Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren avancierte der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser in den 1990er Jahren zu einem der erfolgreichsten Autoren skandinavischer Kriminalliteratur. Nach zehn Jahren und zehn Romanen war es für Nesser offenbar Zeit, mit einer neuen Figur etwas neues Terrain zu erkunden. So erblickte im Jahr 2006 der erste Roman um Inspektor Gunnar Barbarotti das Licht der Bücherwelt. Nach Romanen wie „Mensch ohne Hund“, „Eine ganz andere Geschichte“ und zuletzt „Schach unter dem Vulkan“ erscheint nun mit „Ein Brief aus München“ bereits der achte Band um den mittlerweile längst zum Kommissar beförderten Barbarotti.
Der egozentrische und erfolgreiche schwedische Maler Ludvig Rute lädt im Dezember 2020 seine drei Geschwister mit ihrem Anhang zu einem gemeinsamen Weihnachtsfest in ein abgelegenes Anwesen in der Nähe eines Waldes ein. Mitten in der Corona-Pandemie machen sich der ehemalige Restaurantbesitzer Lars mit seiner Frau Ellen ebenso auf den Weg wie der promovierte Dozent Leif und die Schauspielerin Louise mit ihrer bereits erwachsenen Tochter Linn. Ungewöhnlich an diesem Arrangement, das Ludvigs sehr junge Lebensgefährtin Catherine auf Wunsch ihres sterbenskranken Geliebten initiiert hat, ist der Umstand, dass sich die Geschwister seit 25 Jahren nicht gesehen haben und dass niemand weiß, dass auch die anderen Geschwister eingeladen sind.
Doch das Wiedersehen verläuft anders als geplant, nach dem gemeinsamen Abendessen wird der Gastgeber von Catherine nämlich am nächsten Morgen erschlagen in der Galerie aufgefunden. Da zwei seiner wertvollsten Bilder dort ebenfalls verschwunden sind, glaubt die Familie zunächst, dass ein Bilderdieb für die Tat verantwortlich gewesen sein muss. Doch Kommissar Barbarotti, der von Polizeichef Stigman mit den Ermittlungen beauftragt wird, kommt mit seiner Partnerin und Lebensgefährtin Eva Backman bald zu einem anderen Schluss, zumal weitere Todesfälle in der Familie für Aufsehen sorgen. Der Grund für diese Vorfälle scheint auf „eine alte Geschichte“ zurückzufallen, auf das letzte Familientreffen im Sommer 1995…
„Ich treffe zu viele Menschen mit Leichen im Keller, das gehört zur Arbeitsbeschreibung eines ermittelnden Bullen. Aber weg damit. Es war unbestritten die Mühe wert, sich Gedanken über die Geschwister Rute zu machen, die jeder für sich vielleicht gar nicht so dysfunktional waren, aber als Quartett schien eine dunkle Wolke über ihnen zu hängen.“ (S. 264)
Mit seinem achten Barbarotti-Roman präsentiert uns Håkan Nesser einen klassischen Whodunit-Plot, in dem der Ermittler erst nach 100 Seiten die Bühne betritt. Bis dahin lässt der Autor die Geschwister, die Tochter und die Lebensgefährtin in eigenen Kapiteln als Ich-ErzählerInnen auftreten. Das erlaubt Nesser, dass sich die wenigen Figuren dieses Ensemble-Dramas quasi selbst vorstellen, ihre jeweilige Biografie und ihr Verhältnis zum Gastgeber und den anderen Geschwistern beschreiben.
Die eigentliche Ermittlungsarbeit wird vor dem bedrückenden Hintergrund der Pandemie geschildert, wozu vor allem die Versammlungsbeschränkungen, Zeugenbefragungen via Zoom und Zimmerservice statt Restaurantbesuch zählen.
„Ein Brief aus München“ (die Bedeutung des Titels wird übrigens erst zum Schluss offenbart) fasziniert weniger durch den eher konventionell aufgebauten Krimi-Plot, sondern wie so oft bei Nesser durch den besonderen Schreibstil, der viel Raum für Humor und zwischenmenschliche Nuancen lässt.
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