(Festa, 478 S., eBook)
Um sich von dem Namen seines übermächtigen Vaters, Horror-Ikone Stephen King, zu emanzipieren, schreibt Joseph Hillström King seit jeher unter dem Pseudonym Joe Hill, hat sich aber mit Romanen wie „Blind“, „Teufelszeug“ und „Christmasland“ längst aus dem Schatten des Mannes lösen können, der wie kein Zweiter die moderne Horror-Literatur geprägt hat. Während sein Vater mit Joe Hills jüngeren Bruder Owen King schon den epischen Roman „Sleeping Beauties“ zusammen geschrieben hat, ist es bei Joe Hill und Stephen King bislang nur bei Kurzgeschichten zu einer Zusammenarbeit gekommen, die sich in dem von Festa herausgegebenen Band „Vollgas“ in Form zweier eindrucksvoller Geschichten wiederfindet. Die übrigen elf Geschichten können das hohe Niveau der beiden Gemeinschaftsarbeiten allerdings nicht immer halten.
Mit der gemeinsam geschriebenen Geschichte „Vollgas“, die von HBO verfilmt werden soll, nimmt die Sammlung immerhin gleich ordentlich Fahrt auf.
Nach einem unerfreulichen Zwischenfall, bei dem ein junges Mädchen und Roy Klowes auf brutale Weise getötet wurden, befindet sich die Bikergang The Tribe von Vince Adamson und seinem rebellischen Sohn Race auf der Fahrt nach Vegas und macht im Painted Desert Halt, wo sich die Truppe über ihr weiteres Vorgehen abstimmen muss. Dean Clarke hatte vor, mit einem Startkapital von 60.000 Dollar mit Race ein Meth-Labor in Smith Lake aufzubauen, wozu ihm Vince mit zwanzig Riesen aushalf, doch das Labor brannte bereits am ersten Betriebstag aus. Nun will sich Race die 60 Riesen von Clarkes Schwester in Show Low zurückholen. Nachdem ein Truckfahrer die Unterhaltung mitverfolgt hat, macht er sich mit seinem Truck zunächst vom Acker. Als der Tribe eine Stunde später wieder auf den Truck stößt, macht der Fahrer nach und nach kurzen Prozess mit den Gang-Mitgliedern…
Im Nachwort macht Joe Hill keinen Hehl daraus, dass „Vollgas“ von Richard Mathesons fabelhafter Geschichte inspiriert wurde, die der junge Steven Spielberg als „Duell“ verfilmt hat. Auch wenn „Vollgas“ wenig originell wirkt, hat sie doch das nötige Tempo und den Nervenkitzel, um überzeugen zu können.
In „Das Karussell“ besucht der 18-jährige Paul mit seiner Freundin Geri, ihrem Bruder Jake und dessen Freundin Nancy das am Ende des Cape Maggie Piers gelegene Karussell „Wild Wheel“, dessen Tiere eine verstörende Kollektion grotesker Wesen darstellen. Der Karussellmann hat zu jedem der ungewöhnlich aussehenden Tiere eine exklusive Geschichte parat. Nach ein paar Runden auf dem Karussell lassen sich die vier Freunde weiter durch den Freizeitpark treiben, bis Nancy feststellt, dass ihr ein nagelneuer Fünfziger abhandengekommen ist. Kaum spricht Paul die Vermutung aus, dass der Karussellmann dafür verantwortlich gewesen sein könnte, als er Nancy auf das Pferd half, nimmt Jake dem mittlerweile seinen Rausch ausschlafenden Karussellbetreiber zwei Zwanziger ab, doch wenig später entwickeln die Tiere des Wild Wheel ein furchterregendes Eigenleben…
In „Wolverton Station“ begegnen uns während einer Zugfahrt Wölfe in Menschengestalt, „An den silbernen Wassern des Lake Champlain“ bekommen wir eine Variation des Ungeheuers von Loch Ness vorgesetzt, in „Faun“ trifft sich eine exklusive Großwild-Jäger-Truppe. Nach diesen wenig inspirierenden Geschichten taucht mit „Überfällig“ wieder ein echtes Highlight auf.
Nachdem sich seine Eltern gemeinsam in dem Auto bei laufendem Motor in ihrer Garage aus dem Leben geschieden sind, hat John Davies seinen Job als Fahrer bei einer Spedition verloren und bekommt zufällig die Möglichkeit, in der Bücherei, in die er das längst überfälliges Buch „Eine wunderbare Geschichte“ seiner Mutter zurückbringen wollte, den Büchereibus zu fahren. Doch seine Kunden scheinen oft aus einer anderen Zeit zu kommen…
„Die Möglichkeit, dass jemand aus den 60er Jahren aufgetaucht sein könnte, um ein überfälliges Buch zurückzugeben und vielleicht neuen Lesestoff auszuleihen, hatte nicht die Wirkung auf mich, die man vielleicht erwarten würde. Ich hatte keine Angst, zu keinem Zeitpunkt. Ich war nicht beunruhigt. Eher verspürte ich so etwas wie Dankbarkeit und auch eine gewisse mild amüsierte Verwirrung.“ (S. 203)
Mit „Meine Welt dreht sich nur um dich“ präsentiert Hill eine unterhaltsame Science-Fiction-Geschichte über ein Mädchen, das zu seinem Geburtstag von seinem Vater eine Kristallkugel mit einer hässlichen Meerjungfrau geschenkt bekommt, zur Feier des Tages aber einen Münz-Freund mietet, der ihr eine Stunde lang wie Aladins Flaschengeist nahezu alle Wünsche zu erfüllen verspricht. Gemeinsam machen sie sich zur Spitze der Speiche auf, um einen echten Sonnenuntergang zu erleben. Doch damit ist das Abenteuer noch längst nicht vorbei…
„Tweets aus dem Zirkus der Toten“ verbindet auf intelligente, satirisch angehauchte Weise klassischen Horror mit den Tücken moderner Kommunikationskanäle, in „Mums“ wird die Leiche der beerdigten Mutter von Jack durch eine ungewöhnliche Samen-Mischung zu unnatürlichen Leben wiedererweckt.
Die wiederum mit Stephen King verfasste Geschichte „Im hohen Gras“ erzählt von der Fahrt, die Cal DeMuth mit seiner im sechsten Monat schwangeren Schwester Becky von Portsmouth zu Onkel Jim und Tante Anne nach San Diego unternehmen und dabei auf dem Parkplatz einer Kirche aus dem nahegelegenen Feld den Hilferuf eines Jungen vernehmen. Doch als Becky und Cal dem Ruf in das hohe Gras folgen, erwartet sie das pure Grauen…
Ebenso interessant wie die besten Geschichten in diesem Band sind das Vorwort und die Anmerkungen zum Schluss, in denen Joe Hill davon schreibt, wie er als Sohn eines so berühmten Vaters seine ersten eigenen Versuche, Schriftsteller zu werden, bewerkstelligte und welche Personen, Schriftsteller und Geschichten ihn selbst inspiriert haben. Die Geschichten sind in einem Zeitraum von über einem Jahrzehnt entstanden und decken ein breites Spektrum an Themen ab, sind dabei aber unterschiedlich in Spannungsaufbau, Atmosphäre und Auflösung. Da mindestens die Hälfte der Geschichten großartig unterhalten, sind die weniger interessanten durchaus zu verschmerzen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen