Auto und schließlich auch ihre Wohnung, danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt, mietete sich ein Motelzimmer und verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. 
Für weitere Ermittlungen schließt sich Kenzie mit seiner alten Partnerin und Lebensgefährtin Angie Gennaro zusammen, die nach dem letzten desaströs verlaufenden Fall aus Kenzies Wohnung und Leben verschwunden ist, aber offenbar hängen die beiden noch sehr aneinander. Als sie Nichols‘ Mutter Carrie und Stiefvater Christopher Dawe aufsuchen, entfaltet sich allmählich das ganze Ausmaß der Tragödie, die mit einem Kindestausch begann und über den Tod von Karens Schwester über Erpressung führte. Dabei scheint auch Nichols‘ Psychiaterin Dr. Diane Bourne nicht ganz unschuldig gewesen zu sein, die nicht nur Beziehungen zu ihren Patienten und ihrem Sekretär Miles Lovell unterhielt, sondern auch vertrauliche Informationen durchsickern ließ. Schließlich stoßen Kenzie und Gennaro auf einen Psychopathen, der vor wirklich nichts zurückschreckt, um die Dawe-Familie zu vernichten. 
„Ich wusste nicht viel über ihn – wusste nicht, wie er hieß oder wie er aussah -, aber so langsam bekam ich ein Gespür für ihn. Es handelte sich, da war ich mir sicher, um den Mann, den Warren Martens im Motel gesehen und als denjenigen beschrieben hatte, der die Fäden in der Hand hielt. Er hatte Karen Nichols vernichtet, und nun hatte er Miles Lovell vernichtet. Seine Opfer einfach nur umzubringen schien ihn zu langweilen – stattdessen zog er es vor, sie in einem Zustand zurückzulassen, in dem sie sich selber wünschten, tot zu sein.“ (S. 249) 
Lehanes 1994 begonnene und sechs Bände umfassende Reihe um Kenzie und Gennaro zählt zu den besten Krimi-Serien überhaupt. Mit „Gone Baby Gone“ wurde der vierte und damit der „Kalt wie dein Herz“ direkt vorangegangene Roman von Ben Affleck mit Casey Affleck und Michelle Monaghan in den Hauptrollen auch erfolgreich verfilmt. An diese Qualität knüpft „Kalt wie dein Herz“ nahtlos an. Der Thriller thematisiert nicht nur die berufliche und vor allem private Annäherung der langjährigen Partner Kenzie und Gennaro, sondern auch einen besonders komplizierten Fall, in dem nicht nur munter mit falschen Identitäten gespielt wird, sondern Lügen, Mord, Entführung, Erpressung und Folter die Aufklärung des Falles in die Länge ziehen. 
Wie das aus Kenzie, Gennaro und dem skrupellosen Kriegsveteran Bubba Rogowski bestehende Trio die komplexen Zusammenhänge um Karen Nichols‘ Tod aufdröselt und den psychopathischen Täter systematisch in die Enge treibt, ist nicht nur packend mit sehr lebendigen Charakteren geschrieben, sondern auch mit der richtigen Portion Humor gewürzt. Das ist auch Peter Torbergs gelungener Neuübersetzung zu verdanken, der „Kalt wie dein Herz“ wie im Rausch durchlesen lässt. Besser kann Kriminalliteratur nicht sein! 

Dennis Lehane – „Spur der Wölfe“

Samstag, 27. Juni 2020

(Ullstein, 511 S., HC)
Boston im Jahr 1975. Die drei elfjährigen Freunde Sean Devine, Jimmy Marcus und Danny Boyle stammen allesamt aus dem Stadtteil East Buckingham, doch während Jimmy und Danny in den „Flats“ unten am Penitentiary-Kanal südlich der Buckingham Avenue wohnen, lebt Sean im nördlich der Avenue gelegenen „Point“, wo die Menschen die besseren Jobs hatten und nicht zur Miete lebten, sondern als Eigentümer. Sean, Jimmy und Danny haben es letztlich ihren Vätern zu verdanken, dass sie überhaupt Freunde geworden sind. Doch das spielerische Feixen und Boxen auf der Straße im Point findet ein jähes Ende, als ein dunkelbraunes Auto auf ihrer Höhe anhält, der eine der zwei Männer aussteigt und die Jungs zur Räson bringt.
Als der Mann, der für die Jungs wie ein Cop aussieht, nach ihren Adressen fragt und erfährt, dass Danny aus den Flats stammt, fordert er ihn auf einzusteigen. Vier Tage lang wird der Junge vermisst, wird von den beiden Männern missbraucht, kann schließlich fliehen und kehrt für immer verändert zurück. 25 Jahre später holt die Vergangenheit die einstmaligen Freunde wieder ein. Jimmy, der bereits im Alter von siebzehn Jahren eine Gang angeführt hat und nach einigen raffinierten Einbrüchen eine mehrjährige Haftstrafe absitzen musste. Seit seiner Freilassung hat er sich scheinbar ein rechtschaffenes Leben aufgebaut. Schließlich konnte er während seiner Haft nicht bei seiner ans Krebs sterbenden Frau sein, was ihn schwer mitgenommen hat.
Deshalb setzt er nun alles daran, für seine Familie da zu sein, für seine neue Frau Annabeth ebenso wie für seine beiden Töchter Nadine und Katie. Er unterhält einen kleinen Eckladen, mit den beiden Savage-Brüdern aber auch weiterhin „andere“ Geschäfte. Ausgerechnet an Nadines Erstkommunion wird die 19-jährige Katie aber ermordet im Penitentiary-Park aufgefunden.
Es wird Sean Devines erster Fall nach seiner einwöchigen Suspendierung bei der Mordkommission der State Police. Wie seine Ermittlungen ergeben, hat Katie in ihrer Todesnacht mit ihren beiden Freundinnen Diane und Eve im McGills ausgelassen gefeiert. Am nächsten Morgen wollte sie mit ihrem heimlichen Freund Brendan Harris nach Las Vegas durchbrennen, um zu heiraten, doch verliert sich danach ihre Spur. Dave Boyle war einer der letzten, der Katie im McGills lebend gesehen hat. Er tauchte mitten in der Nacht mit schwer verletzter Hand und einer Schnittwunde am Bauch zuhause auf und erzählte seiner Frau Celeste, dass er möglicherweise einen Mann umgebracht habe. Celeste kommen allerdings Zweifel an der Geschichte ihres Mannes, die sie ausgerechnet mit Jimmy teilt, der nur von dem Wunsch getrieben ist, den Mörder seiner Tochter zu bestrafen.
„Ich werde den Mann finden, der dich da unten auf den Tisch gebracht hat, und ich werde ihn vernichten. Und seine Angehörigen – wenn er welche hat – werden größeren Kummer empfinden als die deinigen, Katie. Weil sie niemals Gewissheit besitzen werden, was mit ihm geschehen ist. Und mach dir keine Gedanken darüber, ob ich dazu fähig bin, mein Schatz. Daddy ist dazu fähig. Du wusstest es nicht, aber Daddy hat schon einmal getötet. Daddy hat getan, was zu tun war. Und er kann es wieder tun.“ (S. 333)
Nachdem der aus Boston stammende Dennis Lehane in den 1990er Jahren mit fünf Krimis seiner Reihe um die beiden Privatermittler Kenzie und Gennaro u.a. mit dem Shamus Award für den besten Erstlingsroman und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden war, legte er 2001 mit „Mystic River“ seinen ersten Roman jenseits seiner populären Krimi-Reihe vor und präsentierte ein zutiefst verstörendes, psychologisch fein gezeichnetes Kriminal-Drama, das Clint Eastwood zwei Jahre später kongenial mit Stars wie Sean Penn (als Jimmy Marcus), Kevin Bacon (als Sean Devine) und Tim Robbins (als Dave Boyle) verfilmte.
Lehane erweist sich in „Mystic River“ (das hierzulande zunächst unter dem Titel „Spur der Wölfe“ veröffentlicht wurde) als Meister detaillierter Milieuzeichnungen. Ein Großteil des Dramas bezieht seine Tragik nämlich aus den Unterschieden zwischen der in den Flats lebenden Arbeiterklasse und den im Point lebenden Angestellten mit den besseren Jobs. Minutiös zeichnet der Autor die Lebensgeschichten der drei Protagonisten nach, nutzt den Zeitsprung von 25 Jahren zwischen Daves Entführung und den nicht näher beschriebenen Ereignissen, denen der Elfjährige vier Tage lang ausgesetzt war, und den Ereignissen der Ermordung von Jimmys ältester Tochter Katie, um die Biografien von Jimmy, Sean und Dave aufzuarbeiten.
Ähnlich wie sein Publikum lässt Lehane auch die beteiligten Figuren lange Zeit darüber im Ungewissen, unter welchen Umständen Katie genau zu Tode gekommen ist und wie sich Dave seine Verletzungen zugezogen hat. Einen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen herzustellen liegt natürlich nahe, doch die nicht bewiesene Annahme setzt eine fürchterliche Kette von weiteren Geschehnissen in Gang, die der Bestseller-Autor meisterhaft inszeniert. Dabei spielt Lehane gleich mehrere große emotionale Themen, Liebe, Fürsorglichkeit und Vertrauen ebenso wie Gewalt, Verrat und Mord. Aus diesem schwergewichtigen Potpourri geht letztlich niemand als Gewinner hervor.

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 4) „Gone Baby Gone“

Samstag, 2. Mai 2020

(Diogenes, 572 S., Pb.)
Lionel und Beatrice McCready suchen das in Boston lebende und wirkende Liebes- und Detektivpaar Patrick Kenzie und Angelo Gennaro auf, um sie für die Suche nach der vierjährigen Amanda zu engagieren, die vor drei Tagen aus dem Haus von Lionels drogensüchtiger Schwester Helene entführt worden ist, während die Mutter des Kindes mit ihrer Freundin Dottie in eine Bar ging. Seitdem hat Helene einen Lügendetektortest erfolgreich bestanden, der Vater verfügt als Soldat in Deutschland über ein Alibi, von den Entführern fehlt nach wie vor jede Spur.
Obwohl das Ermittler-Duo kaum Chancen sieht, mehr zu erreichen als die unzähligen Cops, die sich auf die Suche nach Amanda gemacht haben, nehmen sie den Fall an und schließen sich zunächst mit Lieutenant Jack Doyle kurz, der in Boston die Einheit Crimes Against Children (CAC) auf die Beine gestellt hat. Zusammen mit den Detective Sergeant Nick „Poole“ Raftopoulos und Detective Remy Broussard suchen sie zunächst den dreimal verurteilten und untergetauchten Kinderschänder Leon Trett und seine Frau Roberta, doch die nützlichste Spur führt zum inhaftierten Drogenhändler Cheese Olamon, für den Helene immer wieder mal eine Kurierfahrt unternimmt.
Vor kurzem hat Cheese eine Lieferung an eine Gruppe von Bikern losgeschickt, doch sind bei der Razzia nur die Drogen, nicht aber das Geld sichergestellt worden. Nun wollen die Entführer die zweihunderttausend Dollar aus dem Drogendeal in den schwer zugänglichen Steinbrüchen gegen Amanda eintauschen. Doch die Operation, bei der das FBI außen vor bleibt, geht fürchterlich schief, Amanda bleibt verschwunden. Mittlerweile steht auch ihrer Mutter der Schmerz über ihr eigenes Verhalten ins Gesicht geschrieben.
„Sie war nicht dumm, sie war betäubt – die Welt im Ganzen, die Gefahr, der ihr Kind ausgesetzt war, die Glasscherben, die sich in ihr Fleisch, in ihre Sehnen und Arterien bohrten -, nichts davon drang zu ihr durch.
Doch der Schmerz bahnte sich einen Weg. Endlich. Sie sah mich an, ihre Augen wurden heller, die Pupillen weiteten sich, und der Schmerz stand in ihnen. Eine entsetzliche Erkenntnis, eine Kernschmelze an Hellsichtigkeit, die dort zu sehen war, und damit einhergehend das Bewusstsein, was ihre Gleichgültigkeit für ihre Tochter bedeutete.“ (S. 340) 
Zwar stellt Helene weiterhin keine große Hilfe bei den Ermittlungen dar, doch dafür wird Patrick Kenzie bei einem Saufgelage mit Broussard schlagartig klar, wer wirklich hinter der Entführung der kleinen Amanda steckt. Für die beiden Privatermittler wird die Suche nach den Entführern schließlch auch zu einer ganz persönlichen Belastungsprobe …
Auch wenn Dennis Lehane vor allem durch seinen Roman „Spur der Wölfe“ berühmt geworden ist, den Clint Eastwood 2003 unter dem Titel „Mystic River“ verfilmt hat, erregte bereits seine 1994 initiierte, bislang sechs Romane umfassende Reihe um die Privatdetektive Patrick Kenzie und Angela Gennaro Aufmerksamkeit, als der damalige US-Präsident Bill Clinton beim Aussteigen aus der Air Force One den fünften Roman der Reihe, „Prayers For Rain“, in der Hand hielt.
Mit „Gone Baby Gone“ legte Lehane 1998 den wohl verstörendsten Titel der Reihe vor, denn wie sein späterer Bestseller „Mystic River“ reizt er das Thema Kindesentführung und -missbrauch bis zum schmerzlichen Exzess aus. Die beunruhigende Tatsache, dass in den USA tagtäglich 2300 Kinder vermisst gemeldet werden, bricht Lehane auf eine sehr persönliche Geschichte herunter, die deshalb zu tief berührt, weil die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit immer wieder verschwimmen. Dabei wird die Mutter der entführten Amanda als egoistisches, selbstmitleidiges Miststück charakterisiert, die völlig ungeeignet erscheint, ein Kind aufzuziehen.
Dagegen sind Gut und Böse in den Reihen der Gangster und Cops nicht so einfach auszumachen. „Gone Baby Gone“ präsentiert sich sowohl in stimmungsvoller als auch psychologischer Hinsicht als vielschichtiges Psycho-Thriller-Drama, in dem sich humorvolle, erotische, brutale und deprimierende Töne im Minutentakt abwechseln und der Plot dabei mit überraschenden Wendungen bis zum denkwürdigen und diskussionsanregenden Schluss aufwartet.
Hollywood-Schauspieler Ben Affleck feierte 2007 mit der Verfilmung von „Gone Baby Gone“ sein erfolgreiches Regiedebüt.
Leseprobe Dennis Lehane - "Gone Baby Gone"

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 3) „Alles, was heilig ist“

Dienstag, 5. März 2019

(Diogenes, 425 S., Pb.)
Nach ihrem letzten Fall, bei dem unter anderem Angies Ex-Mann Phil ums Leben kam, haben Patrick Kenzie und seine Partnerin Angie Gennaro ihre Detektei geschlossen und würden bald auf dem Trockenen sitzen. Doch gerade als ihr Handyman Bubba Rogowski eine einjährige Haftstrafe antreten muss, werden sie durch den schwerkranken Milliardär Trevor Stone entführt und mit einem Startkapital von 50.000 Dollar ausgestattet, um sich auf die Suche nach seiner Tochter Desiree zu machen.
Seit ihrer Mutter bei einem missglückten Carjacking-Manöver ums Leben kam, das Trevor knapp überlebt hat, ist sie spurlos verschwunden. Selbst Patricks alter Mentor bei Hamlyn & Kohl, Jay Becker, hat Desiree nicht finden können und wird nun selbst vermisst. Mittlerweile hat Hamlyn & Kohl ihren Mandanten fallengelassen, weshalb Kenzie & Gennaro auf einmal wieder im Geschäft sind. Als sie sich Jays Berichte zu seiner Suche vornehmen, stoßen sie auf die mysteriöse Organisation „Trauer & Trost“, bei der jedoch nicht nur Hilfestellung zur Trauerbewältigung geleistet wird, sondern auch Rekrutierungsarbeit für die sektenähnliche Kirche der Wahrheit und Offenbarung.
Als sich Patrick in diese Organisation als Hilfesuchender einschleust, werden ihm und Angie zunehmend bewusst, dass ihr Auftraggeber mit falschen Karten spielt. Und je tiefer sich die beiden Detektive in den Fall hineinarbeiten, umso mehr werden sie mit Lügen, Mord und raffinierten Täuschungsmanövern konfrontiert, bis sie überhaupt niemanden mehr glauben können …
„Vielleicht hatte Everett Hamlyn recht gehabt. Vielleicht war die Ehre kurz davor auszusterben. Vielleicht war es mit ihr schon immer bergab gegangen. Oder, noch schlimmer, sie war sowieso nur eine Illusion.
Alle sind verdächtig. Alle sind verdächtig. So langsam wurde das zu meinem Mantra.“ (S. 248) 
Bevor Dennis Lehane mit seinen verfilmten Romanen „Mystic River“ und „Shutter Island“ zu einem internationalen Bestseller-Autor avancierte und noch die Vorlagen zu den Filmen „Live by Night“ und „The Drop – Bargeld“ und Drehbücher zu den preisgekrönten Fernsehserien „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“ schrieb, hatte er Mitte der 1990er Jahre mit einer Reihe um die beiden Detektive Kenzie & Gennaro seine ersten Erfolge feiern können. Nachdem Diogenes bereits die ersten beiden Bände mit neuen Titeln („Ein letzter Drink“ und „Dunkelheit, nimm meine Hand“) und in neuer Übersetzung veröffentlichte, erscheint nun in ebenfalls überarbeiteter Fassung mit „Alles, was heilig ist“ der dritte von insgesamt sechs Bänden.
Es ist eine wunderschön verschachtelte, komplexe Detektivgeschichte, bei der sich die beiden sympathischen Protagonisten in einer geschickt konstruierten Lügenwelt zurechtfinden und letztlich abwägen müssen, wem sie überhaupt noch Glauben schenken können. Der Plot ist raffiniert konstruiert, die Ermittlungsarbeit von Kenzie & Gennaro mit humorvollen Dialogen und nicht zuletzt amourösen Episoden garniert, denn nach siebzehn Jahren finden die beiden Detektive auch im Bett wieder zueinander. Wortwitz, Tempo und Spannung halten sich in „Alles, was heilig ist“ auf gleichbleibend hohem Niveau, so dass sich das Warten auf die drei noch verbleibenden Abenteuer von Kenzie & Gennaro auf jeden Fall lohnt.
Leseprobe Dennis Lehane - "Alles, was heilig ist"

Dennis Lehane – „Der Abgrund in dir“

Mittwoch, 29. August 2018

(Diogenes, 527 S., HC)
Rachel war drei Jahre alt, als ihr Vater aus dem Leben ihrer Mutter Elizabeth und ihrem eigenen verschwand. Vier Jahre später schrieb ihre Mutter, die selbst nie verheiratet gewesen war, mit „Die Treppe“ einen Bestseller-Ratgeber darüber, wie man erfolgreich verheiratet blieb, worauf sie zwei zunehmend weniger erfolgreiche Fortsetzungen nachlegte und bei aller Popularität selbst einen unglücklichen, ja verbitterten Eindruck machte.
Nachdem ihre Mutter bei einem Autounfall getötet wurde, hat Rachel damit begonnen, ihren Vater zu suchen, von dem sie nur den Namen James und die Information besaß, dass er in Connecticut unterrichtet hat.
Während ihres ersten Collegejahrs in Boston lernt Rachel den sympathischen Detektiv Brian Delacroix kennen, der bei der Suche nach ihrem Vater zwar keine Erfolge erzielt, aber über die Jahre mit Rachel in Verbindung bleibt, als sie Karriere erst bei der Zeitung, dann beim Fernsehen macht, wo sie ihren Sebastian kennenlernt, der sie allerdings fallen lässt, als Rachel in Haiti über die Naturkatastrophe berichtet und vor laufender Kamera einen Nervenzusammenbruch erleidet.
Ihre Panikattacken führen dazu, dass sie sich kaum aus der Wohnung traut, die sie schließlich mit Brian teilt, der seine Tätigkeit als Detektiv aufgegeben hat, um im internationalen Holzhandel zu arbeiten, den seine Familie betreibt. Doch als sie Brian eines Tages in Boston sieht, obwohl er eigentlich in London sein sollte, beginnt Rachel an ihrer Ehe zu zweifeln. Tatsächlich scheint Brian ein Doppelleben zu führen, das Rachel zunehmend den Boden unter den Füßen wegzieht.
„Sie nahm ein Bild von sich und Brian von der Kommode. Ihr inoffizielles Hochzeitsfoto. Sie sah seine verlogenen Augen und sein verlogenes Lächeln, und sie wusste, dass sie ebenso verlogen war wie er. An fast jedem Tag ihres Lebens, von der Grundschule an, über High-School, College, Uni und dann im Job, hatte sie eine Rolle gespielt. Sobald diese Rolle dem Publikum nicht mehr gefiel, hatte sie sie abgelegt und war in eine neue geschlüpft.“ (S. 400) 
Dennis Lehane, gefeierter Autor von erfolgreich verfilmten Bestsellern wie „Mystic River“ und „Shutter Island“, legt mit „Der Abgrund in dir“ sowohl einen packenden Psychothriller als auch eine vertrackte Liebesgeschichte vor, deren komplexe Facetten sich erst nach und nach auf immer wieder überraschende Weise entfalten.
Dabei zieht der Autor den Leser von Beginn an in ein verwirrendes Geflecht ausgefeilter Inszenierungen und falscher Identitäten. Der Roman beginnt mit einer Szene, in der Rachel ihren Mann Brian auf seinem Boot erschießt, worauf rückblickend Rachels Kindheit und die verzweifelte Sehnsucht nach einem Vater aufgerollt wird, deren Identität ihre Mutter nie preisgeben wollte. Immerhin führt ihre Suche zu einem Mann, den sie – leider irrtümlich - für ihren Vater gehalten hat, der aber immerhin zu einem guten Freund wird.
Und so begegnet Rachel in ihrem Leben scheinbar nur Männern, die eine mehr oder weniger raffiniert angelegte Rolle spielen. Während Sebastian seine Karrieresucht auf längere Sicht nur ungeschickt hinter seiner Sympathie für Rachel verbergen konnte, begegnen ihr mit Brian und seinem Geschäftspartner Caleb schon ganz andere Kaliber, die Rachel in ein letztlich tödliches Betrugsszenario involvieren, das ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellt.
Lehane erweist sich einmal mehr als grandioser Erzähler, der vor allem seine Protagonistin Rachel Childs ausgezeichnet charakterisiert und Brian Delacroix so geheimnisvoll anlegt, dass die Entwicklung in der Beziehung zwischen den beiden Figuren glaubwürdig genug wirkt, um die Thriller-Komponente und das seltsam versöhnliche Finale erklären zu können. Neben dem spannungs- und wendungsreichen Plot gefällt aber vor allem das Spiel mit den Identitäten und Rollen, die Menschen im Lauf ihres Lebens annehmen, um Beziehungen und Jobs erfolgreich auszufüllen. In „Der Abgrund in dir“ beschreibt Lehane auf überzeugende Weise das erschreckende Szenario des Scheiterns eines scheinbar ausgeklügelten Rollenspiels.

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 2) „Dunkelheit, nimm meine Hand“

Dienstag, 11. Juli 2017

(Diogenes, 511 S., Pb.)
Kaum haben Angie Gennaro & Patrick Kenzie einen spektakulären Fall zu den Akten gelegt, erhalten sie einen Anruf von Eric Gault, der an der Bryce University Kriminologie unterrichtet und bei dem Kenzie damals an der University of Massachusetts ein paar Kurse belegt hatte. Erics Freundin, die renommierte Bostoner Psychologin Diandra Warren, will das Ermittler-Duo engagieren, weil sie vor einiger Zeit Besuch von einer jungen Frau bekam, die sich als Moira Kenzie und Freundin von Kevin Hurlihy vorstellte, der sie allerdings zu bedrohen schien und vor drei Wochen auch Diandra anrief, um ihr Angst einzujagen.
Gestern erhielt sie dann einen Brief mit dem Foto ihres Sohnes Jason. Kennzie und Gennaro willigen ein, Jason für einige Zeit zu beschatten, und ermitteln im Dunstkreis von Fat Freddy Constantine, dem Paten der Bostoner Mafia. Als mit Kara Rider eine alte Bekannte von Kenzie verstümmelt und gekreuzigt aufgefunden wird, führt die Spur zu einem Serienkiller, der allerdings seit Jahren im Gefängnis sitzt.
Je mehr Gennaro & Kenzie mit ihrem Aufpasser Bubba im Dreck wühlen, umso mehr häufen sich die bestialischen Morde, und Kenzie selbst gerät ins Visier des skrupellosen Killers, der in den Briefen, die er an den Ermittler adressiert hat, seine kranke Psyche offenbart.
„Ein ganz normaler Mensch, der jeden Morgen aufsteht, zur Arbeit geht und sich im Grunde für einen guten Kerl hält, hat mehr als genug Böses in sich. Vielleicht betrügt er seine Frau, vielleicht behandelt er seine Kollegen schäbig, vielleicht glaubt er insgeheim, dass es den einen oder anderen Menschenschlag gibt, der ihm unterlegen ist.
Meistens muss er sich damit nicht auseinandersetzen, dafür sorgt schon unsere Fähigkeit, uns vor uns selbst zu rechtfertigen (…)
Doch der Mann, der diesen Brief geschrieben hatte, hatte sich dem Bösen hingegeben. Er ergötzte sich am Leid anderer. Er versuchte nicht, Herr über seinen Hass zu werden. Er schwelgte darin.“ (S. 345f.) 
Bevor Dennis Lehane zu Beginn der 2000er Jahre mit seinen (erfolgreich von Clint Eastwood und Martin Scorsese verfilmten) Romanen „Mystic River“ und „Shutter Island“ zum internationalen Bestseller-Autoren avancierte, veröffentlichte er eine Reihe von fünf Romanen um die beiden Bostoner Ermittler Kenzie & Gennaro (2010 folgte mit „Moonlight Mile“ ein sechster und der bislang letzte Band der Reihe), die glücklicherweise nach und nach durch den Schweizer Diogenes-Verlag in neuer Übersetzung wiederveröffentlicht werden.
In „Dunkelheit, nimm meine Hand“ hat es das sympathische Duo, das sich auch persönlich sehr nahesteht, mit einer Reihe von besonders grausamen Morden zu tun, bei denen auch das FBI nicht recht weiterkommt. Lehane arbeitet nicht nur den Plot sehr detailliert aus, sondern taucht vor allem auch tief in das Leben und die Vergangenheit des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, in die Beziehungen zu seinem Vater, zu seiner Kollegin und Freundin Angie Gennaro und schließlich zu seiner aktuellen Lebensgefährtin Grace und deren Tochter Mae.
Am Ende des packenden Thriller-Dramas, das auf komplexe Weise Polizei-Korruption, Mafia-Verbrechen und persönliche Schicksale miteinander verknüpft, haben sich dunkle Geheimnisse ans Tageslicht begeben, sind Überzeugungen verloren gegangen und Menschen und ihre Beziehungen zueinander nicht mehr so, wie sie vorher waren. Und Dennis Lehane ist fraglos ein Meister darin, die Gründe für diese tiefgreifenden Veränderungen glaubwürdig zu inszenieren. Auf die nächsten – neu übersetzten - Fälle von Kenzie & Gennaro darf sich der Krimi-Freund mehr als freuen! 
Leseprobe Dennis Lehane - "Dunkelheit, nimm meine Hand"

Dennis Lehane – „Im Aufruhr jener Tage“

Samstag, 21. Januar 2017

(Ullstein, 760 S., HC)
Als sich der irischstämmige Danny Coughlin, Officer der Bostoner Polizei, im Rahmen der Charity-Veranstaltung „Boxing & Badges: Haymakers for Hope“ einen Vier-Runden-Kampf gegen einen seiner Kollegen liefert, nutzen die Cops der Special Squads Division unter der Leitung seines Patenonkels Eddie McKenna die Gelegenheit, um unter den großen anarchistischen, bolschewistischen, radikalen und subversiven Organisationen aufzuräumen.
Seit dem Bombenanschlag auf das Polizeirevier in der Salutation Street vor zwei Jahren und gemäß dem Espionage Act von 1917 können Bürger wegen ihrer regierungsfeindlichen Äußerungen verhaftet und deportiert werden. Allerdings müssten die ohnehin schlechtbezahlten, überarbeiteten Cops dann fast das komplette North End ihrer Stadt festnehmen. Um sich die unwürdigen Zustände auch in den Revieren nicht länger bieten zu lassen, planen die Cops einen Zusammenschluss des Wohltätigkeitsvereins Boston Social Club mit der nationalen Gewerkschaft AFL.
Danny ist zunächst skeptisch, als er von seinem Freund und Streifenpartner Steve Coyle darauf angesprochen wird, dass sich seine Chancen, zum Detective befördert zu werden, extrem verbessern würde, wenn er der Gewerkschaft beitreten würde, zumal er von seinem Vater, Captain Thomas Coughlin, Deputy Chief Madigan und seinem Onkel dazu angestiftet wird, in diesen subversiven Kreisen als Spion die Chefideologen ausfindig zu machen. Doch kaum hat Danny ein paar Treffen in der Fay Hall besucht, sympathisiert er mit den Plänen des BSC und entwickelt sich selbst zu einem charismatischen Wortführer, was ihn zunehmend seiner Familie entfremdet.
Dafür freundet er sich mit dem jungen Schwarzen Luther Laurence an, einem ehemals talentierten Baseballspieler, der sogar schon mit Babe Ruth auf dem Spielfeld stand, und nach einem von ihm selbst angerichteten Blutbad in seiner Heimatstadt Tulsa seine schwangere Frau Lila verlassen und nach Boston fliehen musste. Hier arbeitet er als Diener im Haushalt der Coughlin-Familie und muss immer wieder am eigenen Leib schmerzhaft erfahren, wie breit der Rassismus im Land noch verbreitet ist.
Als sich der BSC tatsächlich der AFL anschließt, droht auf einmal ein Streik der Polizisten, die seit sechs Jahren keine Lohnerhöhung erhalten haben und auf über siebzig Arbeitsstunden in der Woche kommen. In diesem Klima aus Misstrauen, Armut, tödlicher Krankheit, Rassismus und Unzufriedenheit trennen sich Danny und Luther von ihren Familien, um ihre eigenen hehren Ziele zu verfolgen, die in einem explosiven Gemisch aus Hass, Gewalt und Blut kaum zu erfüllen sein werden …
„Danny überlegte, ob er nach Hause gehen, sich den Dienstrevolver in den Mund schieben und ein für alle Mal Schluss machen sollte. Millionen Menschen waren im Krieg gestorben, für nichts als dämliche Territorialansprüche, und nun ging derselbe Krieg auf den Straßen weiter, heute in Boston, morgen in einer anderen Stadt. Arme Schweine, die sich gegeneinander aufhetzen ließen und sich gegenseitig den Schädel einschlugen. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein. Das war ihm nun klar. Es würde immer so weitergehen.“ (S. 511) 
Nach den erfolgreich verfilmten Romanen „Spur der Wölfe“ (aka „Mystic River“ von Clint Eastwood) und „Shutter Island“ (von Martin Scorsese) legte der in Boston lebende Schriftsteller Dennis Lehane 2008 mit „Im Aufruhr jener Tage“ sein bisheriges Magnum Opus vor, einen epischen Gesellschaftsroman, der anhand der ungewöhnlichen Freundschaft eines engagierten Polizisten und eines jungen Schwarzen die vielschichtigen Probleme thematisiert, die zum Ende des Ersten Weltkriegs hin die amerikanische Metropole Boston erschüttert.
Bereits in dem großartigen ersten Kapitel, in dem Lehane die Begegnung zwischen dem aufstrebenden Baseball-Star Babe Ruth und dem talentierten Schwarzen Luther beschreibt, führt dem Leser sehr eindrucksvoll und empathisch den mehr oder weniger latenten Rassismus vor Augen, der zu jener Zeit geherrscht hat. Doch ebenso wie die Schwarzen haben auch alle anderen Minderheiten in der schwierigen Zeit, als viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, weil die Kriegsheimkehrer vorrangig in Lohn und Brot gebracht werden sollen, unter der rigorosen Politik von Bürgermeister, Gouverneur und Polizeichef zu leiden.
Überall scheinen Spitzel und Denunzianten zu lauern, politisches Kalkül über Menschlichkeit die Oberhand zu gewinnen.
„Im Aufruhr jener Tage“ ist ein hervorragend recherchiertes Stück bewegender Zeitgeschichte, ein vielschichtiger Familienroman und vitaler Politthriller, eine fundierte Milieustudie und selbst ein Liebesroman und vor allem ein wunderschöner Roman über die Freundschaft.
Erschreckend ist allerdings, wie aktuell die Themen in Lehanes großen Epos sind, denn gerade unter der neuen Präsidentschaft von Donald Trump dürften Minderheiten jeglicher Couleur und Gesinnung sich ähnlich fühlen wie Luther Laurence oder Dannys große Liebe Nora O’Shea …
Leseprobe Dennis Lehane - "Im Aufruhr jener Tage"

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 1) „Ein letzter Drink“

Sonntag, 28. August 2016

(Diogenes, 354 S., Pb.)
Patrick Kenzie und Angie Gennaro sind seit Kindesbeinen miteinander befreundet und unterhalten gemeinsam die Detektei Kenzie & Gennaro in Bostons Viertel Dorchester. Als Kenzie ins Ritz-Carlton zu einem Gespräch mit dem Abgeordneten Jim Vurnan, Senator Sterling Mulkern und Senator Brian Paulson gebeten wird, bekommt er den Auftrag, die schwarze 41-jährige Jenna Angeline aufzufinden, eine Angestellte des Bundesparlaments, die seit neun Tagen vermisst wird. Mit ihr sind allerdings auch streng vertrauliche Dokumente verschwunden, die offensichtlich in Zusammenhang mit dem Gesetz gegen Straßenterrorismus stehen, das demnächst im Senat verabschiedet werden soll.
Kenzie und Gennaro finden die Frau tatsächlich bei ihrer Schwester und bekommen von ihr ein Foto zu sehen, auf dem Senator Paulson einen schwarzen Jungen missbraucht. Und schon befinden sich die beiden Privatermittler in einem Kreuzfeuer wieder, das die beiden erbittert verfeindeten Gangs entfachen, die von Socia auf der einen Seite und seinem Sohn Roland auf der anderen Seite angeführt werden. Denn auch die beiden Bandenführer sind in diesen Skandal involviert, der nicht nur in Politikerkreisen hohe Wellen schlagen dürfte, sollte er an die Öffentlichkeit kommen …
„Jenna Angeline war ein Wrack. Sie war verängstigt und erschöpft und wütend, und sie heulte die Welt an wie ein Wolf. Aber anders als die meisten Menschen in ihrer Lage war sie gefährlich, weil sie etwas besaß, das ihr ein Stück von dem verschaffen sollte, was ihr diese Welt bislang vorenthalten hatte. Aber so funktioniert die Welt normalerweise nicht, und Menschen wie Jenna sind Zeitbomben. Sie reißen vielleicht ein paar Menschen mit in den Tod, aber bei dem Inferno gehen sie auf jeden Fall selbst mit drauf.“ (S. 97) 
Als der in Dorchester, Boston, geborene Dennis Lehane 1994 seinen Debütroman „A Drink Before the War“ veröffentlichte, wurde er nicht nur gleich mit dem Shamus Award für den besten Erstlings-Roman ausgezeichnet, sondern startete damit auch eine Serie von bislang sechs Romanen um das charismatische Detektiv-Duo Kenzie & Gennaro.
Der Diogenes-Verlag, der bereits Lehanes Bestseller „Shutter Island“ und „Mystic River“ in neuer Übersetzung und dann auch die nach dem Epos „Im Aufruhr jener Tage“ folgenden Werke als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, macht sich nun daran, mit den zuvor bei Ullstein erschienenen Romane um Kenzie & Gennaro nachzulegen.
Lehane begibt sich mit seinem Debüt auf die Spuren der klassischen Schwarzen Serie, wie sie beispielsweise Humphrey Bogart unvergesslich als Sam Spade verkörpert hat. Lehanes Ermittler, die weit mehr als nur eine freundschaftliche Arbeitsbeziehung miteinander unterhalten, geraten gleich in ihrem ersten Abenteuer in eine von Straßengewalt, Rassismus und Korruption geprägte Welt, der sie auch nur mit Gewalt begegnen können, um nicht selbst unter die Räder zu kommen. Dabei versteht es der Autor, in seinem Debüt vor allem das düstere Lokalkolorit seiner Bostoner Heimat einzufangen und sie gleichermaßen auf seine Figuren zu übertragen. Diese hätten durchaus noch etwas mehr Profil erhalten können, aber davon abgesehen bietet „Ein letzter Drink“ packende Krimi-Unterhaltung, auf deren Fortsetzung bei Diogenes sich Lehane-Fans hoffentlich in den nächsten Jahren noch erfreuen dürfen.
 Leseprobe Dennis Lehane - "Ein letzter Drink"

Dennis Lehane – „Am Ende einer Welt“

Freitag, 30. Oktober 2015

(Diogenes, 394 S., HC)
Mit seinen zwei Destillerien, einer Phosphatmine und Anteilen an verschiedenen Firmen in seiner Heimatstadt Boston zählt Joe Coughlin Anfang der 1940er Jahre in seiner Wahlheimat Ybor City nicht nur als einer größten Arbeitgeber und Investoren, sondern auch gütiger Spender und Wohltäter. Seine von ihm veranstalteten Partys sind legendär und vereinen wie selbstverständlich die prominenten Größen der halblegalen und legalen Gesellschaft.
Seit seine Frau verstorben ist, agiert Joe nur noch im Hintergrund als consigliere der Familie Bartolo, stellt aber so den Mittelsmann für das gesamte Verbrechersyndikat Floridas dar und kontrolliert darüber hinaus mit Meyer Lansky Kuba und den Transportweg für Rauschgift von Südamerika bis nach Maine.
Doch sein Leben als anerkannter Geschäftsmann und Vater des kleinen Tomas gerät in starke Turbulenzen, als er durch die wegen Mordes an ihrem Mann inhaftierte Theresa Del Fresco die Botschaft übermittelt bekommt, dass ein Killer auf ihn angesetzt ist. Da sich Joe überhaupt nicht vorstellen kann, wer ein Interesse daran haben könnte, sein Licht auszublasen, beginnt eine zermürbende Suche nach dem Killer …
„Natürlich hatte man schon früher versucht, ihn umzubringen, aber damals hatte es gute Gründe gegeben – ein Mentor war zu dem Schluss gekommen, dass Joe größenwahnsinnig geworden sei; davor waren es Mitglieder des Klan gewesen, denen es nicht besonders gefiel, dass ein bleicher Yankee ihnen im eigenen Revier zeigte, wie man richtig Geld machte; und davor war es ein Gangster gewesen, in dessen Freundin er sich verliebt hatte. All das waren gute Gründe gewesen.
Warum ich?“ (S. 138) 
Nach „In der Nacht“ erzählt der amerikanische Bestseller-Autor Dennis Lehane mit „Am Ende einer Welt“ die Geschichte der Coughlin-Familie, die in „Im Aufruhr jener Tage“ ihren Anfang nahm, weiter. Während es im Auftakt der Coughlin-Reihe um den aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Thomas Coughlin ging, der sein Glück in Hollywood versuchte, thematisierte „In der Nacht“ den Aufstieg seine jüngeren Bruders Joe zur Unterweltgröße in Lehanes Heimatstadt Boston.
In dem neuen Werk ist es nicht mehr Coughlin, der die Fäden in der Unterwelt zieht, sondern Dion Bartolo, aber in dem existentiellen Drama steht Coughlin einmal mehr ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Wie Lehane die Fallstricke der mächtigen italienischen Familien knüpft, bietet einmal mehr ganz großes Kino, wie Lehanes Hollywood-Vorlagen „Gone, Baby, Gone“, „Mystic River“, „Shutter Island“ und die Drehbücher zu drei Folgen der gefeierten Serie „The Wire“ bereits dokumentiert haben.
Der preisgekrönte Bestseller-Autor trifft auch in „Am Ende einer Welt“ immer den richtigen Ton, beschreibt die unheilschwangere Atmosphäre der bleigetränkten Unterwelt von Ybor City so eindrücklich, als wäre man mittendrin. Das liegt nicht nur an der packenden Handlung, die ohne überflüssige Nebenplots auskommt, sondern auch an der feinen Charakterisierung der Figuren und der engen Familienbindungen, die im Ehrenkodex der Italiener tief verwurzelt sind.
Fortsetzung folgt – hoffentlich …
Leseprobe Dennis Lehane - "Am Ende einer Welt"

Dennis Lehane – „The Drop - Bargeld“

Dienstag, 4. November 2014

(Diogenes, 223 S., HC)
Eigentlich hätte Bob Saginowski die Bar an diesem Tag früher zugemacht, doch vor genau zehn Jahren hatte der ehemalige Quarterback der East Buckingham High Richie „Glory Days“ Whelan die Kneipe verlassen, um etwas Gras zu besorgen, und wurde nie mehr gesehen, weshalb seine Kumpel beim Fernsehen seiner gedachten. Auf dem Heimweg von seiner Vier-bis-zwei-Schicht in der „Cousin Marv“-Kneipe seines Bosses und – tatsächlichen - Cousins Marv findet Bob schließlich einen Boxer-Welpen in der Mülltonne und kümmert sich auf Drängen von Nadia, die den Vorfall beobachtet hat, um den verletzten Junghund.
Am nächsten Morgen besucht Bob die Sonntagsmesse und fängt gegen Mittag seine Schicht bei Marv an, der in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern noch eine Gang angeführt hatte, bis sie ihr Kreditgeschäft an aggressivere Gangs abtraten. Mittlerweile beteiligt sich Marv nur noch als Hehler für die Tschetschenen, denen Marvs Kneipe seit Jahren gehört. Doch eine Stunde nachdem die Tschetschenen ihren Geldumschlag in der Bar deponiert haben, tauchen zwei maskierte und bewaffnete Typen auf und sacken die Tageseinnahmen ein.
Detective Evandro Torres, der sich der Ermittlungen annimmt, weiß natürlich, dass die Bar ein Depot für Bandengelder ist, eine Drop Bar, doch angesichts des ausgeklügelten Systems, mit dem die Gangs ihre Gelder in den Bars kurzzeitig deponieren und wieder abholen, findet die Polizei keine Mittel, gegen sie vorzugehen. Dafür taucht mit Eric Deeds ein frischer Ex-Knacki bei Bob auf, der auch seinen Teil vom Kuchen abhaben will …
„Wie hatte es so weit kommen können?
Du hast die Welt hereingelassen, Bobby, sagte eine Stimme, die der seiner Mutter verdammt ähnlich klang. Du hast die sündenstarrende Welt hereingelassen. Und unter ihrem Deckmantel ist nichts als Dunkelheit.
Aber, Mutter?
Ja, Bobby.
Es war Zeit. Ich kann nicht nur für das Jenseits leben. Ich muss im Hier und Jetzt leben.
So sprechen die Gefallenen. So sprechen sie seit Anbeginn der Zeiten.“ (S. 188) 
Dennis Lehane hat bereits mit seinen verfilmten Bestsellern „Mystic River“ und „Shutter Island“ seine Meisterschaft dokumentiert, außergewöhnliche Geschichten packend in Szene zu setzen. Da sich an den filmischen Qualitäten seiner Stoffe nichts geändert hat, schrieb der amerikanische Bestseller-Autor zu seinem neuen Roman „The Drop“ erst das Drehbuch, so dass zur Veröffentlichung seines Romans auch die Filmadaption durch Michael R. Roskam mit Tom Hardy, Noomi Rapace und dem verstorbenen James Gandolfini (in seinem letzten Film) in den Hauptrollen in den Kinos startet.
Dennis Lehane nimmt den an sich wenig spektakulären Raubüberfall in Cousin Marvs Bar als Ausgangspunkt für eine starke Milieustudie über ein Viertel, in dem zwar die meisten Einwohner sonntags in die Kirche gehen, aber bei weitem nicht alle zum Abendmahl. Dazwischen werden so einige dunkle Geheimnisse gehütet, Menschen getötet, die sich nicht an die Regeln halten, Sex erkauft, Hunde gequält und Cops an der Nase herumgeführt, aber auch zarte Freundschaften geknüpft.
All dies webt Lehane kunstvoll und sprachgewandt zu einem faszinierenden, atmosphärisch stimmigen Gaunerstück mit etlichen Toten und überraschenden Wendungen. Schade nur, dass das Lesevergnügen nach nur 220 Seiten schon vorbei ist.
Leseprobe Dennis Lehane - "The Drop - Bargeld"

Dennis Lehane – „In der Nacht“

Dienstag, 24. Dezember 2013

(Diogenes, 592 S., HC.)
Mit Romanen von Dennis Lehane verhält es sich ähnlich wie mit denen von Thomas Harris (“Roter Drache”, “Das Schweigen der Lämmer”). Wenn der Leser nach meist nur wenigen Seiten bereits voll in die Geschichte eingetaucht ist, schreit alles nach Verfilmung. Dennis Lehane hat mit „Mystic River“, „Gone Baby Gone“ und „Shutter Island“ bereits drei Vorlagen zu erfolgreichen, von renommierten Filmemachern wie Clint Eastwood, Martin Scorsese und Ben Affleck inszenierten Thriller-Dramen geliefert, nun folgt mit „In der Nacht“ bereits die nächste, wiederum von Affleck umgesetzt.
„In der Nacht“ stellt zwar keine direkte Fortsetzung von Lehanes letztem Werk „Im Aufruhr jener Tage“ dar, verfolgt aber das Schicksal der Coughlin-Familie in eine andere Richtung. Wir befinden uns im Jahr 1926, Coughlin-Patriarch Thomas dient als stellvertretender Polizeichef in Boston und lässt sich wie viele andere Cops auch ordentlich schmieren, um in den Zeiten der Prohibition immer mal wieder wegzuschauen. Sein ältester Sohn Danny, der im Zentrum von „Im Aufruhr jener Tage“ stand und nach dem Quittieren des Polizeidienst Karriere in Hollywood als Stuntman und schließlich Drehbuchautor machte, taucht nur kurz als Nebenfigur auf, der Fokus liegt in Lehanes neuem Roman auf dem jüngsten Coughlin-Sprössling Joe, der als blutjunger Kleinganove nicht nur den Mumm hat, einen Laden von Gangsterboss Albert White auszurauben, sondern sich auch noch in dessen Geliebte Emma Gould verguckt. Doch der Plan, gemeinsam mit der erbeuteten Kohle irgendwo anders ein neues Leben anzufangen, schlägt furchtbar fehl. Emma verrät ihren neuen Liebhaber in der Hoffnung, dass ihm nichts geschieht, muss aber selbst mit dem Leben büßen, während Joe in Charleston eine Haftstrafe absitzen muss. Dort zieht er alle notwendigen Strippen, um nach seiner Entlassung voll in den Rumhandel einzusteigen. Mit seinem alten Kumpel Dion zieht es Joe nach Ybor, wo er mit Esteban ins Geschäft kommt und selbst schnell zum Gangsterboss aufsteigt. Obwohl er mit der kubanischen Idealistin Graciela eine Familie gründet, denkt Joe nicht daran, seine kriminelle Karriere aufzugeben.
„Genau deshalb waren sie Gesetzlose. Um Dinge zu erleben, die den Versicherungsvertretern, den Lastwagenfahrern und Anwälten und Kassierern und Schreinern und Immobilienmaklern dieser Welt nie vergönnt sein würden. Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden. Genau in diesem Moment erinnerte sich Joe daran, was ihm damals als Dreizehnjährigem durch den Kopf geschossen war, als sie den Zeitungskiosk in der Bowdoin Street ausgeraubt hatten: Wahrscheinlich werden wir jung sterben.“ (S. 316) 
Mit dieser Erkenntnis wird Joe Coughlin gleich zu Beginn von Lehanes Roman konfrontiert, als er mit einzementierten Füßen auf einem Schlepper im Golf von Mexico seinem Ende entgegensieht. Indem ihm bewusst wird, dass er diese missliche Lage seiner Liebe zu Emma Gould, der Geliebten von Gangsterboss Albert White, zu verdanken hat, lässt er sein turbulentes Leben Revue passieren. Lehane erweist sich dabei als versierter Kenner der Kulturgeschichte, entwirft ein atmosphärisch stimmiges Portrait der Prohibitionszeit und lässt auch relevante Themen wie Rassismus und Korruption auf lebendige Weise in die Geschichte einfließen, in der alle beteiligten Gangster nach immer größeren Gebieten und Gewinnen streben, so dass blutige Auseinandersetzungen zwischen den Italienern, Spaniern und Kubanern nicht zu vermeiden sind.
„In der Nacht“ besticht aber nicht nur durch die hohe Erzählkunst seines Autors, sondern vor allem durch die faszinierende Hauptfigur, die von starken Leidenschaften getrieben wird. Zusammen mit den facettenreichen Figuren und der dramatischen Handlung ist so eine kurzweilige Gangsterballade entstanden, die wie gemacht für die Kinoleinwand scheint.
Leseprobe Dennis Lehane - "In der Nacht"

Dennis Lehane - “Shutter Island”

Sonntag, 12. April 2009

(Ullstein, 366 S., HC)
Aus dem Ashecliffe Hospital für psychisch kranke Straftäter auf Shutter Island ist im Sommer 1954 eines Nachts die Patientin Rachel Solando aus ihrer zugesperrten Zelle entflohen. Als US-Marshal Teddy Daniels sich mit seinem neuen Kollegen Chuck Aule von Boston aus auf dem Weg zur Insel in die Festungs-ähnliche Einrichtung machen, erfahren sie, dass auch Dr. Sheehan, der Leiter der Gruppentherapie, an der Rachel am Abend zuvor teilgenommen hatte, verschwunden ist, ohne eine Spur zu hinterlassen. In Rachels Zelle finden die Marshals zwar eine Notiz mit kryptisch anmutenden Zahlenspielereien, aber sonst finden die Cops keine Hinweise auf ihr Verschwinden. Bei ihren Befragungen des Direktors und des Pflegepersonals bekommen Chuck und Teddy immer mehr den Eindruck, dass ihnen bei ihren Ermittlungen Steine in den Weg gelegt haben.
Als Chuck erfährt, dass Teddy auch nach einem Andrew Laeddis sucht, der Teddys Frau Dolores vor zwei Jahren durch eine Brandstiftung umgebracht hat, vermutet er, dass Teddy ganz persönliche Gründe hatte, sich den Fall Rachel Solando anzueignen. Zwar freunden sich die beiden ungleichen Männer immer weiter miteinander an, vermag Teddy aufgrund seiner ehemaligen Nachrichtendiensttätigkeit auch allmählich Rachels Code zu entschlüsseln, dennoch scheint hinter Rachels Verschwinden mehr zu stecken, als die Anstaltsleitung einzuräumen gewillt ist. Nach dem erfolgreich von Clint Eastwood verfilmten „Mystic River“ legt Dennis Lehane mit „Shutter Island“ einen weiteren filmreifen Roman vor.