Rachel war drei Jahre alt, als ihr Vater aus dem Leben ihrer Mutter Elizabeth und ihrem eigenen verschwand. Vier Jahre später schrieb ihre Mutter, die selbst nie verheiratet gewesen war, mit „Die Treppe“ einen Bestseller-Ratgeber darüber, wie man erfolgreich verheiratet blieb, worauf sie zwei zunehmend weniger erfolgreiche Fortsetzungen nachlegte und bei aller Popularität selbst einen unglücklichen, ja verbitterten Eindruck machte.
Nachdem ihre Mutter bei einem Autounfall getötet wurde, hat Rachel damit begonnen, ihren Vater zu suchen, von dem sie nur den Namen James und die Information besaß, dass er in Connecticut unterrichtet hat.
Während ihres ersten Collegejahrs in Boston lernt Rachel den sympathischen Detektiv Brian Delacroix kennen, der bei der Suche nach ihrem Vater zwar keine Erfolge erzielt, aber über die Jahre mit Rachel in Verbindung bleibt, als sie Karriere erst bei der Zeitung, dann beim Fernsehen macht, wo sie ihren Sebastian kennenlernt, der sie allerdings fallen lässt, als Rachel in Haiti über die Naturkatastrophe berichtet und vor laufender Kamera einen Nervenzusammenbruch erleidet.
Ihre Panikattacken führen dazu, dass sie sich kaum aus der Wohnung traut, die sie schließlich mit Brian teilt, der seine Tätigkeit als Detektiv aufgegeben hat, um im internationalen Holzhandel zu arbeiten, den seine Familie betreibt. Doch als sie Brian eines Tages in Boston sieht, obwohl er eigentlich in London sein sollte, beginnt Rachel an ihrer Ehe zu zweifeln. Tatsächlich scheint Brian ein Doppelleben zu führen, das Rachel zunehmend den Boden unter den Füßen wegzieht.
„Sie nahm ein Bild von sich und Brian von der Kommode. Ihr inoffizielles Hochzeitsfoto. Sie sah seine verlogenen Augen und sein verlogenes Lächeln, und sie wusste, dass sie ebenso verlogen war wie er. An fast jedem Tag ihres Lebens, von der Grundschule an, über High-School, College, Uni und dann im Job, hatte sie eine Rolle gespielt. Sobald diese Rolle dem Publikum nicht mehr gefiel, hatte sie sie abgelegt und war in eine neue geschlüpft.“ (S. 400)Dennis Lehane, gefeierter Autor von erfolgreich verfilmten Bestsellern wie „Mystic River“ und „Shutter Island“, legt mit „Der Abgrund in dir“ sowohl einen packenden Psychothriller als auch eine vertrackte Liebesgeschichte vor, deren komplexe Facetten sich erst nach und nach auf immer wieder überraschende Weise entfalten.
Dabei zieht der Autor den Leser von Beginn an in ein verwirrendes Geflecht ausgefeilter Inszenierungen und falscher Identitäten. Der Roman beginnt mit einer Szene, in der Rachel ihren Mann Brian auf seinem Boot erschießt, worauf rückblickend Rachels Kindheit und die verzweifelte Sehnsucht nach einem Vater aufgerollt wird, deren Identität ihre Mutter nie preisgeben wollte. Immerhin führt ihre Suche zu einem Mann, den sie – leider irrtümlich - für ihren Vater gehalten hat, der aber immerhin zu einem guten Freund wird.
Und so begegnet Rachel in ihrem Leben scheinbar nur Männern, die eine mehr oder weniger raffiniert angelegte Rolle spielen. Während Sebastian seine Karrieresucht auf längere Sicht nur ungeschickt hinter seiner Sympathie für Rachel verbergen konnte, begegnen ihr mit Brian und seinem Geschäftspartner Caleb schon ganz andere Kaliber, die Rachel in ein letztlich tödliches Betrugsszenario involvieren, das ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellt.
Lehane erweist sich einmal mehr als grandioser Erzähler, der vor allem seine Protagonistin Rachel Childs ausgezeichnet charakterisiert und Brian Delacroix so geheimnisvoll anlegt, dass die Entwicklung in der Beziehung zwischen den beiden Figuren glaubwürdig genug wirkt, um die Thriller-Komponente und das seltsam versöhnliche Finale erklären zu können. Neben dem spannungs- und wendungsreichen Plot gefällt aber vor allem das Spiel mit den Identitäten und Rollen, die Menschen im Lauf ihres Lebens annehmen, um Beziehungen und Jobs erfolgreich auszufüllen. In „Der Abgrund in dir“ beschreibt Lehane auf überzeugende Weise das erschreckende Szenario des Scheiterns eines scheinbar ausgeklügelten Rollenspiels.
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