Will man die Frage nach dem wichtigsten deutschen Musik-Export beantworten, ist man heutzutage wahrscheinlich versucht, Hans Zimmer zu nennen, weil der aus Frankfurt am Main stammende Autodidakt für eine Vielzahl von Soundtracks für Hollywood-Blockbuster wie „Pearl Harbor“, „Rain Man“, „Thelma & Louise“, „Gladiator“, „Interstellar“ und „Dune“ verantwortlich zeichnet. Doch auch die Wall-of-Sound-Arrangements eines Hans Zimmer wären nicht möglich gewesen ohne das revolutionäre musikalische wie gesamtkünstlerische Konzept von Kraftwerk, die für viele Fans, Musikjournalisten und Kulturwissenschaftler sogar einflussreicher als die Beatles angesehen werden. Uwe Schütte darf fraglos als einer der ausgewiesenen Pioniere der elektronischen Musik betrachtet werden, hat der studierte Germanist nicht nur an der Aston University ein Symposium über die künstlerische Bedeutung von Kraftwerk konzipiert und organisiert, sondern auch den Essayband „Mensch – Maschinen – Musik: Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk“ herausgegeben und den englischsprachigen Band „Kraftwerk: Future Music from Germany“ veröffentlicht.
Mit „Wir sind die Roboter. Kraftwerk und die Erfindung der elektronischen Musik“ legt Schütte nun zum 50. Jahrestag des bahnbrechenden Albums „Autobahn“ eine umfangreiche Werksbiografie vor, die die „Geburt der elektronischen Popmusik aus dem Geiste einer ,industriellen Volksmusik‘“ vor allem vor dem Hintergrund künstlerische Einflüsse auf die vier Mensch-Maschinen-Musiker Ralf Hütter, Florian Schneider, Karl Bartos und Wolfgang Flür beleuchtet, aber auch den nachhaltigen Einfluss dokumentiert, den Kraftwerk auf die weitere Entwicklung der elektronischen Musik ausüben sollte.
Was Anfang der 1970er Jahre im Kling-Klang-Studio in der Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofs entstanden ist, lässt sich als „kulturelles Phänomen von transnationaler Reichweite“ beschreiben, bei dem minimalistische und retro-futuristische Prinzipien zu einer Reihe von bahnbrechenden Konzeptalben geführt haben, die durch die multimediale Kombination aus synthetischen Klängen, einheitlichem Grafikdesign und einer sich stets weiterentwickelnden Aufführungspraxis, die ebenso wie die Musikproduktion im strengen Gegensatz der Rock’n’Roll-Attitüde steht.
Schütte zeigt auf, dass gerade Kraftwerks Spiel mit ihrer deutschen Identität, vor allem mit teutonischen Klischees im englischsprachigen Ausland zum internationalen Erfolg der Musikarbeiter beitrug. Für Kraftwerk selbst ging es jedoch eher um die Identifikation mit der politischen Vision eines friedlich vereinten Europas, um so einen eigenständigen Weg aus dem Vakuum zu finden, das der Faschismus in der deutschen Kultur hinterließ.
Düsseldorf avancierte zur Hauptstadt der elektronischen Musik, brachte nicht nur die beiden Kraftwerk-Ableger Neu! und La Düsseldorf hervor, sondern später auch Acts wie DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft), Propaganda, Der Plan, Die Krupps und Rheingold. Die aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Hütter und Schneider ließen sich bei ihrer Konzeptkunst nicht nur von der hochexperimentellen Musik Karlheinz Stockhausens inspirieren, sondern auch von Fritz Langs expressionistischen Meisterwerk „Metropolis“ (1927) und dem 1919 in Weimar gegründeten Bauhaus, dessen Vision einer neuen funktionalistischen Lebensweise zu einer Veränderung der Gesellschaft führen sollte.
Der Autor beschreibt nicht nur die Einflüsse aus verschiedenen Kunstrichtungen auf das Gesamtkunstwerk von Kraftwerk, er geht auch in die Tiefe der einzelnen Konzeptalben und darüber hinaus. Schütte berücksichtigt nämlich auch das inoffizielle Frühwerk, von dem sich die Band spätestens mit dem Album „Autobahn“ (1974) distanzierte, und die späteren Live- und Remix-Alben, die deutlich machen, welche Entwicklung die Musik von Kraftwerk auch in der heutigen Zeit noch durchmacht.
Für Kraftwerk-Fans als auch einfach nur an der Band und ihrer Musik interessierte Leser bietet „Wir sind die Roboter“ jedenfalls einen gut lesbaren, klug strukturierten, mit vielen interessanten Zitaten, Beobachtungen und Analysen versehenen Zugang zur konzeptionell so ausgefeilten und einflussreichen Kunst von Kraftwerk, wobei er auf der einen Seite den transatlantischen Austausch zwischen Kraftwerk und der Techno-Szene in Detroit hervorhebt, auf der anderen Seite aber auch vorführt, wie beispielsweise Rammstein im Gegensatz zu Kraftwerk oder den aus dem slowenischen Künstlerkollektiv NSK entstandenen Laibach unverantwortlich und geschmacklos mit nationalistischen Parolen rechtspopulistische Anhänger für sich vereinnahmen. Dass Kraftwerk eben nicht eine rein nationale, sondern vor allem europäische, eigentlich sogar kosmopolitische Band sind, gehört zu den wichtigsten Aussagen in diesem wertvollen Buch.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen