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Joe R. Lansdale – „Moon Lake“

Sonntag, 8. Januar 2023

(Festa, 464 S., HC) 
Mit seinen bislang zehn hierzulande veröffentlichten Bänden seiner einzigartigen „Hap & Leonard“-Reihe und einer Reihe von u.a. mit dem Bram Stoker Award und Edgar Allan Poe Award preisgekrönten Büchern und Erzählungen („Die Wälder am Fluss“, „Ein feiner dunkler Riss“, „Blutiges Echo“) hat sich der texanische Autor Joe R. Lansdale in die Herzen auch der deutschen Krimi- und Horror-Liebhaber geschrieben. Nachdem seine Werke bislang hierzulande von Shayol, Suhrkamp, Rowohlt, Dumont, Golkonda, Tropen und Heyne verlegt worden sind, feiert Lansdale mit „Moon Lake“ seinen Einstand bei Festa, wo mittlerweile auch ehemals so populäre Schriftsteller wie Richard Laymon, Dean Koontz, Clive Barker und Joe Hill eine Heimat gefunden haben. 
Im Oktober 1968 machten sich der damals 14-jährige Daniel Russell und sein Vater vor dem Gerichtsvollzieher aus dem Staub und fuhren in einem klapprigen Buick zum Moon Lake. Zu diesem Zeitpunkt hatte Daniels Mutter die Familie schon vor Monaten verlassen. Als sie auf der Brücke am Moon Lake parkten, erzählte Daniels Vater, dass unter dem Moon Lake eine Stadt namens Long Lincoln läge, in der er geboren worden wäre und seine Frau kennengelernt hätte. Doch dann hätte irgendjemand entschieden, die Stadt zu verlegen, umzubenennen und die alte Stadt zu fluten. Daniel kannte die Geschichte schon, aber die Art und Weise, wie sein Vater sie am Ursprungsort wiedergab, machte dem Jungen Angst. Wenig später fuhr sein Vater den Wagen in den See. 
Der Junge konnte gerettet werden, von dem Wagen und Daniels Vater fehlte jedoch jede Spur. Daniel wurde bei zunächst bei den Candles, einer schwarzen Familie, untergebracht, bis seine Tante June wieder aus Europa zurückkam und den Jungen bei sich aufnahm. Zehn Jahre später kehrt Daniel Russell, der bereits ein Buch veröffentlicht und als Journalist bei einer Kleinstadtzeitung gearbeitet hat, zum Unglücksort zurück. Im Sommer 1978 hat die Dürre den Wasserpegel sinken lassen, so dass nicht nur der Wagen von Daniels Vater wieder aufgetaucht ist, sondern auch dessen Überreste sowie weitere körperliche Überreste im Kofferraum, die die Polizei zunächst Daniels verschwundener Mutter zuordnet. 
Daniel besucht mit Ronnie Candles, der gleichaltrigen schwarzen Polizistin, die ihn einst aus dem See gezogen hat, den Fundort, wo sie weitere Fahrzeuge und Knochenreste in den Kofferräumen vorfinden. Daniel erfährt durch Mrs. Candles und Nachforschungen in der örtlichen Bibliothek, dass offensichtlich der mächtige Stadtrat etwas mit der Flutung von Long Lincoln zu tun gehabt haben könnte, wobei wissentlich die meist schwarzen noch in ihren Häusern lebenden Bewohner ertränkt wurden. Doch der Stadtrat findet Mittel und Wege, Daniels Bemühungen zur Wahrheitsfindung auch mit Gewalt zu torpedieren… 
„Der Stadtrat, ein Club ritueller Mörder, hatte seine Existenz durch Vorstellungskraft und Gier transformiert. Es waren verschrobene Verfechter der freien Marktwirtschaft und des amerikanischen Traums. Die schlimmste Manifestation dieses Traums. Sie hatten sich selbst zu denjenigen ernannt, die die Suppe zubereiteten. Wir Restlichen wurden darin gekocht, während man uns einredete, dass uns lediglich warm sei, dass es einen Gott im Himmel gebe und die Welt in Ordnung sei, obwohl wir in Wahrheit nur existierten, damit wir mit der Suppenkelle in die Schüsseln unserer Meister gestoßen und von ihnen verspeist werden konnten.“ 
Als Texaner ist sich Joe R. Lansdale ähnlich wie seine Kollegen James Lee Burke, Larry Brown oder Tom Franklin sehr bewusst, dass der Rassismus mit dem Ende der Sklaverei längst nicht ausgerottet ist. Dass sich der Autor selbst wenig um die Trennung von Schwarz und Weiß schert, hat er bereits eindrucksvoll mit den humorvollen „Hap & Leonard“-Romanen bewiesen, in denen das titelgebende Duo aus einem heterosexuellen weißen Kriegsdienstverweigerer und einem schwulen schwarzen Vietnamveteran besteht. 
Eine ähnliche Konstellation findet sich bei „Moon Lake“. Der weiße Ich-Erzähler Daniel Russell freundet sich mit der gleichaltrigen Schwarzen Ronnie an, die ihn einst aus dem im Moon Lake versunkenen Buick seines Vaters gerettet hat und mit der er die mysteriösen Ereignisse rund um Long Lincoln und dem Moon Lake aufzuklären versucht. Lansdale driftet dabei gelegentlich in das ihm vertraute Horror-Genre ab, doch vor allem entlarvt er die Vorkommnisse in der Kleinstadt als Resultat der Gier der Stadtväter nach Macht und Reichtum, wobei sie sich schändlicher Rituale, Korruption und Betrug bedienen, um den Status Quo aufrechtzuerhalten. Lansdale fesselt seine Leserschaft mit einem flüssigen Schreibstil, einfühlsamen Charakterisierungen und bildhaften wie humorvollen Vergleichen, die man bereits in seinen früheren Werken zu schätzen gelernt hat. 
Auch wenn „Moon Lake“ nicht an so eindringliche Meisterwerke wie „Kahlschlag“, „Die Wälder am Fluss“ und „Dunkle Gewässer“ anknüpfen kann, ist Lansdale doch ein fesselnder Thriller gelungen, der einzig durch die Überzeichnung einiger Figuren wie Jack Sr., Jack Jr. und vor allem Flashlight Boy für leichte Misstöne sorgt.  

Joe Hill – „Strange Weather“

Sonntag, 14. August 2022

(Festa, 652 S., HC) 
Der 1972 als Sohn von Bestseller-Horror-Autor Stephen King und dessen Frau Tabitha geborene Joseph Hillström King hat unter seinem Pseudonym Joe Hill bereits die auch hierzulande erfolgreichen Romane „Blind“, „Teufelszeug“, „Christmasland“ und „Fireman“ veröffentlicht, doch ebenso wie sein übermächtiger Vater hat Hill auch Gefallen an kürzeren Erzählformen wie der Kurzgeschichte und der Novelle gefunden. Da fällt der Apfel eben nicht weit vom Stamm. Mit „Black Box“ ist bei Heyne bereits 2008 eine erste Kurzgeschichten-Sammlung von Joe Hill erschienen, mit „Vollgas“ legte Festa 2021 eine weitere Kollektion vor. Zuvor erschien mit „Strange Weather“ eine Sammlung von vier Novellen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. 
Mit „Schnappschuss“ begleiten wir Joe Hill auf eine kleine Zeitreise in die 1980er Jahre, als die Sofortbildkamera Polaroid der letzte Schrei gewesen ist. Hier lernen wir einen dreizehnjährigen Jungen namens Michael Figlione kennen, der sich in dem kleinen Ort Golden Orchards im Norden Cupertinos ein wenig um die zunehmend demente Nachbarin Shelly Beukes kümmert, die sich bis 1982 noch um den Haushalt der Familie des Jungen gekümmert hatte. Sie warnt ihn, dass er sich vor dem Polaroid-Mann in Acht nehmen sollte. Als Michael an der Tankstelle tatsächlich dem Mann mit der Kamera begegnet, geschehen merkwürdige Dinge, denn mit jedem Bild, das mit der Kamera geschossen wird, scheint eine Erinnerung des Portraitierten gelöscht zu werden… 
In „Geladen“ hadert Randall Kellaway mit seinem Schicksal. Nach seinem Einsatz im Irak hatte sich Kellaway sowohl bei der State Police, der örtlichen Polizei, dem Sheriff’s Office und dem FBI beworben, doch beim FBI hat er den psychologischen Aufnahmetest nicht bestanden, bei all den anderen Behörden kam es nicht mal zum Vorstellungsgespräch. Nun schiebt er als Sicherheitsbeamter in einem Einkaufszentrum Dienst und ist verärgert darüber, dass seine Ex-Frau Holly eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt hat, dass er ihr und ihrem gemeinsamen Sohn George gegenüber einen Abstand von mindestens 300 Metern einhalten muss. Sein einziger Freund Jim Hirst sitzt zwar im Rollstuhl und leidet darunter, dass seine Frau fremdgeht, dafür nennt er eine ansehnliche Waffensammlung sein eigen. Davon profitiert schließlich auch Kellaway, als er eines Tages im Einkaufszentrum in den Juwelierladen „Devotion Diamonds“ von Roger Lewis stürmt, um ein Massaker zu verhindern. Rog hatte nämlich gerade mit seiner 20-jährigen Angestellten und Geliebten Becki Schluss gemacht, die ihn daraufhin mit einer .357er erschoss. Als Kellaway in den Laden stürmt, schaltet er allerdings nicht nur die Schützin aus, sondern auch eine muslimische Frau mit ihrem Baby und einen fettleibigen Zeugen. Von der Presse wird Kellaway als Held gefeiert, doch die Reporterin Aisha Lanternglass kommt nach und nach den wahren Ereignissen auf die Spur… Nachdem die 23-jährige June Morris vom Krebs dahingerafft worden ist, haben sich ihre beiden Brüder Brad und Ronnie, ihre beste Freundin Harriet Cornell und Aubrey dazu entschlossen, zu ihrem Gedenken einen Fallschirmsprung zu absolvieren. Während Junes Brüder jedoch schon Erfahrungen mit dem Springen gemacht haben, ist es für Aubrey und Harriet das erste Mal. 
Vor allem Aubrey hat „Hoch oben“ große Angst vor dem Absprung, doch als der Motor des Flugzeugs ausfällt, bleibt ihm letztlich nichts anderes übrig, als auch zu springen. Zu seiner Überraschung landet er dabei auf einer festen Wolke, auf der Dinge entstehen, die Aubrey kurz zuvor noch gedacht hatte. Seine Zeit verbringt Aubrey dabei vor allem mit den Erinnerungen daran, wie er Harriet kennen und lieben gelernt hat. 
Mit „Regen“ hat Hill schließlich sein eigenes Weltuntergangsszenario geschaffen. Bei einem Gewitter über Boulder, Colorado, regnet es nämlich keine Wassertropfen, sondern nadelspitze Metallsplitter, die ein Meer der Verwüstung hinterlassen. Was zunächst als terroristischer Anschlag betrachtet wird, scheint sich allerdings als natürliches, wenn auch seltenes Phänomen zu entpuppen, bei dem durch Blitze eine Form des Kristalls Fulgurit entsteht. Die 23-jährige Honeysuckle Speck verliert durch den Nadelregen ihre Geliebte Yolanda und macht sich zu Fuß auf den Weg ins dreißig Kilometer entfernte Denver, um Yolandas Vater über den Tod seiner Tochter zu unterrichten… 
„Novellen sind Killer, keine Füller, sie kommen auf den Punkt, wo Romane ausschweifend werden. Sie haben die Ökonomie von Kurzgeschichten, sind aber aufgrund ihrer Länge in der Lage, eine Charakterisierung zu erreichen, die wir üblicherweise bei Romanen erwarten“, fasst Hill im Nachwort von „Strange Weather“ die Eigenschaften der Novelle zusammen. Besonders originell sind die hier vier vereinten Geschichten zwar nicht gelungen, dafür versteht der Autor es ähnlich wie sein Vater hervorragend, den Plot einer Geschichte mit Kommentaren zur Gesellschaft zu versehen. 
Während „Schnappschuss“ vor allem als Coming-of-Age-Story mit einem vertrauten übernatürlichen Element überzeugt, stellt „Geladen“ natürlich einen bissigen Kommentar auf die schwer nachvollziehbare Liebe der Amerikaner zu ihren Waffen dar. „Hoch oben“ gefällt weniger durch das sicher interessante Setting als durch Aubreys Charakterisierung, wie sie durch seine Erinnerungen und seine Liebe zu Harriet zum Ausdruck kommt. Und bei „Regen“ ist es die lesbische Liebesgeschichte, die im Vordergrund steht, aber auch traditionelle Werte wie Familie und Hilfsbereitschaft kommen bei dem dystopischen Szenario nicht zu kurz, auch wenn Plünderungen, Morde und überzogene Reaktionen auf die Katastrophe das beherrschende Thema zu sein scheinen. 
Die beiden bei Festa erschienenen Sammlungen von Joe Hill sind sicher keine Must-Reads, nicht mal für Joe-Hill-Fans, doch ebenso wie „Vollgas“ bietet auch „Strange Weather“ einige nette Ideen, einen flüssigen Schreibstil, eine Art von Humor, wie man sie bereits von Stephen King her kennt, und ausgefeilte Figurenzeichnungen, die zu den bemerkenswertesten Stärken des Autors und seiner Geschichten zählen.

Joe Hill – „Vollgas“

Sonntag, 29. Mai 2022

(Festa, 478 S., eBook) 
Um sich von dem Namen seines übermächtigen Vaters, Horror-Ikone Stephen King, zu emanzipieren, schreibt Joseph Hillström King seit jeher unter dem Pseudonym Joe Hill, hat sich aber mit Romanen wie „Blind“, „Teufelszeug“ und „Christmasland“ längst aus dem Schatten des Mannes lösen können, der wie kein Zweiter die moderne Horror-Literatur geprägt hat. Während sein Vater mit Joe Hills jüngeren Bruder Owen King schon den epischen Roman „Sleeping Beauties“ zusammen geschrieben hat, ist es bei Joe Hill und Stephen King bislang nur bei Kurzgeschichten zu einer Zusammenarbeit gekommen, die sich in dem von Festa herausgegebenen Band „Vollgas“ in Form zweier eindrucksvoller Geschichten wiederfindet. Die übrigen elf Geschichten können das hohe Niveau der beiden Gemeinschaftsarbeiten allerdings nicht immer halten. 
Mit der gemeinsam geschriebenen Geschichte „Vollgas“, die von HBO verfilmt werden soll, nimmt die Sammlung immerhin gleich ordentlich Fahrt auf. Nach einem unerfreulichen Zwischenfall, bei dem ein junges Mädchen und Roy Klowes auf brutale Weise getötet wurden, befindet sich die Bikergang The Tribe von Vince Adamson und seinem rebellischen Sohn Race auf der Fahrt nach Vegas und macht im Painted Desert Halt, wo sich die Truppe über ihr weiteres Vorgehen abstimmen muss. Dean Clarke hatte vor, mit einem Startkapital von 60.000 Dollar mit Race ein Meth-Labor in Smith Lake aufzubauen, wozu ihm Vince mit zwanzig Riesen aushalf, doch das Labor brannte bereits am ersten Betriebstag aus. Nun will sich Race die 60 Riesen von Clarkes Schwester in Show Low zurückholen. Nachdem ein Truckfahrer die Unterhaltung mitverfolgt hat, macht er sich mit seinem Truck zunächst vom Acker. Als der Tribe eine Stunde später wieder auf den Truck stößt, macht der Fahrer nach und nach kurzen Prozess mit den Gang-Mitgliedern… 
Im Nachwort macht Joe Hill keinen Hehl daraus, dass „Vollgas“ von Richard Mathesons fabelhafter Geschichte inspiriert wurde, die der junge Steven Spielberg als „Duell“ verfilmt hat. Auch wenn „Vollgas“ wenig originell wirkt, hat sie doch das nötige Tempo und den Nervenkitzel, um überzeugen zu können. 
In „Das Karussell“ besucht der 18-jährige Paul mit seiner Freundin Geri, ihrem Bruder Jake und dessen Freundin Nancy das am Ende des Cape Maggie Piers gelegene Karussell „Wild Wheel“, dessen Tiere eine verstörende Kollektion grotesker Wesen darstellen. Der Karussellmann hat zu jedem der ungewöhnlich aussehenden Tiere eine exklusive Geschichte parat. Nach ein paar Runden auf dem Karussell lassen sich die vier Freunde weiter durch den Freizeitpark treiben, bis Nancy feststellt, dass ihr ein nagelneuer Fünfziger abhandengekommen ist. Kaum spricht Paul die Vermutung aus, dass der Karussellmann dafür verantwortlich gewesen sein könnte, als er Nancy auf das Pferd half, nimmt Jake dem mittlerweile seinen Rausch ausschlafenden Karussellbetreiber zwei Zwanziger ab, doch wenig später entwickeln die Tiere des Wild Wheel ein furchterregendes Eigenleben… 
In „Wolverton Station“ begegnen uns während einer Zugfahrt Wölfe in Menschengestalt, „An den silbernen Wassern des Lake Champlain“ bekommen wir eine Variation des Ungeheuers von Loch Ness vorgesetzt, in „Faun“ trifft sich eine exklusive Großwild-Jäger-Truppe. Nach diesen wenig inspirierenden Geschichten taucht mit „Überfällig“ wieder ein echtes Highlight auf. 
Nachdem sich seine Eltern gemeinsam in dem Auto bei laufendem Motor in ihrer Garage aus dem Leben geschieden sind, hat John Davies seinen Job als Fahrer bei einer Spedition verloren und bekommt zufällig die Möglichkeit, in der Bücherei, in die er das längst überfälliges Buch „Eine wunderbare Geschichte“ seiner Mutter zurückbringen wollte, den Büchereibus zu fahren. Doch seine Kunden scheinen oft aus einer anderen Zeit zu kommen…
 „Die Möglichkeit, dass jemand aus den 60er Jahren aufgetaucht sein könnte, um ein überfälliges Buch zurückzugeben und vielleicht neuen Lesestoff auszuleihen, hatte nicht die Wirkung auf mich, die man vielleicht erwarten würde. Ich hatte keine Angst, zu keinem Zeitpunkt. Ich war nicht beunruhigt. Eher verspürte ich so etwas wie Dankbarkeit und auch eine gewisse mild amüsierte Verwirrung.“ (S. 203) 
Mit „Meine Welt dreht sich nur um dich“ präsentiert Hill eine unterhaltsame Science-Fiction-Geschichte über ein Mädchen, das zu seinem Geburtstag von seinem Vater eine Kristallkugel mit einer hässlichen Meerjungfrau geschenkt bekommt, zur Feier des Tages aber einen Münz-Freund mietet, der ihr eine Stunde lang wie Aladins Flaschengeist nahezu alle Wünsche zu erfüllen verspricht. Gemeinsam machen sie sich zur Spitze der Speiche auf, um einen echten Sonnenuntergang zu erleben. Doch damit ist das Abenteuer noch längst nicht vorbei… „Tweets aus dem Zirkus der Toten“ verbindet auf intelligente, satirisch angehauchte Weise klassischen Horror mit den Tücken moderner Kommunikationskanäle, in „Mums“ wird die Leiche der beerdigten Mutter von Jack durch eine ungewöhnliche Samen-Mischung zu unnatürlichen Leben wiedererweckt. 
Die wiederum mit Stephen King verfasste Geschichte „Im hohen Gras“ erzählt von der Fahrt, die Cal DeMuth mit seiner im sechsten Monat schwangeren Schwester Becky von Portsmouth zu Onkel Jim und Tante Anne nach San Diego unternehmen und dabei auf dem Parkplatz einer Kirche aus dem nahegelegenen Feld den Hilferuf eines Jungen vernehmen. Doch als Becky und Cal dem Ruf in das hohe Gras folgen, erwartet sie das pure Grauen… 
Ebenso interessant wie die besten Geschichten in diesem Band sind das Vorwort und die Anmerkungen zum Schluss, in denen Joe Hill davon schreibt, wie er als Sohn eines so berühmten Vaters seine ersten eigenen Versuche, Schriftsteller zu werden, bewerkstelligte und welche Personen, Schriftsteller und Geschichten ihn selbst inspiriert haben. Die Geschichten sind in einem Zeitraum von über einem Jahrzehnt entstanden und decken ein breites Spektrum an Themen ab, sind dabei aber unterschiedlich in Spannungsaufbau, Atmosphäre und Auflösung. Da mindestens die Hälfte der Geschichten großartig unterhalten, sind die weniger interessanten durchaus zu verschmerzen.  

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 3) „Kalt wie Stahl“

Samstag, 13. Juli 2019

(Festa, 448 S., Tb.)
Nachdem der ehemalige Privatdetektiv Joe Kurtz für den Mord an dem Killer seiner damaligen Partnerin Samantha Fielding für elfeinhalb Jahre in den Bau gewandert war, hat er sich seit seiner Freilassung vor einem Jahr mit der Online-Partnervermittlung Sweetheart Search selbständig gemacht, für die allerdings seine Sekretärin Arlene Demarco die Hauptarbeit leistet. Kurtz wiederum widmet sich inoffiziell weiterhin der Arbeit, die er am besten kann, hat sich in den vergangenen Jahren auch für die beiden in Buffalo regierenden Mafia-Familien Farino und Gonzaga als Ermittler betätigt und zwischen beiden Parteien auch vermittelt.
Als er den wöchentlichen Termin bei seiner mehr als anständigen Bewährungshelferin Peg O’Toole wahrnimmt, legt sie ihm Fotos verrosteter Fahrgeschäfte eines offensichtlich stillgelegten Freizeitparks vor, mit denen Kurtz allerdings nichts anfangen kann. Wenig später begegnen sich beide in der Tiefgarage des Amtsgebäudes, worauf das Feuer auf sie beide eröffnet wird. O’Toole wird dabei lebensgefährlich verletzt, aber auch Kurtz landet mit einem Streifschuss am Kopf im Krankenhaus, wo er sogleich von Detective Paul Kemper und seiner Kollegin Rigby King verhört wird. Sie war Kurtz‘ erste Freundin, nachdem sie sich im Waisenhaus von Pater Baker und später in Thailand kennen- und lieben gelernt hatten.
Doch nicht nur die Polizei hat ein Interesse an den Vorgängen in der Tiefgarage, auch O’Tooles Verlobter Brian Kennedy, der das Sicherheitsunternehmen leitet, das auch für die Überwachungskameras am Tatort zuständig ist, und Major a.D. Michael O’Toole, der an den Rollstuhl gefesselte Onkel der im Koma liegenden Bewährungshelferin, wollen von Kurtz ein paar Antworten. Der ist nach seiner Selbstentlassung aus dem Krankenhaus damit beschäftigt, sowohl für Angelina Farino Ferrara als auch Toma Gonzaga herauszufinden, wer hinter den Morden an Heroin-Dealern auf beiden Seiten verantwortlich ist. Während Kurtz schließlich das Gelände des stillgelegten Freizeitparks ausfindig macht, nach dem Peg O’Toole gefragt hat, räumt ein Killer, der sich Dodger nennt, weiter in Kurtz‘ unmittelbarer Umgebung auf …
„Zweimal hatte er jetzt schon beschlossen, diesen Ex-Privatschnüffler umzubringen. Zweimal hatte er sich darauf vorbereitet, auch die Frau zu töten, die mit dem Privatschnüffler zusammen war. Zweimal war er dabei gestört worden. Der Artful Dodger mochte das gar nicht – vor allem, wenn der Major oder seine Leute mitmischten.“ 
2003 veröffentlichte der preisgekrönte Bestseller-Autor Dan Simmons („Drood“, „Sommer der Nacht“) leider schon den letzten Band seiner Trilogie um den ehemaligen Privatdetektiv Joe Kurtz und setzte damit seine Duftmarke in dem Hardboiled-Krimi-Genre. Mit Joe Kurtz ist Simmons eine Figur gelungen, die sich nicht scheut, dahinzugehen, wo es wehtut. Auch im dritten Band „Kalt wie Stahl“ kämpft Kurtz wegen seiner Verletzungen ständig mit rasenden Kopfschmerzen und schlecht verheilten Wunden, doch lässt er sich davon nicht aufhalten, für die Fragen, die ihn beschäftigen, auch eine Antwort zu finden. Da hat es Kurtz wieder mit hartnäckigen Polizisten, seiner ehemaligen Freundin, verschiedenen Mafia-Größen, beharrlichen Auftragskillern und lukrativen Drogendeals zu tun, dass es eine Wonne ist, die Mischung aus Jerry-Bruckheimer-, Jason-Bourne- und James-Bond-Action Seite für Seite in atemloser Spannung zu verfolgen.
Im Vergleich zu den beiden Vorgänger-Bänden „Eiskalt erwischt“ und „Bitterkalt“ ist „Kalt wie Stahl“ nicht nur umfangreicher ausgefallen, Simmons hat auch seine Figuren mit mehr Inneneinsichten ausgestattet, nur seine zuvor öfter thematisierte Beziehung zu Sams (und seiner eigenen?) Tochter Rachel bleibt diesmal fast außen vor. Das Action-Feuerwerk ist wieder etwas hanebüchen bombastisch ausgefallen, und besonders glaubwürdig ist es irgendwann auch nicht mehr, wie Kurtz immer wieder sich aus den lebensgefährlichsten Notlagen zu befreien versteht, aber Freunde harter Thriller-Unterhaltung kommen wieder voll auf ihre Kosten.

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 2) „Bitterkalt“

Freitag, 12. Juli 2019

(Festa, 384 S., Tb.)
Auch wenn der ehemalige Privatdetektiv und für den Rachemord an den Killern seiner damaligen Partnerin Sam Fielding zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilte Joe Kurtz nach seiner Freilassung die Auseinandersetzung mit dem Farino-Clan, dem korrupten Bullen Hathaway und diversen Auftragskillern inklusive des legendären Dänen überlebt hat, kommt der taffe Ermittler nicht zur Ruhe. Angelina Farino, die nach dem Ableben des Dons solange die Geschäfte der Familie weiterführt, bis ihr Bruder Little Skag aus dem Knast entlassen wird, hat nämlich die Drei Stooges auf Kurtz angesetzt, ihm die Lebenslichter auszublasen, doch stellen sie sich natürlich zu dumm an, um dem wackeren Stehaufmännchen wirklich zu nahe zu kommen.
Während seine Sekretärin Arlene Demarco neue Büroräume für sein Unternehmen High School Sweetheart Search sucht, nachdem der Pornoladen, in dessen Kellerräumen die Firma bislang residierte, vor dem Abriss steht, sieht Kurtz regelmäßig bei Sams vierzehnjähriger Tochter Rachel nach dem Rechten, da sie bei ihrem 42-jährigen, regelmäßig wegen Trunkenheit am Steuer angezeigten Stiefvater Donald Lee Rafferty nicht zwingend in den besten Händen ist.
Tatsächlich verursacht Rafferty einen Verkehrsunfall, bei dem Rachel schwer verletzt wird und Milz und eine Niere verliert. Bevor sich Kurtz aber um eine Endlösung für Rafferty kümmern kann, erweist er seinem loyalen Informanten Pruno einen Gefallen, indem er sich mit einem seiner Freunde trifft. Der Violinist John Wellington Frears bittet Kurtz, einen Mann namens James B. Hansen ausfindig zu machen, einem Fakultätskollegen, der Frears‘ Tochter Crystal vor knapp zwanzig Jahren ermordet haben soll und der nun offenbar unter einem anderen Namen gerade in Buffalo ist.
Kurtz kommt bei seinen Nachforschungen einem hochintelligenten Mann auf die Spur, der im Laufe seiner Karriere die verschiedensten Namen trug und Berufe ausübte. Derzeit lebt er mit seiner Frau Donna und ihrem Sohn Jason im Vorort Tonawanda und arbeitet unter dem Namen Robert Gaines Millworth im Morddezernat von Buffalo. Und schließlich heuert Angelina Farino Ferrara Kurtz an, Emilio Gonzaga und seine Topleute zu töten. Schließlich soll Gonzaga damals den Befehl gegeben haben, Samantha zu töten. Kurtz muss nicht lange überlegen, um auf den Deal einzugehen:
„Er hatte brav seine elfeinhalb Jahre für die Tötung von Sams Mördern abgesessen, weil Samantha Fielding in jeder Hinsicht seine Partnerin war und er ihr das schuldete. Aber jetzt stellte sich heraus, dass er diese Jahre umsonst hinter Gitter verbracht hatte. Wenn der Auftrag für Sams Ermordung von Emilio Gonzaga stammte, dann musste der sterben.“ 
Wie schon im ersten Joe-Kurtz-Band „Eiskalt erwischt“, mit dem der preisgekrönte US-amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Terror“, „Hyperion“) das Genre des Hardboiled-Krimis für sich entdeckte und dabei ein adrenalinbefeuertes Action-Feuerwerk abfackelte, geht es in „Bitterkalt“ von Beginn an mächtig zur Sache, dass die Fetzen, Fäuste und Kugeln fliegen. Kurtz befindet sich dabei zwischen allen möglichen Fronten, setzt sich für Sams Tochter Rachel ein, jongliert zwischen den beiden rivalisierenden Mafia-Clans, ist einem Serienkiller auf der Spur und muss sich noch einen weiteren Cop vom Hals schaffen, der wie Hathaway zuvor auf der Gehaltsliste der Mafia steht.
An sich bietet der komplexe Plot Stoff für mehrere Thriller, doch Simmons hat sichtlich Spaß daran, seinen erstaunlich widerstandsfähigen Helden in einem mörderischen Tempo durch möglichst viele absurde Situationen zu bugsieren, bis er am Ende die (meisten) Bösen zur Strecke gebracht hat. So unglaubwürdig die dramatischen Höhepunkte auch ausfallen, sorgen die flotte Schreibe und der knackige Dialogwitz für kurzweilige Thriller-Unterhaltung, wobei sich Simmons diesmal mehr Mühe gegeben hat, die Hintergrundgeschichten seiner Figuren auszuarbeiten.

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 1) „Eiskalt erwischt“

Donnerstag, 11. Juli 2019

(Festa, 336 S., Tb.)
Um seine ehemalige Partnerin Sam Fielding zu rächen, tötet Privatdetektiv Joe Kurtz erst den einen ihrer Killer, wirft dann den zweiten namens Eddie Falco aus dem Fenster eines Hochhauses, direkt auf das Dach eines Polizeiwagens. Kurtz lässt sich widerstandslos festnehmen und verbringt die nächsten elfeinhalb Jahre im Knast von Attica. Als er von seiner Assistentin Arlene Demarco abgeholt wird, gründet er im Keller eines Porno-Shops in Buffalo eine Partnervermittlung für ehemalige Highschool-Liebschaften, wobei Arlene die Büroarbeit übernimmt und Kurtz den Überbringer für den einen oder anderen Stapel von alten Liebesbriefen.
Doch obwohl Kurtz wegen seiner Haftstrafe keine Waffen tragen, sich nicht mit Kriminellen treffen darf und schon gar nicht seine Lizenz als Privatdetektiv zurückbekommt, bietet er dem Mafioso Byron Tatrick Farino, dessen Sohn Stephen „Little Skag“ Farino er im Gefängnis vor Repressalien beschützt hatte, seine Dienste an, indem er Nachforschungen zum vermissten Farino-Buchhalter Buell Richardson anstellt. Kurtz gerät in kürzester Zeit zwischen die Fronten der immer schwächer werdenden Farino-Familie und den Gonzagas, legt sich mit dem neuen Rechtsanwalt der Familie, Leonard Miles, an, schmeißt einen seiner ehemaligen Klienten – so will es später die Legende – in die Niagara-Fälle und lässt sich auf eine Affäre mit der Farino-Tochter Sophia ein.
Schließlich bekommt es Kurtz auch mit dem Profikiller zu tun, der nur als der Däne bekannt ist, mit der Killer-Truppe sowohl der Farinos als auch der Gonzagas und dem korrupten Cop Hathaway, aber Kurtz ist all seinen Verfolgern immer einen Schritt voraus, kann dabei sowohl auf die Loyalität seiner Sekretärin Arlene, seiner Bewährungshelferin Peg O’Toole als auch seines Informanten Pruno zählen, der nach seiner akademischen Laufbahn als Obdachloser in Buffalo lebt.
„Kurtz hatte die Idee für die Ablenkung nicht der Ilias entliehen. Aber nach Prunos Vorschlag, sich an den gelesenen Büchern zu orientieren, war ihm wieder ein reißerischer Spionagethriller eingefallen, der in den Zellentrakten von Attica die Runde machte. Irgendwas über Ernest Hemingway, der sich während des Zweiten Weltkriegs auf Kuba als Spion versucht hatte.“ 
Kurtz findet heraus, dass Richardson Geschäften auf die Schliche kam, die Miles an der Familie vorbei am Laufen hatte, und aus dem Weg geräumt worden war, als er einen Anteil an der Beute verlangte. Die Luft wird damit auch für Joe Kurtz immer dünner …
Dan Simmons hat sich seit Mitte der 1980er Jahre sowohl im Horror- als auch Science-Fiction-Genre einen Namen gemacht und mit Werken wie „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Hyperion“, „Sommer der Nacht“ und „Ilium“ Preise wie den World Fantasy Award, Locus Award und Bram Stoker Award errungen. 2001 erweiterte er sein literarisches Spektrum um den Hardboiled-Detektivroman, womit er die Tradition von Schriftstellern wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler aufgreift und sie ins Extreme steigert. Simmons hält sich weder mit einer Einführung seiner Figuren, noch mit einer moderaten Entwicklung des Plots auf, sondern setzt von Beginn an auf ein hohes Tempo und krasse Action. Erst nach und nach werden die einzelnen Puzzleteile von Joes Vergangenheit aufgegriffen, wobei Sams Tochter Rachel, die bei ihrem raubeinigen Stiefvater lebt, zu den interessanteren Aspekten zählt. Bei dem halsbrecherischen Tempo und der teilweise recht abstrusen Entwicklungen im Plot kommen die Charakterisierungen der Figuren zwangsläufig zu kurz, und die halsbrecherische Art, wie Kurtz mit seinen oft übermächtig wirkenden Gegners umgeht, wirkt auf Dauer arg übertrieben. Doch Simmons erweist sich auch im Hardboiled-Krimi-Sektor als großartiger Stilist, der vor allem das Lebensgefühl in der zunehmend heruntergekommenen, von Drogen, Gewalt und Korruption geprägten Stadt Buffalo gut einzufangen versteht. Auf jeden Fall hat er mit Joe Kurtz eine kluge und schlagkräftige Figur geschaffen, die es bislang auf zwei Fortsetzungen gebracht hat.

Dan Simmons – „Lovedeath“

Sonntag, 21. April 2019

(Festa, 432 S., Tb.)
Nachdem sich Dan Simmons sowohl im Horror-Genre (mit „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“) als auch in der Science-Fiction („Hyperion“-Trilogie, „In der Schwebe“) einen Namen gemacht und mit „Styx – Dreizehn dunkle Geschichten“ bereits eine Kurzgeschichten-Sammlung veröffentlicht hatte, legte er mit „Lovedeath“ 1993 eine Sammlung von fünf Novellen vor, die sich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit dem Themenkomplex Liebe und Tod auseinandersetzen.
In „Das Bett der Entropie um Mitternacht“ hat ein Versicherungsvertreter, der seinen Sohn bei einem unglücklichen Unfall während des Umzugs verlor, eine „Akte Orange“ für bizarre Unglücksfälle angelegt und lässt bei einer Fahrt mit seiner Tochter Caroline auf einer Bergrutschbahn die merkwürdigsten Fälle Revue passieren, wobei er eine interessante Theorie entwickelt.
„Tod in Bangkok“ lässt im späten Frühjahr des Jahres 1992 Dr. Merrick nach Bangkok zurückkehren, wo er im Mai 1970 mit seinem ebenso kräftigen wie gebildeten Kameraden Tres einen siebentägigen Fronturlaub verbracht hatte. Damals kam sein Freund dabei ums Leben, weil sie von den billigen Sex-Vergnügen genug hatten und Tres sich kostspieligeren, aber auch zu sinnlicheren wie gefährlicheren Leidenschaften hinziehen ließ.
„Sex mit Zahnfrauen“ schildert die Erinnerungen des Indianer-Jungen Hoka Ushte (Lahmer Dachs), der im Alter von siebzehn Jahren nichts anderes im Sinn hatte, als dem fünfzehnjährigen Mädchen Laufendes Kalb nachzustellen. Nach einem Traum bittet er den heiligen Mann des Lagers, ihn auf die Reise zu schicken, um herauszufinden, ob er selbst zum heiligen Mann berufen sei. Die Vision, die den jungen Mann während der vier anberaumten Tage in einer Schwitzhütte in den heiligen Schwarzen Bergen heimsucht, beunruhigt die Stammesväter zutiefst …
In einer nicht allzu fernen Zukunft berauschen sich die Amerikaner an ihren täglichen „Flashback“-Dosen, die es ihnen ermöglicht, bestimmte Momente ihres Lebens wiederzuerleben. Während die Gerichtsstenografin Carol ihre glücklichsten Momente mit Danny aufruft, sucht ihr fünfzehnjähriger Sohn Val den besonderen Kick durch einen Mord, dessen Nacherleben im Flashback viel intensiver sein soll. Und ihr Vater Robert hofft, durch das Erleben wiederholter Flashbacks irgendwann eine Möglichkeit zu finden, das Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern.
„Auf dem Freiluftgelände wimmelte es zur Mittagszeit von Einkäufern und Flashback-Pennern. Val fiel auf, dass immer mehr Leute einfach nicht mehr zur Arbeit gingen; die Echtzeit wirkte sich störend auf ihr Flashen aus. Er fragte sich, ob sich der Müll aus diesem Grund immer so hoch an den Bordsteinen stapelte, warum kaum noch Post zugestellt wurde und warum nichts mehr so richtig zu laufen schien, wenn keine Japaner als Aufseher dabei waren.“ (S. 243) 
„Der große Liebhaber“ ist das lange verschollene Kriegstagebuch des britischen Dichters James Edwin Rooke, das nicht zuletzt wegen seines schockierenden Materials erst Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht wurde. Darin schildert der Infanterieoffizier nicht nur die schrecklichen Erlebnisse in den französischen Schützengräben, in denen die Briten im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpften, sondern auch von erotischen Visionen einer Lady, die für den Kriegsdichter die Personifizierung des Todes darstellte.
In seinem ausführlichen Vorwort erklärt Dan Simmons, warum Novellen es auf dem Literaturmarkt so schwer haben, denn weder Verleger noch Leser wüssten mit dem Mittelding zwischen Kurzgeschichte und Roman recht was anzufangen. Eine Sammlung von mehreren Novellen zu einem romanlangen Buch lässt sich da schon eher vermarkten, gerade wenn man neben Stephen King, Clive Barker und Peter Straub zu den prominentesten Vertretern der phantastischen Literatur zählt. Für die Novellen-Sammlung „Lovedeath“, die Simmons in Anlehnung an Wagners Oper „Tristan und Isolde“ eigentlich „Liebestod“ nennen wollte, setzt Simmons aber nur überschaubare Akzente aus diesem Genre und erweist sich als kompetent vielseitiger Erzähler, der in der ersten Geschichte die ironisch gefärbte Geschichte eines Versicherungsvertreters präsentiert, der feststellen muss, dass es Liebe ohne Risiko nicht geben kann.
Mit „Tod in Bangkok“ liegt nicht nur die sinnlichste Story des Bandes vor, sondern auch die passende Ergänzung zu Simmons‘ erfolgreichen Romandebüt „Göttin des Todes“, während sich „Sex mit Zahnfrauen“ wohltuend von den romantisierenden Indianer-Mythen von Hollywood-Epen wie „Der mit dem Wolf tanzt“ abhebt und tief in die mythische Welt der Sioux-Indianer eintaucht und „Flashback“ auf die heute noch viel ausgeprägtere Thematik ausgerichtet ist, wie sich zum einen der zunehmende Medienkonsum und die Globalisierung auf die Lebensqualität des Einzelnen auswirkt.
Die längste Geschichte stellt hier aber auch leider die schwächste dar. Zwar vermag Simmons in „Der große Liebhaber“ die Kriegsdichtung aus dem Ersten Weltkrieg und die Erlebnisse im damaligen Stellungskrieg überzeugend vor Augen führen, die unkontrollierten Begegnungen des Ich-Erzählers mit der „Lady in Weiß“ wirken allerdings aufgesetzt und nicht überzeugend in den Kontext eingebettet. Die Geschichten in „Lovedeath“ sind im Vergleich zu Simmons‘ großartigen Romanen weitaus verspielter angelegt und über überraschend viele Genres gestreut. Statt die Lesererwartungen mit einem Happy End zu befriedigen, begnügt sich der Autor meist damit, interessante Gedanken weiterzuspinnen und entsprechende Stimmungen statt Spannung zu erzeugen. Insofern gelingt Simmons der Spagat zwischen ernsthafter und Unterhaltungsliteratur, wird dabei aber nicht alle seine Fans zufriedenstellen können.

Graham Masterton – „Grauer Teufel“

Dienstag, 24. November 2015

(Festa, 414 S., Pb.)
Jerry Maitland ist gerade zum Teilhaber bei Shockoe Immobilien befördert worden und hat mit seiner schwangeren Frau Alison ein großes, schmales Haus im historischen Church-Hill-Viertel von Richmond bezogen, als das zunächst Jerry auf unerklärliche Weise schwer verletzt wird und Alison gerade, als sie den Notruf alarmiert, mit einer Art Schwert zerstückelt wird.
Als Lieutenant Decker Martin und sein junger Kollege Hicks die Ermittlungen aufnehmen, will niemand einen Täter gesehen haben. Auch lassen sich in dem Blutbad überhaupt keine Beweise finden, weder die Tatwaffe noch Fußspuren oder Fingerabdrücke.
Allein das unter dem Downsyndrom leidende Mädchen Sandra konnte mit ihrer besonderen Gabe einen ganz in Grau gekleideten Mann in einem schweren Mantel mit Flügeln und einem Schwert sehen, von dem sie einen Tag später eine erstaunlich akkurate Zeichnung abliefert.
Wenig später häufen sich die Todesfälle, die auf scheinbar unsichtbare Täter hinweisen. Davon abgesehen gibt es keine offensichtlichen Verbindungen zwischen den Morden.
Allerdings scheint die legendäre Teufelsbrigade, die im Bürgerkrieg eine Schlacht entschieden hat, im Stammbaum der Toten eine Rolle gespielt zu haben. Und als Decker seine vor zwei Jahren verstorbene Freundin Cathy immer wieder zu sehen beginnt und dabei der Name der heiligen Barbara auftaucht, beginnt der zunächst skeptische Lieutenant auch an den Einfluss der Santería-Religion zu glauben.
„Vor seinem geistigen Auge sah Decker Cathys Kopf wieder und wieder explodieren. Die Vorstellung, dass sie diese Szene in einer Endlosschleife ertragen musste, war mehr, als er ertragen konnte. Er hatte inzwischen genug gesehen und gehört, um daran zu glauben, dass es so etwas wie ein Leben nach dem Tod tatsächlich gab. Die Geister der Verstorbenen wandelten weiterhin über die Erde, auch wenn sie sich nur in bestimmten Momenten zu erkennen gaben.“ (S. 215) 
Decker bekommt von mehreren Seiten die Warnung zu hören, dass sich die heilige Barbara an ihm rächen will, und setzt den Santero Moses Adebolu darauf an, einen Gegenzauber zu erwirken. Mittlerweile häufen sich die Anzeichen, dass Decker selbst in höchster Lebensgefahr schwebt… Nachdem die Autoren-Karriere des Briten Graham Masterton bei „Penthouse“ und mit dem Verfassen von Sex-Ratgebern begonnen hatte, ist er mittlerweile neben Clive Barker, Ramsey Campbell und James Herbert einer der bekanntesten Horror-Schriftsteller von der Insel, dessen Werke früher bei Bastei Lübbe, Goldmann und Heyne erschienen sind und der seine deutsche Verlagsheimat nun bei Festa gefunden hat.
Mit „Grauer Teufel“ ist Masterton ein thematisch vielschichtiger, atmosphärisch stimmiger und spannender Horror-Thriller klassischer Ausprägung gelungen, der Besonderheiten des amerikanischen Bürgerkriegs, der katholischen Heiligen und der aus Afrika eingeführten Santería-Religion miteinander verbindet. Dabei hat er vor allem mit Decker Martin einen starken und empathischen Protagonisten kreiert, den der Leser gleich sympathisch findet, aber auch die Nebenfiguren sind Masterton glaubwürdig gelungen. Wer Freude an einem atmosphärisch dichten Voodoo-Thriller hat, ist mit „Grauer Teufel“ bestens bedient.
Leseprobe Graham Masterton - "Grauer Teufel"

F. Paul Wilson (Handyman Jack 10) – „Der Erbe“

Sonntag, 9. August 2015

(Festa, 469 S., Tb.)
Jack sitzt gerade vor seinem Kaffee in seiner Stammkneipe Julio’s an der Upper West Side von New York, als er von dem einst erfolgreichen Werbefuzzi Timmy O’Brien darum gebeten wird, bei der Suche nach seiner am Vormittag verschwundenen 14-jährigen Nichte Caitlin zu helfen. Jack tätigt einige Anrufe und bekommt nach einiger Zeit tatsächlich einen Hinweis durch einen Obdachlosen, der etwas gesehen haben will. Tatsächlich kann Jack im letzten Augenblick verhindern, dass das Mädchen Opfer einer offensichtlich rituellen Zeremonie geworden ist.
Jack heftet sich an die Fersen der Männer, die in ihren schwarzen Anzügen mit Hüten und Sonnenbrillen einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen, und sieht sich unversehens mitten in der seit ewigen Zeiten währenden Auseinandersetzung zwischen den „Verbündeten“ und der „Andersheit“.
„Die Pointe war die, dass die Menschheit und ihre Nische der Realität nicht einmal der Hauptgewinn, sondern nur ein ganz kleiner Jeton in einem Spiel mit sehr hohen Einsätzen waren, das sich über das ganze Multiversum erstreckte. Und offenbar wechselten die Jetons auch schon mal den Besitzer. Keine Seite konnte sich zum Sieger erklären, solange sie nicht über alle Jetons verfügte. Vielleicht würde es nie einen Gesamtsieger geben, aber das Spiel ging weiter. Und weiter.
Und auch wenn die Erde kein besonders wertvoller Spielstein war, war der Einsatz hier doch sehr hoch. Es ging um alles.“ (S. 105) 
Ehe sich Jack versieht, wird er von einem der Oculi, die sich als Netzwerk von Männern und Frauen verstehen, die als Agenten des Verbündeten den Besitzstand der Menschheit wahren sollen, zum Erbe des Verbündeten erklärt. Mit dieser Offenbarung kann Jack ebenso wenig anfangen wie die Yeniceri im unmittelbaren Umfeld des Oculus, denn vor allem Miller hat damit gerechnet, dass der Erbe aus ihren eigenen Reihen käme.
Wie Jack bald am eigenen Leib erfahren muss, ist die Entführung von Caitlin nur der Auftakt zu einer Operation gewesen, in deren Verlauf Jack um seine Allerliebsten bangen muss, um seine Frau Gia, seine Stieftochter Vicky und das noch ungeborene gemeinsame Kind von Gia und Jack …
Mit dem 1984 veröffentlichten Roman „The Tomb“ (dt. „Die Gruft“) hat der amerikanische Mediziner und Autor F. Paul Wilson die Reihe um Repairman Jack eröffnet, der in der deutschen Übersetzung kurioserweise als Handyman Jack eingeführt wurde und sich mittlerweile in einer eigenen Serie als Problemlöser der besonderen Art etabliert hat. In der Handyman-Jack-Reihe verknüpft Wilson Elemente aus Krimi, Horror und Science-Fiction, wobei der kosmische Krieg zwischen den Verbündeten und der Andersheit auch in „Der Erbe“, dem mittlerweile 10. Band im Handyman-Jack-Zyklus, eine wesentliche Rolle spielt. Dabei werden Ereignisse aus Jacks jüngerer Vergangenheit wieder an die Oberfläche gespült, vor allem der dem Zorn Allahs zugeschriebene Anschlag auf dem La-Guardia-Flughafen, bei dem auch Jacks Vater ums Leben kam.
Das übernatürliche Element spielt in „Der Erbe“ zwar eine handlungstreibende Rolle, wird aber von Wilson recht diffus dargestellt. Weitaus lebendiger und überzeugender ist der Plot ausgefallen, in dem Jack ganz programmatisch mit der Herausforderung umgeht, das Leben seiner jungen Familie zu schützen und sich endlich eine offizielle Identität zu verschaffen, damit er die Rolle des Vaters auch legitim ausfüllen kann.
„Der Erbe“ zählt zwar nicht zu den besten Werken der Reihe, zeigt Handyman Jack aber von einer sehr menschlichen Seite und ist ebenso spannend wie unterhaltsam geschrieben, auch wenn der Plot gerade an den Stellen an Glaubwürdigkeit einbüßt, wenn kosmische Kräfte Dinge in Gang bringen, die der menschlichen Erfahrung zuwiderlaufen.
Leseprobe F. Paul Wilson - "Der Erbe"

Richard Laymon – „In den finsteren Wäldern“

Sonntag, 26. Juli 2015

(Festa, 256 S., Tb.)
Neala O’Hare ist gerade mit ihrer Freundin Sherri in ihrem MG zu einem Wanderurlaub in die Wälder von Kalifornien unterwegs, als ein beinloses Wesen mit kraftvollen und stark behaarten Armen ihren Weg kreuzt. Um diesen Schrecken zu verdauen, kehren sie abends in einen Imbiss ein, der sich als entsetzliche Falle entpuppt. Die beiden jungen Frauen werden von vier Männern verschleppt, die ihre Habseligkeiten einsammeln und ihre Opfer in den Wald verschleppen, wo sie an Bäume gefesselt und ihrem Schicksal überlassen werden. Zur gleichen Zeit ist der Highschool-Lehrer Lander Dills mit seiner Frau Ruth, der volljährigen Tochter Cordelia und ihrem Freund Ben ebenfalls in den Urlaub unterwegs. Da sie es nicht wie geplant bis zum Mule Ear Lake schaffen, wollen sie in Barlow übernachten, doch das angesteuerte Motel erweist sich ebenfalls als eine Falle.
Als sich Ben und Cordie abseits der Motelanlage miteinander vergnügen, werden sie ebenfalls verschleppt, dann gerät auch seine Frau in die Fänge von unheimlichen Kreaturen. Wie die beiden Mädchen bald herausfinden, haben die Einwohner von Barlow vor Generationen einen Handel mit den sogenannten Krulls in den Wäldern geschlossen, die sich durch jahrzehntelange Unzucht vermehrt haben. Junge Frauen sollen dafür sorgen, dass ihr Genpool mit frischem Blut versorgt wird. Als Lander sich aufmacht, seine Familie zu retten, wird er von einem ebenso starken Rachedurst wie von der erotisch geprägten Faszination für die im Wald lebenden Kreaturen getrieben.
„Er sollte von diesem Dorf voller Wahnsinniger verschwinden, so weit ihn die Füße trugen. Und versuchen, Cordelia zu finden.
Und Ruth?
O Gott, was war mit Ruth?
Vielleicht befand sie sich in diesem Augenblick irgendwo in diesem Dorf. Noch am Leben. Darauf wartend, bis sie damit an der Reihe wäre, Futter für diese Dämonen zu werden.
Die Chancen dafür, dass sie noch lebte, standen tatsächlich nicht schlecht. Wenn diese Monster auch nur einen Hauch Vernunft besaßen, würden sie Ruth noch eine Weile am Leben lassen. Und zuerst die Leichen verzehren, bevor sie ihre lebenden Gefangenen schlachteten.“ (S. 96) 
Es ist vor allem dem Heyne-Verlag zu verdanken, den Großteil des hierzulande unbekannten Werkes des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon posthum veröffentlicht zu haben, doch auch der Festa-Verlag bringt immer wieder mal den einen oder anderen Band aus Laymons umfangreichen Schaffen heraus.
„In den finsteren Wäldern“ zählt sicher nicht zu den besten Arbeiten von Laymon, aber sicher zu seinen kompromisslosesten. Interessant ist vor allem die Entstehungsgeschichte von Laymons erst zweiten Roman nach „Haus des Schreckens“ (1980), den der Heyne-Verlag 2008 zusammen mit den Folgebänden „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ in „Der Keller“ publizierte.
Wie Laymons Tochter Kelly im Vorwort rekapituliert, hat Warner Books nicht nur die Umschlagillustration versaut, sondern auch rigide Änderungen am Manuskript vorgenommen, so dass Laymon später meinte, „The Woods Are Dark“ (1981) sei das Buch gewesen, das seine Karriere ruinierte. Kelly ist es irgendwann gelungen, die überall verstreuten Seiten des Originalmanuskripts zu finden, so dass es 2008 endlich in der ursprünglich angedachten Fassung erscheinen konnte. Laymon hält sich dabei nicht mit auch nur irgendwie gearteten Einleitung auf, sondern konfrontiert den Leser ebenso wie seine beiden hübschen Protagonistinnen Neala und Sherri mit einem furchterregenden Wesen, das stellvertretend für die später so degeneriert dargestellten Krulls eingeführt wird. Der Autor hält sich auch nicht mit den persönlichen Hintergründen seiner Figuren auf. Außer den vagen Ferienzielen und den Namen erfährt der Leser eigentlich nichts über sie. Dass Lander Dills immer wieder literarische Zitate von sich gibt, wird mit seiner Highschool-Lehrtätigkeit erklärt.
Was Laymon an Figurenzeichnung und psychologischer Tiefe hier vermissen lässt, macht er aber durch Tempo, Spannung und blutigen Horror wieder locker wett. Dabei dürfen erotische Eskapaden und Wunschträume natürlich ebenso wenig fehlen wie sein ausgesprochen bizarrer Humor, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Allerdings ist der Leser auch aufgefordert, den holprigen Plot mit seiner Fantasie zu füllen. Selten bekommt man das Gefühl, dass hier tatsächlich das vollständige Manuskript vorliegt und Laymon eine zusammenhängende Geschichte erzählt.
Aber wie Schriftsteller-Kollege Brett McBean im Nachwort richtig bemerkt, kommt auch in „In den finsteren Wäldern“ der filmnahe Schreibstil des Autors voll zur Geltung.
„Es ist der beste Low-Budget-Exploitation-Horrorstreifen, der nie gedreht wurde“, schreibt er und kommt zu dem Schluss: „Das Buch gleicht einer raschen, vor Blut strotzenden Geisterbahnfahrt. Es ist wie Menschenfleisch, das von jeglichem Fett befreit in einer wahnsinnigen literarischen Orgie verschlungen wird.“ (S. 255f.)
Leseprobe Richard Laymon - "In den finsteren Wäldern"

Clive Barker – „Das scharlachrote Evangelium“

Sonntag, 12. Juli 2015

(Festa, 460 S., Tb.)
Nachdem eine Handvoll von Magiern mit dem N’guize-Ritual ihren Anführer Joseph Ragowski von den Toten wiedererweckt hat, muss dieser erfahren, dass ein Dämon den einst beachtlichen Kreis ihresgleichen auf die sechs Anwesenden reduziert hat. Kaum wird Ragowski über die tragische Entwicklung in Kenntnis gesetzt, taucht auch schon der besagte Dämon – Pinhead – auf, die letzten Bestandteile des Magischen Orders auszumerzen, der über Jahrhunderte hinweg im Schatten der Zivilisation agiert hatte. Doch damit ist sein Werk längst nicht beendet. Der Anführer der Zenobiten hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Lichtbringer Luzifer selbst herauszufordern und sich damit selbst auf den Thron der Hölle zu setzen.
Allerdings hat er es dabei mit Harry D’Amour zu tun, dem ehemaligen Polizisten, der sich nun in New York als Detektiv durchschlägt. Als seine gute Freundin Norma Paine, die einen engen Draht zu den Toten unterhält, mit dem Tod des Anwalts Carston Goode konfrontiert wird, ist es an Harry, dessen geheimes Haus in New Orleans aufzusuchen, von dem Goodes Frau keine Kenntnis haben darf. Goodes Haus entpuppt sich nicht nur als Ort der Magie und abartiger sexueller Praktiken, sondern er stößt auch auf Lemarchands geheimnisvollen Würfel, durch den der Dämon Felixson Eintritt in D’Amours Welt erhält. Der Detektiv entkommt der Auseinandersetzung mit Pinheads Gefolgsmann nur mit knapper Not, doch zum Ausruhen hat der Detektiv, der mit allerlei Schutzzaubern tätowiert ist, keine Zeit.
Pinhead, der wegen seiner geheimen Beschäftigung mit menschlicher Magie durch den Unverzehrten aus dem Orden verbannt wurde, hat sich Norma geschnappt und verlangt von D’Amour, die Dinge zu bezeugen, die Pinhead in Gang zu bringen versucht. Zusammen mit seinen Freunden Dale, Caz und Lana folgt D’Amour dem Zenobitenpriester in die Hölle, wo Luzifer und Pinhead eine epische Schlacht entfachen.
„Der Höllenpriester sah über die linke Schulter und flüsterte etwas in die Dunkelheit, die ihn umgab. Sie schien sich noch mehr zu verdichten, wie ein eifriger Komplize, der begierig jeden Befehl aufnahm. Harry war der stumme Beobachter der Geschehnisse, sein Kopf schwirrte von unbeantworteten Fragen. War diese seltsame Gestalt – die immer tiefer in ihren Selbstmordstuhl sackte, je mehr Klingen aus ihrem Körper gezogen wurden – wirklich der Gegenspieler, das leibhaftige Böse, der Gefallene, Satan? Er sah einfach zu bedauernswert aus, zu menschlich, wie er da auf seinem Todesthron saß. Die Vorstellung, dass dieses Geschöpf einst Gottes Liebling gewesen sein sollte, schien lächerlich.“ (S. 330) 
1995 hat der in Liverpool geborene und seit Jahren in Los Angeles lebende Autor, Illustrator, Maler und Filmemacher Clive Barker mit „Lord of Illusions“ seine aus den „Büchern des Blutes“ stammende Kurzgeschichte „Die letzte Illusion“ verfilmt und damit seine bis dato dritte und letzte Regiearbeit vorgelegt, nachdem der Film bei der Kritik und auch beim Publikum nicht allzu überschwänglich aufgenommen worden war. Barkers Versuch, mit Harry D’Amour eine Film-noir-Figur im Horror-Genre zu etablieren, wirkte wenig logisch und allzu holperig in der Inszenierung. Dabei hatte Barker mit „Hellraiser“, seiner ersten eigenen Adaption einer seiner Kurzgeschichten – „The Hellbound Heart“ – , einen modernen Klassiker des Horrorkinos geschaffen und mit den Zenobiten unvergessene Ikonen des Genres kreiert, die in unzähligen Sequels weiterhin auf der Leinwand ihr dämonisches Treiben zelebrierten.
Mit „Das scharlachrote Evangelium“ lässt Barker nun seine zwei wohl bekanntesten Figuren aufeinandertreffen und kreiert dabei ein Szenario, das ein wenig an Stephen Kings epische Schlacht in „The Stand – Das letzte Gefecht“ erinnert. Barker nimmt sich zunächst Zeit, die Geschichte von Harry D’Amour und seiner blinden Freundin Norma zu erzählen. Parallel dazu treibt Pinhead seine dämonische Vernichtungsarbeit, indem er zunächst die letzten verbliebenen menschlichen Magier tötet und ihren Leichen die Geheimnisse entnimmt, die ihn selbst noch mächtiger werden lassen, bevor er in der imponierenden Kathedrale der Hölle Luzifer selbst gegenübertritt.
Wie üblich bedeint sich Barker dabei der christlichen Mythologie und beweist eine enorme Vorstellungskraft, wenn er die Landschaft der Hölle in bildgewaltigen Szenarien beschreibt. Es ist wohl niemandem außer Clive Barker bislang gelungen, die Hölle in ebenso faszinierenden wie erschreckenden Bilder zu zeichnen und diese mit Dämonen zu bevölkern, deren Treiben jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Während das Hollywood-Franchise „Hellraiser“ längst zu einer Karikatur des ursprünglichen Konzepts verkommen ist, lässt „Das scharlachrote Evangelium“ darauf hoffen, dass die Zenobiten zumindest in Barkers literarischen Ambitionen weiterhin eine so beeindruckende Rolle spielen.
Leseprobe Clive Barker - "Das scharlachrote Evangelium"

Clive Barker – „Mister B. Gone“/“Fahr zur Hölle, Mister B.“

Sonntag, 22. Februar 2015

(HarperCollins, 254 S., HC/Festa, 254 S., Tb.)
Mit seiner umfangreichen Anthologie von bis heute immer wieder verfilmten Kurzgeschichten, die ab 1984 in insgesamt sechs „Büchern der Blutes“ erschienen sind, hat sich der aus Liverpool stammende Künstler Clive Barker im Nu einen Namen im Horror-Genre gemacht, wurde von Stephen King als die „Zukunft des Horrors“ gepriesen und schuf mit der Verfilmung seiner eigenen Novelle „The Hellbound Heart“ unter dem Titel „Hellraiser“ einen der wichtigsten Horrorfilme des 20. Jahrhunderts. Seither hat Barker vor allem dunkle Fantasy und Kinderbücher veröffentlicht und sich als Maler etabliert. Hierzulande hat das Interesse an Barker allerdings stark nachgelassen.
So erscheint das 2007 von HarperCollins als edles Hardcover veröffentlichte Werk „Mister B. Gone“ erst sieben Jahre später als lieblos aufgemachtes Taschenbuch bei Festa.
Im Vergleich zur epischen „Abarat“-Reihe, deren vierter Band für den Sommer dieses Jahres angekündigt ist, kehrt Barker mit „Fahr zur Hölle, Mister B.“ wieder zu seinen Horror-Wurzeln zurück. Auf 250 kurzweiligen Seiten versucht der Dämon Jakabok Botch, den Leser seiner Lebensgeschichte zum Verbrennen des Buches zu animieren, das er in den Händen hält, aber natürlich will der Leser wissen, wie der Dämon überhaupt in dieses Werk gelangt ist.
Die Geschichte beginnt damit, dass Jakabok Botch mit seinem verhassten Vater Pappy G. in einem Abfallhaufen auf ein saftiges Steak und Bier stoßen, doch handelt es sich dabei um einen Köder, der die beiden Dämonen in ein Netz geraten lässt, das sie durch die neun Kreise der Hölle an die Oberwelt zieht. Allerdings kappt Jakabok unterwegs das Netz seines Vaters und trennt sich so für immer von ihm. In der Oberwelt sorgt der Dämon mit seinem verbrannten und entstellten Äußeren für Angst und Schrecken. Als er allerdings wieder in Gefangenschaft zu kommen droht, eilt ihm mit Quitoon ein Dämon zur Seite, der Jakabok stark beeindruckt.
„Quitoon kannte die Welt gut. Und er kannte nicht nur die Menschheit und deren Werke, sondern auch alles Mögliche, das ohne eindeutige Beziehung zwischen beiden existierte. Er wusste etwas über Gewürze, Parlamente, Salamander, Schlummerlieder, Flüche, Formen von Debatten und Krankheiten; über Rätsel, Ketten und Geisteszustände; über die Herstellung von Süßigkeiten, über Liebe und Witwen; über Geschichte für Kinder, über Geschichten für Erwachsene und Geschichten, die man sich an Tagen, wenn nichts eine Bedeutung zu haben scheint, selbst erzählen kann. Mir schien, als gäbe es kein einziges Thema, über das er nicht wenigstens ein bisschen Bescheid wusste. Und falls er über etwas Bestimmtes doch einmal nichts wusste, dann log er so unverfroren, dass ich jedes seiner Worte wie ein Evangelium akzeptierte.“ (S. 125) 
Gemeinsam ziehen sie im 14. Jahrhundert eine blutige Spur aus Feuer und Tod durch die Dörfer, die sie durchqueren. Nachdem sie unterwegs getrennt wurden, begegnen sie sich in Mainz wieder, wo die Schlacht zwischen Dämonen und Engeln entschieden zu werden scheint …
Der mittlerweile in Los Angeles lebende Clive Barker erweist sich in „Mister B. Gone“ einmal mehr als einfallsreicher Erzähler einer Geschichte, wie sie nur Barker zu kreieren versteht. Wenn er von Dämonen schreibt, betritt auch der Leser ganz neue Welten.
„Mister B. Gone“ zählt zwar nicht zu den besten Werken des Autors, aber ein kurzweiliges und dämonisches Lesevergnügen bietet es allemal.
Leseprobe Clive Barker - "Fahr zur Hölle, Mister B."