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James McBride – „Himmel & Erde“

Dienstag, 5. November 2024

(btb, 464 S., Pb.) 
Mit seiner Autobiografie „The Color of Water: A Black Man's Tribute to His White Mother“ hat James McBride, in Brooklyn aufgewachsener Sohn eines afroamerikanischen Pastors und einer polnisch-jüdischen Immigrantin, den multikulturellen Einfluss auf seine Erziehung beschrieben und diese Thematik auch in seinen folgenden Büchern thematisiert. 2013 erhielt er für „The Good Lord Bird“ (dt. „Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford“) den National Book Award for Fiction. Nun erscheint mit „Himmel & Erde“ der nächste, von Publishers Weekly zum „Buch des Jahres“ gekürte große Wurf von James McBride
Als im Juni 1972 ein Bauträger in Pottstown, Pennsylvania, Häuser einreißen lässt, um Platz für neue Reihenhäuser zu schaffen, stoßen die Arbeiter in einem alten Brunnen auf ein menschliches Skelett und eine Mesusa, weshalb sie Rat bei einem alten Juden bei der alten Synagoge auf dem Chicken Hill suchen. 47 Jahre zuvor unterhielt der jüdische Moshe Ludlow das „All-American Dance Hall & Theater“ in der Main Street, wo er anfing, nicht nur jüdische Musiker für ein jüdisches Publikum zu präsentieren, sondern versuchte es auch mit dem schwarzen Entertainer Chick Webb, der das schwarze Publikum mit seinem ausgelassenen, stampfenden Jazz begeisterte. 
Ebenso offen hielt es seine Frau gehbehinderte Frau Chona. Die Afroamerikanerin unterhielt mit dem „Heaven & Earth Grocery Store“ einen Gemischtwarenladen, in dem sowohl die Juden als auch die Schwarzen einkauften. Während die jüdischen Einwanderer und die Schwarzen gut miteinander auskommen, machen ihnen die weißen Christen zunehmend zu schaffen. 
Als sich Doc Roberts, Anführer der örtlichen Ku-Klux-Klan-Gruppe, an Chona vergehen will, beobachtet der taube Zwölfjährige Dodo den Vorfall und soll in die psychiatrische Anstalt von Pennhurst eingeliefert werden. Die Ludlows haben sich bis dahin des Jungen angenommen, der zuvor bei dem Moshes schwarzen Angestellten Nate gelebt hat. Tatsächlich geht Dodo seinen weißen Häschern ins Netz, doch als die Gemeinschaft auf dem Chicken Hill von den Zuständen in Pennhurst erfährt, setzen sie alles in Bewegung, um Dodo aus den Fängen des selbsternannten „Menschensohns“ zu befreien… 
„Die Gruppe der Besucher bewegte sich langsam in ihre Richtung, während Moshes Schluchzen von den Wänden widerhallte, von einer Seite zur anderen, den Flur hinauf und hinunter. Doc Roberts war vergessen, die Gruppe trat voran, eine bunte Mischung demütigender Reisender, als mäße jeder Schritt tausend Kilometer, als kämen sie von fernen Kontinenten und durchquerten ein Land, das so groß zu sein behauptete, ein Land, das ihnen so viel gab, aber so viel mehr verlangte.“ (S. 272) 
McBride nutzt den Prolog, um ein klassisches Krimi-Setting zu installieren, das mit dem Fund einer Leiche die Frage sowohl nach der Identität des Opfers als auch des Täters bzw. der Täter/in offenlässt. Doch mit dem Rückblick auf das multikulturelle Leben in Pottstown in den 1920er und 1930er Jahren scheint es dem Autor weniger darum zu gehen, den Mord aufzuklären, sondern das Milieu zu beschreiben, in dem die unterschiedlichsten Menschen in eher ärmlichen Verhältnissen lebten. 
In seinem Dankwort zum Schluss erzählt Jim McBride, dass der Roman durch den Leiter eines Camps in Pennsylvania inspiriert worden ist, in dem der Autor selbst als Student vier Sommer lang gearbeitet hat. Dieser Leiter sei McBride ein Vorbild an der Vermittlung von Inklusion, Liebe und Akzeptanz gewesen. Dieses Gefühl strahlt auch „Himmel & Erde“ aus. Trotz schwieriger Lebensumstände schaffen es die Einwohner von Pottstown, ihre kulturellen Differenzen zu überwinden und für ein gutes Miteinander einzustehen. McBride beschreibt seine Figuren mit viel Liebe zum Detail und macht vor allem das Ludlow-Ehepaar zu Helden einer Erzählung, in der die Unterschiede in Hautfarbe, Religion und Herkunft nicht die Grundlage für Hass und Misstrauen sind, sondern für Akzeptanz, Vertrauen, Mitgefühl und Liebe. Diese Botschaft ist gerade in der heutigen Zeit mindestens ebenso wichtig wie seit jeher.


Hanns-Josef Ortheil – „Das Kind, das nicht fragte“

Samstag, 26. Oktober 2024

(btb, 432 S., Tb.) 
Der 1951 in Köln geborene Hanns-Josef Ortheil ist dafür bekannt, dass seine Romane stark autobiografisch geprägt sind. Das kommt vor allem in seinem 2012 veröffentlichten Roman „Das Kind, das nicht fragte“ zum Ausdruck. Ortheil musste als jüngster von fünf Söhnen nicht nur den Tod seiner Eltern innerhalb von acht Jahren verkraften, sondern auch seiner Brüder, die während des Zweiten Weltkriegs und danach gestorben waren. Während die Mutter durch den Verlust ihrer Kinder ihre Sprache verlor, fand der jüngste Ortheil sie erst im Alter von sieben Jahren. Eine ganz ähnliche Biografie weist Ortheils Ich-Erzähler in „Das Kind, das nicht fragte“ auf. 
Der in Köln lebende Ethnologe Dr. Benjamin Merz fliegt im April nach Catania, um in Mandlica an einem Buch mit dem Titel „Die Stadt der Dolci“ zu arbeiten. Er mietet sich in eine Pension ein, die von Maria geführt wird. Sie ist, wie Merz bald erfährt, vor fünfzehn Jahren mit ihrer Schwester Paula aus Bayern während einer Ferienreise nach Sizilien gekommen und geblieben, nachdem sich Paula in Lucio verliebt hatte. Die geplante Hochzeit kam jedoch nicht zustande, stattdessen heiratete Maria den Restaurantbesitzer, doch gehen sie mittlerweile ebenso getrennte Wege. Während Marias Aktivitäten ganz auf den Pensionsbetrieb beschränkt sind, hilft Paula im Restaurant, das zur Pension gehört, aus und arbeitet als Übersetzerin. 
Im Gegensatz zur scheu wirkenden Paula zeigt sich Maria jedoch als äußerst mitteilsam. Sie vermittelt ebenso die ersten Kontakte für Merz‘ ethnologischen Forschungen wie der Buchhändler Alberto. Mit seiner Fähigkeit, zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und viele Dinge zu ahnen, die zuvor ungesagt blieben, macht Merz in der Stadt auf sich aufmerksam, bis auch Bürgermeister Enrico Bonni bei einem Gespräch im Rathaus den Ethnologen bittet, Mitglied einer von Prof. Matteo Volpi geleiteten Kommission zu werden, die ein in fünf Jahren geplantes Großereignis zur Feier der Kultur der sizilianischen Dolci vorbereitet. Mittlerweile hat Merz auch Paula näher kennengelernt und sich in sie verliebt. 
 „Ich tue so, als ginge die Zeit nicht voran, ich sitze da und warte darauf, dass ich wieder in dieser Vergangenheit ankomme. In dieser Vergangenheit möchte ich dicht neben Paula sitzen, und ich möchte eine Art von Zeit empfinden, die nicht zu vergehen scheint. Zeit an und für sich! Stillstehende Gegenwart! Keine Gedanken an ein Vorher und Nachher, sondern die pure Präsenz, die Fülle der Zeit!“ (S. 165) 
Doch dann ist da auch noch Adrianna, die ebenso intelligente wie attraktive und selbstbewusste Tochter des Bürgermeisters, die Merz den Kopf verdreht… 
Ist einem die Biografie von Hanns-Josef Ortheil vertraut, kommt man nicht umhin, „Das Kind, das nicht fragte“ als Vergangenheitsbewältigung, als Familientherapie mit einem Hollywood-mäßigen Happy End zu begreifen. Indem der Autor seinen Protagonisten in das Sehnsuchtsland Italien reisen und ins Gespräch mit den Einwohnern einer sizilianischen Hochburg der Dolci-Produktion kommen lässt, macht die Figur einen erstaunlichen Entwicklungsprozess durch. 
Nachdem Merz als kleiner Junge erst durch die angeleitete Zwiesprache mit dem Herrn in der Kirche angefangen hatte, Fragen zu stellen und ein Verständnis für die Welt zu entwickeln, wird in der fiktiven Stadt Mandlica aus dem versierten Fragesteller und Beobachter selbst ein Erzähler des eigenen Lebens, aber bis dahin müssen natürlich einige Hürden genommen werden. 
Am interessantesten stellt sich schnell die Dreiecksgeschichte zwischen Maria, ihrer Schwester Paula und dem Restaurantbesitzer Lucio heraus, und der Ethnologe macht zunächst nicht den Eindruck, als würde er dieser Konstellation eine zusätzliche Dynamik verleihen können. 
„Das Kind, das nicht fragte“ präsentiert sich als leichter Feel-Good-Roman, überzeugt vor allem in der Darstellung des sizilianischen Alltagslebens und als Lehrbuch zur Ethnologie, weniger als Liebesroman. Vor allem die Episode mit Adrianna wirkt überzogen und wenig glaubwürdig, doch als selbsttherapeutischer Ansatz erfüllt der Roman sicher seinen Zweck. 

Till Raether - „Treue Seelen“

Dienstag, 30. Juli 2024

(btb, 352 S., HC) 
Till Raether ist zwar mit einer Reihe von Kriminalromanen um den Hamburger Kommissar Danowksi und seinen Kolumnen und Artikeln in der „Brigitte“ und dem „SZ Magazin“ bekannt geworden, doch mit seinem Roman „Treue Seelen“ kehrt der 1969 in Koblenz geborene Autor ins Westberlin seiner Jugend zurück und lässt anhand zweier Beziehungen und einer Affäre die Lebenswelten im West- und Ostberlin nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl auferstehen. 
Die aus dem Rheinland stammenden und seit der Ersti-Fete an der Uni liierten Barbara und Achim hat es vor allem beruflich nach Berlin gezogen. Dort war nämlich eine Stelle als Pyrotechniker in leitender Funktion beim Bundesamt für Materialprüfung ausgeschrieben. Es winkten eine lukrative Berlinzulage und Verbeamtung nach sechs Monaten. 
Doch vor allem Barbara setzt die Spießigkeit in der Nachbarschaft und die Eintönigkeit in der viel zu großen Wohnung in Zehlendorf zu, während sie weiter Umzugskisten auspackt und auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, wenn er zusammen mit der ehemaligen Punkerin und jetzigen Laborantin Sonja Dobrowolski genügend Feuerwehrraketen getestet hat. Die Angst um radioaktive Strahlen setzt ihr so zu, dass es nur noch Fertiggerichte gibt und schließlich an Trennung denkt. So hat sie sich das dann doch nicht vorgestellt. Achim wiederum verliebt sich in die zehn Jahre ältere Nachbarin Marion, die vor dem Mauerbau aus Ost- nach Westberlin geflüchtet ist und nun in Dahlem im PX-Store der US-Army arbeitet, während ihr Mann Volker beim Bundesgrenzschutz angestellt ist. 
Zunächst begegnen sich Achim und die zweifache Mutter auf dem Dachboden beim Wäscheaufhängen, dann unternehmen sie Ausflüge an Orte, an denen sie wahrscheinlich nicht erkannt werden, sogar in den Osten, wo sie Marions Schwester Sybille wiedersehen. Als Achim heimlich einen aus dem Labor entwendeten Geigerzähler zerlegt in einer Märklin-Modelleisenbahn nach Ost-Berlin schmuggelt, gerät die Geschichte aus den Fugen… 
„Es begann eine Woche, in der sie einander aus dem Weg gingen. Am ersten Morgen dachte Achim noch: Na ja, wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hat. Am ersten Morgen dachte Marion noch: Na, wie sieht es denn jetzt aus, wo ich mal eine Nacht nicht darüber geschlafen habe. Aber es sah nicht so gut aus, fand sie. Das war doch alles ihrs. Das hatte sie doch gerade alles erst zurückbekommen, ganz mühsam hatte sie einen winzigen Zipfel von dem erhascht, was mal gewesen war und was in Zukunft vielleicht irgendwie wieder sein könnte, oder einen Zipfel von etwas ganz anderem, Neuem, nicht mal das wusste sie, und dann kam er.“ (S. 305) 
Bereits mit der ersten Seite steckt Till Raether das Terrain seines Romans „Treue Seelen“ ab. Die Tatsache, dass zweiunddreißig Menschen direkt bei der Kernschmelze eines Reaktors in Tschernobyl gestorben und halbe Million Sowjets komplett verstrahlt seien, hätte fast das Hoffest ausfallen lassen, doch Feste sollten gefeiert werden, wie sie fielen, und niemand wollte wirklich auf den berühmten Zwiebeldip von Frau Sudaschefski verzichten. Raether fängt die Stimmung des geteilten Berlins inmitten des Kalten Krieges absolut authentisch ein und inszeniert vor diesem Hintergrund eine absolut gewöhnliche Liebesgeschichte, die jedoch in aller Heimlichkeit ausgelebt werden muss, da die beiden Protagonisten doch noch anderweitig liiert sind. 
Es ist auch weniger die Liebesgeschichte, die „Treue Seelen“ interessant macht, sondern die Vermittlung des Lebensgefühls, der enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen, die die Jugend aus der Provinz mit der Metropole verknüpft, in der immerhin auch David Bowie gewirkt hat. Doch abseits der Kreuzberger Szene und anderer Schmelztiegel ist das Leben in West-Berlin eben doch vor allem eins: eng und spießig. Da lässt sich auch schwer eine neue Liebe entfalten, zumal noch einige Altlasten mitgetragen werden. So bildhaft und authentisch das Leben in Berlin Mitte der 1980er auch geschildert wird und so anschaulich Raether mit der Sprache spielt, verliert „Treue Seelen“ gerade im letzten Drittel an Sogkraft, wenn der politische Widerstand im Untergrund in Ost-Berlin thematisiert wird und die Beziehung zwischen Achim und den beiden Schwestern Marion und Sybille den Plot zerfasern lässt. 
Am Ende hat Raether ein wenig zu viel gewollt und probiert, Liebesgeschichte und Heimatkunde, Zukunftsängste und Agenten-Thriller – hier wäre weniger definitiv mehr gewesen.  

Håkan Nesser – „Ein Fremder klopft an deine Tür“

Dienstag, 17. Oktober 2023

(btb, 368 S., HC) 
Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren hat der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser seit 1993 maßgeblich zur Popularität skandinavischer Krimis vor allem auch im deutschsprachigen Raum beigetragen, doch hat sich Nesser stets bemüht, die Grenzen des Krimi-Genres auszuloten und sich auf literarische Krimis mit philosophischen Zügen zu verlegen. Dazu trugen nicht nur die Romane um Inspektor Barbarotti bei, sondern auch unzählige eigenständige Romane wie zuletzt „Der Fall Kallmann“ und „Der Halbmörder“. Mit seinem neuen Buch bewegt sich Nesser zumindest regional in Van Veeterens Gefilden, nämlich in Maardam, wo nun sein Nachfolger Kommissar Jung seinen Dienst verrichtet. „Ein Fremder klopft an deine Tür“ stellt eine Sammlung von drei unabhängigen Geschichten dar, in denen Jung allerdings nur jeweils eine winzig kleine Nebenrolle verkörpert. 
In „Bewunderung“ verspürt Anna Kowalski ein gewisses Kribbeln, als sie am Valentinstag genau zwischen ihrer eigenen Wohnungstür und der ihrer Nachbarin Wilma Verhoven einen Briefumschlag entdeckt, der nicht beschriftet, sondern nur mit einem gezeichneten Herzen versehen worden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Brief eigentlich eher an die zehn Jahre jüngere, sehr attraktive und. entsprechend begehrte Wilma gerichtet ist, doch nicht zuletzt der Neid lässt Anna den Brief an sich nehmen und öffnen lässt. Der darin enthaltene Schlüssel führt Anna zu einem Schließfach am Bahnhof, dann zu einem begehrten Logenplatz in der Oper, wo der heimliche Bewunderer allerdings nicht auftaucht. Für Anna stellt diese geheimnisvolle Schnitzeljagd eine willkommene Abwechslung zu der zehnjährigen Ehe mit dem Kartonfabrikanten Herbert dar, doch mit der Entdeckung einer Leiche wird aus dem amourösen Spiel auf einmal bitterer Ernst… 
„Buße“ erzählt die Geschichte eines 65-jährigen Mannes, der vor zehn Jahren in das ländliche Lembork gezogen ist, vor fünf Jahren die beiden Islandpferde eines verstorbenen Bauern übernommen und es sich zur Gewohnheit gemacht hat, zweimal die Woche mit dem Bus nach Lindenberg zu fahren, wo er sich in das Café gegenüber der Kirche setzt und zu seinem Kaffee ein Käsebrot verzehrt. Das ist eine willkommene Abwechslung zu der Arbeit an der Übersetzung eines 1300 Seiten umfassendes Werk eines deutschen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert darstellt, mit der der Mann normalerweise seine Zeit verbringt. Immer wieder muss er aber auch an das Mädchen in der dünnen Lederjacke denken, das ebenfalls regelmäßig in dem Bus sitzt und offensichtlich zum Gymnasium in Lindenberg geht. Doch dann macht er eine beunruhigende Beobachtung und folgt dem Mädchen… 
„Ihm ist klar, dass er zurückkehren wird, und wenn an diesem vorerst noch konturlosen Platz etwas erforscht werden muss, wird er Zeit haben, es zu tun. Aber jetzt, während er dort sitzt, sind ihre tiefen Atemzüge, wie sie sich wappnete, ihr Widerwille, die schmale Straße in Moerkerlands Wald hinaufzugehen, wichtig. Das Bild ist auf eine Weise fordernd, mit der er nicht richtig umzugehen weiß. Noch nicht, aber es eilt auch nicht. Wie gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, wird er wissen, was seine nächsten Schritte sein werden.“ (S. 165) 
In der Titelgeschichte erinnert sich die fünfundvierzigjährige Judith Miller an die Ereignisse, die vor fast achtzehn Jahren ihren Anfang genommen haben, als sie einem fremden, verwahrlost aussehenden Mann während eines Unwetters die Tür ihrer Waldhütte öffnete und ihm das Bett überließ, damit er sich einmal richtig ausschlafen konnte. Wie sich nach dieser ungewöhnlichen Nacht herausstellen sollte, hat Judiths nächtlicher Gast zusammen mit zwei weiteren Männern bei einem Einbruch Goldbarren im Wert von einer Million Euro erbeutet. Vor einem halben Jahr hat Judith nun einen Brief mit einer Karte und Erklärungen bekommen, die ihr und ihrer Tochter Nora ein unbeschwertes Leben ermöglichen sollten. Doch auf den verborgenen Schatz hat es noch jemand abgesehen… 
Auch wenn es in jeder dieser drei Geschichten um Verbrechen geht, handelt es sich weniger um klassische Whodunit-Plots, auch nicht um die kriminalistische Auflösung der Fälle, sondern vor allem um die Schilderung einzelner Schicksale, wie sie in Verbindung mit den nachfolgenden Verbrechen gekommen sind. Die Frage nach der Täter-, Mittäterschaft oder des Opfers spielt dabei ebenfalls eine nachgeordnete Rolle. 
Nesser schildert in seiner gewohnt leicht verständlichen, bildreichen und immer wieder auch humorvollen Sprache ausführlich die jeweiligen Lebensumstände der männlichen wie weiblichen Protagonisten und widmet deren Alltag und Handlungen ebenso viel Aufmerksamkeit wie den vielfältigen Gedankengängen, wobei Nessers Sinn fürs Philosophische immer wieder durchscheint. Fans klassischer Krimiliteratur werden wenig erbaut sein von den Plots, in denen das Zufallsprinzip gerade in den nur kurz skizzierten Auflösungen arg überstrapaziert wird. Das hat Nesser früher weitaus besser gelöst. 

Håkan Nesser – „Der Halbmörder“

Dienstag, 15. November 2022

(btb, 286 S., HC) 
Mit seinen Romanreihen um die Kommissare Van Veeteren und Barbarotti hat sich Håkan Nesser auch außerhalb seiner schwedischen Heimat eine treue Fangemeinde aufbauen können. Auch wenn es vielleicht kein Alleinstellungsmerkmal darstellt, haben sich Nessers Romane nicht allein um die Aufklärung von Verbrechen gedreht, sondern sind stets tief in die Persönlichkeit der Figuren eingetaucht und waren doch wieder von einer einzigartigen Mischung aus philosophischen Betrachtungen und lakonischem Humor umwoben. 
Sein neues Werk trägt den bereits wegweisenden Untertitel „Die Chronik des Adalbert Hanzon in Gegenwart und Vergangenheit, von ihm selbst verfasst“ und lässt mehr als nur erahnen, dass Nesser einmal mehr die konventionellen Krimi-Strukturen auf eigenwillige Weise umschifft. 
Der dreiundsiebzigjährige Adalbert Hanzon verbringt seinen Lebensabend in einer nur kurz und anonym als M bezeichneten Stadt und hat verschiedene Methoden entwickelt, seinen Verstand gegen die Vergesslichkeit zu wappnen, indem er sich Sonntagabends eine Liste mit sieben Namen von Personen – samt Beschreibung auf der anderen Seite – erstellt, um sich dann jeden Morgen anhand der Beschreibungen an die Namen zu erinnern. 
Zu den Höhepunkten seines Alltags zählen die regelmäßigen Besuche bei Henry Ullberg, der schräg gegenüber wohnt und mit dem er Whisky mit Trocadero-Limonade trinkt, Zigaretten raucht und oft genug heftig streitet. Sein Leben gerät allerdings völlig aus den Fugen, als er in der Apotheke seinen Nachschub an Samarin gegen sein Sodbrennen auffüllen will und auf einem der Stühle eine Frau wiederzuerkennen glaubt, die vor über vierzig Jahren die einzige Liebe in seinem Leben gewesen war und dann spurlos verschwand. Natürlich traut sich Adalbert nicht, die Frau, die er als Andrea Altman kennt, anzusprechen, aber Gewissheit will er natürlich schon haben, also beauftragt er seine Cousine, im Schwimmbad nach einer Frau Ausschau zu halten mit einer Tätowierung „14/6“ über ihrer Brust. Sein Trinkkumpan schaltet sich ebenfalls eigenmächtig in Adalberts Ermittlungen ein, aber erst ein engagierter Privatdetektiv findet heraus, dass die Adresse mit der Frau heraus, die sich nun Beate Bausen nennt. 
Adalbert Hanzon hat da längst angefangen, eine Chronik über die unverhoffte Wiederbegegnung mit seiner alten, großen Liebe zu verfassen. Dabei schweift er immer wieder in die Vergangenheit ab, rekapituliert wichtige Stationen seiner Kindheit und Jugend bis zur Anstellung als stellvertretender Schul-Hausmeister und der ersten Begegnung mit Andrea, die er als Anhalter kennenlernte. Die Einzelteile seiner Geschichte werden erst nach und nach enthüllt, vor allem die Gründe für seinen Gefängnisaufenthalt… 
„Es reicht nicht, darauf zu warten, dass etwas geschieht. Hoffen mag ja groß sein, aber Handeln ist größer. Letzteres finde ich in dem Herbst in einem Buch. Die Handlung, die der Hoffnung den Taktstock abnimmt. Aber welche Handlung? Was muss ich tun? Bis jetzt, in all meinen achtundzwanzig Jahren, ist mein Leben von Zufällen gelenkt worden, ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Entscheidung von größerer Tragweite getroffen zu haben.“ (S. 175) 
So kurios bereits der Titel „Der Halbmörder“ anmutet, so unbestimmt entwickelt sich auch die Geschichte von Adalbert Hanzon, der als älterer Herr ohne besondere Ambitionen seinen Alltag in der Kleinstadt M bestreitet und die beste Voraussetzung für den „unzuverlässigen Erzähler“ mitbringt, nämlich neben dem fortgeschrittenen Alter auch einen Hang nicht nur zu Hexenschüssen, sondern auch zur Vergesslichkeit. 
Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Liebesgeschichte zwischen Adalbert und Andrea. Immer wieder springt der Ich-Erzähler zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bis sich – wenig überraschend – der Grund für seine Gefängnisstrafe enthüllt. „Der Halbmörder“ entpuppt sich als erstaunlich unspektakuläre Geschichte, die vor allem durch Nessers locker-flüssigen Schreibstil und die eingangs erwähnte Mischung aus philosophischen Erkenntnissen und manchmal sogar etwas schwarzem Humor geprägt wird. Davon abgesehen entwickelt sich Adalbert Hanzons Chronik als erschreckend vorhersehbar. Punkten kann „Der Halbmörder“ vor allem durch die stimmige Atmosphäre. Die eindringlichen Beschreibungen lassen die Empfindungen, Überlegungen, Hoffnungen und Ängste des Ich-Erzählers gut nachempfinden, doch für einen fesselnden Roman reicht das nicht aus.  

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 7) „Schach unter dem Vulkan“

Sonntag, 24. Oktober 2021

(btb, 430 S., HC) 
Seit der schwedische Erfolgsschriftsteller Håkan Nesser 2003 mit „Sein letzter Fall“ seinen zehnten und vorerst letzten Roman um Kommissar Van Veeteren veröffentlichte, etablierte er mit Inspektor Barbarotti eine neue Figur, die fortan in Serie ermittelte. Mit „Schach unter dem Vulkan“ erscheint nun der bereits siebte Roman um den längst zum Kommissar beförderten Barbarotti, der mit seiner Kollegin und Frau Eva Backman im fiktiven Kymlinge das mysteriöse Verschwinden dreier Schriftsteller aufklären muss. 
Der erfolgreiche Schriftsteller Franz J. Lunde leidet seit zwei Jahren unter einer Schreibblockade. Seiner Lektorin Rachel Werner hat er zwar versichert, bis Weihnachten ein Manuskript über sechzig, siebzig Seiten vorzulegen, die Hälfte des Vorschusses ist auch schon ausbezahlt worden, doch die zündende Idee ist ihm bislang noch nicht gekommen. Als Lunde bei einer Lesung in Ravmossen aus dem Publikum mit der Frage einer Frau aus dem Publikum konfrontiert wird, ob er das perfekte Verbrechen, das er in seinem letzten Buch beschrieb, selbst erlebt habe, bricht der Moderator zwar die Fragerunde ab, doch im Hotelzimmer macht sich anschließend Angst bei dem Autor breit, der gerade an einem sehr autobiografisch gefärbten Manuskript mit dem Titel „Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers“ arbeitet. 
Bei der anschließenden Lesung am 21. November in Kymlinge wiederholt sich der Vorfall, danach verschwindet Lunde spurlos von der Bildfläche. Als Lundes in der Schweiz lebende Tochter Viktoria tagelang keinen Kontakt zu ihrem Vater herstellen konnte, gibt sie eine Vermisstenmeldung auf. Während Barbarottis Kollegin und Frau Eva in Sydney verweilt, um ihrem fast dreißigjährigen Sohn Kalle aus der Klemme zu helfen. Er sitzt wegen des Verdachts auf Drogenbesitz und Misshandlung seiner Frau in Untersuchungshaft. In einem Gespräch mit Lundes Schwester und der Polizeianwärterin Sisulu erfährt Barbarotti, dass Lundes Frau vor einigen Jahren nach einer Wanderung an der Grenze zwischen den USA und Kanada verschwand und Lunde selbst vor ein, zwei Jahren auch völlig untergetaucht sei. 
Als aber mit der Lyrikerin Maria Green und dem gefürchteten Literaturkritiker Jack Walde zwei weitere Autoren von der Bildfläche verschwinden, ohne dass es einen Anhaltspunkt gibt, was es mit diesen Fällen auf sich hat, beginnen Barbarotti und seine dann aus Australien zurückgekehrte Frau mit der kaum Resultate bringenden Spurensuche. 
„Wie stellt man sicher, dass man mit diesem Frachter keinen Schiffbruch erleidet? Wenn nirgendwo Land in Sicht ist, wie gelingt es einem dann, wenigstens den richtigen Kurs zu finden? Er merkte, dass ihn Lindhagens länger zurückliegende Bemerkung ärgerte, drei Fälle ergäben ein besseres Muster als zwei. War das nur etwas gewesen, das man in die Runde warf, weil es schlau klang, oder war da etwas dran? Auf welche Weise konnte Jack Waldes Schicksal, wie immer es auch aussehen mochte, zur Klärung der Frage beitragen, was mit Franz J. Lunde und Maria Green passiert war?“ (S. 326) 
Mit „Schach unter dem Vulkan“ bewegt sich Nesser in einem Metiers, das er aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, doch bekommt der Leser nur wenig Neues aus dem Literaturbetrieb vermittelt, außer einer Idee davon, wie verschroben und zurückgezogen Schriftsteller sein können. Davon abgesehen plätschert der neue Barbarotti-Roman ebenso ziellos dahin wie die Ermittlungen von Nessers Protagonisten, der selbst etwas blass bleibt. Die kurze Krise, die die räumliche Trennung von Barbarotti und Backman heraufbeschwört, ist schon so schnell überwunden, wie Eva Backman wieder aus Australien zurückkehrt und sich mit ihrem Mann in die Ermittlungen reinhängt. 
Auch hier gewinnen die Figuren wenig Profil, am meisten noch Lunde und der Kritiker Walde, der unter Pseudonym sehr erfolgreich Romane verfasst, die er als Kritiker gnadenlos verreißen würde, doch Spannung kommt nie auf, da es nie auch nur einen Hinweis auf das Schicksal der drei vermissten Autoren gibt und erst zum Ende der Fall eher zufällig gelöst wird. 
Bis dahin lässt Nesser auch recht oberflächliche Kommentare zu Donald Trump und den Auswirkungen der gerade um sich greifenden Corona-Pandemie in die Geschichte einfließen, überzeugt mit humorvollen Einfällen und sprachlichen Feinheiten, doch insgesamt zählt „Schach unter dem Vulkan“ definitiv zu den schwächeren Werken des schwedischen Bestseller-Autors.  

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 6) „Münsters Fall“

Samstag, 17. April 2021

(btb, 318 S., HC) 
Nachdem sich Hauptkommissar Van Veeteren auf unbestimmte Zeit zur Ruhe gesetzt hat und es nun in einem Antiquariat weitaus entspannter angehen lässt, hat sein ehemaliger Kollege Kommissar Münster bei der Kriminalpolizei in Maardam alle Hände voll zu tun, den bestialischen Mord an dem 72-jährigen Rentner Waldemar Leverkuhn aufzuklären. Bei 28 Messerstichen gehen die Ermittler von einer ungeheuren Wut aus, die der Täter/die Täterin gegenüber dem Opfer empfunden haben muss, doch weder die Befragungen von Leverkuhns Freunden, mit denen er am Abend zuvor im Freddy’s den Gewinn der Lottogemeinschaft in Höhe von 20.000 Gulden feucht-fröhlich gefeiert hatte, noch seiner Frau und den Nachbarn deuten in eine dementsprechende Richtung. Es lassen sich auch keine Zeugen für den Zeitraum zwischen dem Verlassen der Kneipe bis zur Entdeckung der Leiche durch seine Frau Marie-Louise finden, die den Abend bei ihrer Freundin und ehemaligen Arbeitskollegin Emmeline von Post in Bossingen verbracht und ihren Mann bei ihrer Heimkehr entdeckt hatte, allerdings erst gegen Viertel vor drei nachts die Polizei informierte. 
Dann verschwinden zwei weitere Menschen in diesem Zusammenhang, Felix Bonger, einer von Leverkuhns Freunden aus der Tippgemeinschaft, und Leverkuhns Nachbarin Else van Eck. Da auch Leverkuhns Kinder wenig über ihr Verhältnis zu ihrem Vater verlauten lassen, ist Münster so ratlos, dass er schließlich Van Veeteren um Unterstützung bittet. 
Als Leverkuhns Frau plötzlich den Mord an ihrem Mann gesteht, erklärt sich der alte Hauptkommissar a.D. bereit, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Er ist sich sicher, dass Frau Leverkuhn unschuldig ist und mit ihrem Geständnis jemanden schützen will. Während Münster und seine Kollegin Ewa Moreno noch einmal die Kinder des Opfers nach Hintergründen zu ihrem Vater befragen wollen, kommen sich die beiden auch persönlich näher, was die Arbeit nicht unbedingt leichter macht: Morena hat sich gerade von ihrem Freund Claus getrennt, der sich allerdings droht umzubringen, und Münster hat sich mit seiner Frau Synn auch schon etwas auseinandergelebt. Um in dem schwierigen Fall voranzukommen, versucht sich Münster noch einmal an Van Veeterens Ermittlungsgrundsätze zu erinnern … 
„Je älter er geworden war, umso wichtiger erschien es ihm, sich selbst zu schützen und die Dinge auf Distanz zu halten. Und erst wenn die anfänglichen Wogen der Abscheu sich langsam legten, abebbten, hatte es Sinn, sich dem Ganzen intensiver zuzuwenden, genau zu prüfen und zu versuchen, sich in die Natur der Straftat hineinzuvertiefen. In ihren wahrscheinlichen Hintergrund. Die Ursachen und Motive. Den Kern des Ganzen, wie Van Veeteren es nannte. Das Muster. Einen Teil dieser Strategien hatte sicher der Hauptkommissar ihm vermittelt, aber bei weitem nicht alle.“ (S. 75) 
In seinem sechsten Fall bleibt der kauzige Hauptkommissar Van Veeteren einmal außen vor, überlässt seinem jungen Kollegen Münster die Hauptbühne und zieht sich als nahezu stiller Beobachter hinter die Kulissen zurück. Münster ergeht es allerdings nicht besser oder schlechter als seinem in vielen Dingen verehrten Vorbild, denn so trostlos und brutal das Leben eines 72-Jährigen sein Ende findet, so mühsam und ergebnislos tappen Münster, Moreno & Co. durch die Ermittlungen, die letztlich zur Aufdeckung eines erschütternden Familiengeheimnisses führen, das sich bereits in den ersten Beobachtungen andeutet, dass die drei Leverkuhn-Kinder kaum Kontakt zu ihren Eltern gepflegt haben. 
Es sind auch weniger die schleppenden Ermittlungserfolge, die „Münsters Fall“ lesenswert machen, sondern die menschlichen Tragödien von fast Shakespeare’schen Ausmaßen, die sich nicht nur in der Familie des Ermordeten entfalten, sondern auch im Leben der Ermittler – wenn da auch in weitaus alltäglicheren Dimensionen. Nesser erweist sich einmal mehr als ebenso feiner Stilist wie Erzähler, der in gemächlichem Tempo den Fall zwar immer im Auge hat, aber vor allem ein Gespür für seine Figuren entwickelt und ihre Beziehungen zueinander. Wie hier Liebe und Eifersucht, Freiheit und Abhängigkeit, Schuld und Sühne, Mut und Verantwortung thematisiert und sogar immer wieder mit einem Hauch von Humor aufgelockert werden, macht „Münsters Fall“ eher zu einem gelungenen Drama als zu einem konventionellen Krimi.  

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 5) „Der Kommissar und das Schweigen“

Donnerstag, 7. Januar 2021

(btb, 318 S., HC) 
In dem idyllischen Touristenort Sorbinowo ist Polizeichef Malijsen gerade in den Urlaub gegangen, als sein Vertreter, Polizeianwärter Merwin Kluuge, Mitte Juli einem anonymen Hinweis auf ein verschwundenes Mädchen aus dem Lager des Reinen Lebens in Waldingen nachgehen muss. Doch die Nachfragen bei dem Sektenführer Oscar Jellinek und seinen Helferinnen und den meist sehr jungen Mädchen ergeben nichts. Kluuge beschleicht allerdings das Gefühl, dass mehr an der Sache dran ist, und erhält Unterstützung von Kommissar Van Veeteren, der nicht nur kurz davor steht, seinen geplanten Urlaub auf Kreta anzutreten, sondern mal wieder mit dem Gedanken spielt, den Polizeidienst zu beenden und sich stattdessen auf eine Stellenanzeige eines Antiquariats zu bewerben. 
Kaum ist er in Sorbinowo eingetroffen, wird ein zweites Mädchen als vermisst gemeldet, dann beide vergewaltigt und erwürgt im Wald aufgefunden. Bevor Jellinek zu den beiden Morden befragt werden kann, verschwindet auch er. Den Polizisten gelingt es allerdings nicht, brauchbare Informationen von den im Lager verbliebenen Frauen und Mädchen zu erhalten, so dass Van Veeteren mit Jung und Reinhart, die er als Verstärkung kommen ließ, die Nachforschungen auf die Nachbarschaft ausdehnt. Doch auch hier machen die Ermittler kaum Fortschritte … 
„Also: insgesamt gesehen fühlte Van Veeteren sich nicht sehr viel schlauer, als er schließlich nach dem letzten Gespräch wieder ins befreiende Menschengewimmel tauchen durfte. Aber auch nicht sehr viel dümmer, und was lag da näher, als den ganzen Nachmittag einfach in Klammern zu setzen und ihn zu den Akten zu legen. Eine unter vielen.“ (S. 232) 
Van Veeteren will einfach nur weg, seinen zynischen Gedanken zu seiner Exfrau und seinem Beruf entfliehen, und so folgt er notgedrungen dem Hilferuf aus einem benachbarten Revier, mit dessen Leiter er Mitte der 1970er Jahre Bekanntschaft gemacht hat. Zunächst gibt es ja keinen wirklichen Fall, den Van Veeteren und der durchaus fähig erscheinende Polizeianwärter Kluuge da zu bearbeiten haben, aber als sich die unbestätigten Vermisstenanzeigen von anonymer Seite als abscheuliche Morde erweisen, kommt die immer größer werdende Ermittlertruppe überhaupt nicht weiter, weil alle möglichen Zeugen entweder ganz schweigen oder nur sehr wortkarg auf die Befragungen der Ermittler reagieren. 
Leider dümpelt der Plot deshalb auch eher nichtssagend vor sich hin. Van Veeteren paddelt mit dem Kanu durch die Gegend, probiert die fünf Möglichkeiten zu essen im Ort aus, unterhält sich mit dem Chefredakteur der Zeitung, der sich zudem als Cineast entpuppt. 
Als Krimi taugt Nessers fünfter Van-Veeteren-Fall nur bedingt. Die Ermittlung kommt eigentlich nie so recht in Gang, der einzig Verdächtige im Fall der beiden ermordeten Mädchen ist selbst verschwunden, und so gibt sich der berufsmüde Kommissar vor allem den anregenden Gesprächen und kulinarischen Genüssen mit dem Redakteur Przebuda hin. Selbst die sporadisch eingeführte Perspektive des zunächst namenlosen Täters verleiht dem Roman keine Tiefe. 
Wenn am Ende letztlich ein Schreibfehler - und damit laut Van Veeteren der Zufall - dabei hilft, den Täter zu identifizieren, passt das zu dem seltsam lustlos konstruierten Roman, der den beiden schrecklichen Morden, die es zunächst aufzuklären gilt, überhaupt nicht gerecht wird. Aber diese Agonie ist es wahrscheinlich auch, die Van Veeteren nach einer anderen Berufung Ausschau halten lässt. 

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 6) „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“

Montag, 28. September 2020

(btb, 414 S., HC) 
Der Ideenhistoriker Albin Runge lebte zur Jahrtausendwende mit seiner Frau Viveka in Uppsala, wo sie beide an der Universität arbeiteten. Während die Theologin jedoch promovierte und einen halbwegs sicheren Job hatte, wurde Runge nie recht fertig. Als ihm und seinem Kollegen schließlich die Forschungsmittel am Institut gestrichen wurden, nahm er schließlich das Angebot von seinem Schwager Tommy an, in seinem Busunternehmen zu arbeiten. Runge ließ sich von Vivekas älteren Bruder die Ausbildung zum Busfahrer finanzieren und fand überraschenderweise Spaß daran, kunstinteressierte Rentner nach Skagen in Dänemark zu fahren und Orte wie Krakau, Madrid und Sankt Petersburg kennenzulernen, die er sonst nie besucht hätte. 
Doch im März des Jahres 2007 kommt es zur Katastrophe. Als Runge eine Gruppe von Neuntklässlern aus Stockholm zu einer Skifreizeit nach Duved fährt, versucht er einem Tier auf der Straße auszuweichen, gerät dabei auf der vereisten Fahrbahn in den Gegenverkehr und stürzt mit dem Bus zwanzig Meter einen Hang hinunter. Ungefähr die Hälfte der Fahrgäste kommt bei diesem Unfall ums Leben. Runge wird zwar wegen Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Tötung angeklagt, aber in allen Punkten freigesprochen. Die Ehe mit Viveka zerbricht, aber zwei Jahre später erbt Runge vierzig Millionen Kronen von seinen Eltern und lernt in der Bank die attraktive Angestellte Karin Sylwander kennen. Der unscheinbare Runge lädt die jüngere Frau zum Abendessen ein und heiratet sie wenig später. Fünfeinhalb Jahre nach dem tragischen Unglück erhält Runge mysteriöse Briefe, die er als Drohungen versteht und mit „Nemesis“ unterschrieben sind. Als sich die Drohungen auf den Jahrestag des Unglücks zuspitzen, weiht er die beiden Kommissare Eva Backman und Gunnar Barbarotti ein, die sich bereits seit fünfundzwanzig Jahren kennen, aber erst vor kurzem auch ein (heimliches) Liebespaar geworden sind. Viel kann die Polizei nicht unternehmen, ordnet jedoch eine Bewachung an, der sich Runge und seine Frau aber entziehen. Schließlich verschwindet Runge während der gemeinsamen Flucht auf der Fähre spurlos und wird schließlich für tot erklärt … 
Sechs Jahre später erschießt Eva Backman bei einem Einsatz einen siebzehnjährigen Jungen, bevor dieser eine Bombe unter ein Auto mit einem knutschenden Pärchen werfen konnte. Um der Unruhe wegen der internen Ermittlungen zu entgehen, nehmen sich Backman und Barbarotti eine Auszeit und ziehen sich in die Abgeschiedenheit Gotlands zurück. Als Barbarotti Albin Runge wiederzusehen glaubt, erwachen seine kriminalistischen Instinkte und rollt zusammen mit seiner Kollegin und Lebensgefährtin den ungelösten Fall wieder auf … 
„Was störte ihn am meisten, wenn es um diesen verfluchten Runge ging? Das heißt, abgesehen davon, dass er vielleicht lebte. Sicher, Barbarotti gönnte es ihm, dass er dem Tod entronnen war, aber wie in aller Welt war das nur möglich? Was war passiert? Welches Szenario hatten sie so vollständig übersehen, als sie vor fünf … nein, fünfeinhalb Jahren in dem Fall ermittelten? Rein polizeilich war er doch gelöst und zu den Akten gelegt worden. Dennoch blieb die Frage, was damals eigentlich passiert war.“ (S. 225) 
Mit seinem sechsten Fall um den etwas über fünfzigjährigen Kommissar Gunnar Barbarotti präsentiert der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser wieder einmal einen äußerst kniffligen Fall, in dessen Zentrum zwar die Frage steht, was aus dem 2013 verschwundenen Albin Runge letztlich geworden ist, der aber auch die Natur menschlicher Beziehungen thematisiert. Auf der einen Seite beschreibt Nesser, wie sich innerhalb der fünfeinhalb Jahre zwischen dem Verschwinden und dem vermeintlichen Wiederauftauchen von Albin Runge die Beziehung zwischen Barbarotti und der einige Jahre jüngeren Eva Backman von einer rein kollegialen zu einer Liebesbeziehung entwickelte, vor allem wird aber die weitaus komplexere Ehe von Albin Runge und Karin Sylwander seziert. 
Indem der Autor zwischen den Jahren und den Protagonisten hin- und herspringt, hält er geschickt die Spannung hoch. Albin Runge lässt er dabei vor allem durch seine eigenen Notizbuch-Eintragungen selbst charakterisieren, wobei die darin zum Ausdruck kommende Unscheinbarkeit und Lebensmüdigkeit durch die erste Begegnung mit Eva Backman noch verstärkt wird. Wie Backman und Barbarotti während ihrer Auszeit in Gotland schließlich den Fall wieder aufrollen, ist vor allem durch Barbarottis zwischenzeitlichen philosophischen Betrachtungen und dem damit korrespondierenden leichten Humor seiner Lebensgefährtin besonders lesenswert, aber auch die Art und Weise, wie die Geheimnisse in Runges Vergangenheit nach und nach gelüftet werden, sorgen dafür, dass die Leser bis zum Finale glänzend unterhalten werden. 

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 4) „Die Frau mit dem Muttermal“

Sonntag, 31. Mai 2020

(Weltbild, 285 S., HC)
Der Geschäftsmann Ryszard Malik wird eines Abends von seiner Frau Ilse nach ihrer Rückkehr vom Theater tot hinter der geöffneten Haustür aufgefunden – mit je zwei Schüssen in die Brust und in den Unterleib. Wenig später wird auch der wegen einer Tätlichkeit einem Schüler gegenüber suspendierte Lehrer Rickard Maasleitner ebenfalls mit einer Berenger 7,65 Millimeter erschossen, wiederum in die Brust und in die Geschlechtsteile. Hauptkommissar Van Veeteren und seine Kollegen tappen zunächst völlig im Dunkeln. Zwar war Maasleitner bei seinen Kollegen nicht besonders beliebt, aber ein Mordmotiv lässt sich bei beiden Opfern im näheren Bekanntenkreis einfach nicht finden.
Winnifried Lynch, die neue Freundin von Van Veeterens Kollege Reinhart, vermutet, dass es sich bei dem Täter um eine in ihrer Ehre verletzte Frau handeln müsse, doch bringt diese Annahme die Ermittlungen zunächst nicht weiter. Dann entdeckt einer der Ermittler die beiden Opfer gemeinsam auf einem etwa dreißig Jahre alten Foto, auf dem die Abgangsklasse der Militärstabsschule von 1965 abgebildet ist, neben den beiden getöteten Männern noch 33 weitere Absolventen. Die Identifizierung und Befragung der übrigen Soldaten kommt aber nur schleppend voran, ohne wichtige Erkenntnisse für die beiden Mordfälle zu bringen. Schließlich könnten sich unter den Männern auf dem Foto sowohl weitere Opfer als auch der Täter befinden …
„Die Fragen blieben offen. Gab es überhaupt eine kleinere Gruppe innerhalb der Gruppe? Wenn nicht – wenn der Mörder hinter ihnen allen her war, dann musste es sich um einen Verrückten handeln. Mit einem unbegreiflichen, irrationalen und vermutlich vollkommen schwachsinnigen Motiv. Niemand hat eine in welcher Hinsicht auch immer annehmbare Begründung, 31 Menschen einen nach dem anderen zu erschießen.“ (S. 175) 
Mit seinem vierten, hierzulande 1998 erstmals veröffentlichten und mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichneten Van-Veeteren-Roman „Die Frau mit dem Muttermal“ präsentiert Håkan Nesser keinen konventionellen Whodunit-Plot, sondern beschreibt eher den ermüdenden Alltag einer an sich schlagkräftigen Ermittlertruppe, deren Vorgehen aber auch sehr behäbig wirkt. Das trifft aber auch den Plot zu. Die (namentlich noch nicht bekannte) Täterin wird gleich im ersten Kapitel vorgestellt, das Motiv lässt sich bereits erahnen, wird aber erst zum Ende hin konkretisiert. Bis dahin dreht sich vor allem alles um den Alltag der Opfer bis zu ihrem Ableben, das durch die mysteriösen, anonymen Anrufe, mit denen den Adressaten der The-Shadows-Hit „The Rise and Fall of Flingel Bunt“ aus den 1960ern vorgespielt wird.
Verwertbare Spuren und ein erkennbares Motiv können weder Van Veeteren noch seine Kollegen Münster, Reinhart, Moreno, Heinemann, Jung und Rooth bei den Befragungen von Kollegen und Familienangehörigen der Opfer und den Untersuchungen der Tatorte ausmachen. Die nur allmählich aufgebaute, kaum spürbare Spannung resultiert einzig aus der Frage nach möglichen weiteren Opfern, bis die mutmaßliche Täterin endlich gefasst wird. Bis dahin wechselt Nesser ständig die Perspektive zwischen den einzelnen Ermittlern, die allesamt ungewöhnlich blass bleiben, den Opfern und der Täterin. Das bringt zwar etwas Fluss in den schlichten Plot, aber die Handlung wenig voran. Vor allem die unzähligen, nicht verwertbaren Befragungen ermüden auf die Dauer, machen aber deutlich, wie der Alltag der Ermittler üblicherweise aussieht.
Es ist nur bedauerlich, dass Van Veeteren, der sonst auch mit seiner schwierigen Beziehung zu seinem Vater und den Frauen in seinem Leben portraitiert wird, hier überhaupt nicht an Kontur gewinnt, außer dass er klassische Musik hört, Schach und Badminton spielt. Mit dem abschließenden ausführlichen Geständnis der Täterin wird der Fall schließlich ganz unspektakulär zu Ende geführt. Von den bisherigen Van-Veeteren-Büchern ist „Die Frau mit dem Muttermal“ das bislang schwächste.
Leseprobe Hakan Nesser - "Die Frau mit dem Muttermal"