Stewart O’Nan – „Die Speed Queen“

Samstag, 28. November 2020

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Margie Standiford wartet in der Todeszelle eines Gefängnisses in Oklahoma auf ihre Hinrichtung durch eine Giftinjektion. Ihre letzten Stunden verbringt sie damit, dem Bestseller-Autor Stephen King, der über Margies Anwalt Mr. Jefferies die Rechte an ihrer Geschichte gekauft hat, ein Tape zu besprechen, auf dem sie die 114 Fragen beantwortet, die er ihr zu ihrer Lebensgeschichte gestellt hat. Das tut sie nicht nur, um ihren Sohn Gainey finanziell abzusichern, sondern vor allem ihre eigene Version der Geschichte zu veröffentlichen, die bereits ihre Freundin Natalie erfolgreich zu einem Buch vermarktet hatte, das aber eben – ihrer Meinung nach - nicht die Wahrheit erzählte. 
Der Fragenkatalog von Stephen King bietet ihr nun die Möglichkeit, ihre Version der Geschichte publik zu machen, wobei sie nach einer Einleitung mit ihrer Kindheit beginnt, mit dem Umzug aus der Nähe von Depew nach Kickingbird Circle in Edmond, wo ihr Vater Trainerassistent in einem Reitpark und ihre Mutter beim örtlichen Postamt beschäftigt waren. Margie verlebte eine ganz normale Kindheit, hatte Freundinnen und Spaß in der Schule, vor allem an Erdkunde, sang im Chor, spielte Softball, ging aber nicht in die Kirche – da sonntags die großen Pferderennen stattfanden. Am 26. Oktober 1984 lernte sie ihren späteren Mann Lamont kennen, als sie in einer Tankstelle arbeitete und sich die Zeit damit vertrieb, jede Nacht ein Fläschchen Wodka zu leeren. 
Lamont kam mit einem 442-Kabrio vorgefahren, verließ die Tankstelle, ohne zu bezahlen, kehrte dann aber zurück, um so Margie kennenzulernen. Mit ihm nahm auch Margies Drogenkonsum zu. Während sie zu High-School-Zeiten nur Bier und Wodka getrunken, an den Wochenenden Gras geraucht und bei Gelegenheit Downers eingeworfen hatte, kamen nun Acid und Speed dazu, dem sie schließlich ihren Spitznamen verdankte. Als sie wegen Drogenmissbrauchs sechs Monate in Clara Waters absitzen musste, lernte sie Natalie kennen, mit der sie eine Affäre begann, doch als Margie zu mutmaßen begann, dass Natalie auch mit Lamont schlief, kommt es zur Katastrophe. 
Bei einem gemeinsamen Roadtrip auf der Route 66 überfielen sie ein Schnellrestaurant, nachdem sie bereits ein älteres Ehepaar umgebracht hatten, schließlich erschossen sie sogar einen Polizisten, wofür sich Margie schließlich vor Gericht verantworten musste. 
„In der Zeitung bezeichnen sie die Morde immer als sinnlos. Die Leute waren vielleicht übel zugerichtet, aber zumindest gab’s einen Grund dafür. Dann ist das noch, dass sie uns als Serienmörder bezeichnen. Das ist einfach falsch – ein Serienmörder bringt immer nur einen um, aber das öfter. Das andere, was mich stört, ist die Bezeichnung ,mordlüstern‘. Ich glaub, das stimmt genausowenig. Lüstern hört sich an, als hätte uns die Sache gut gefallen, als wären wir ganz unbekümmert gewesen oder so, als hätt’s uns Spaß gemacht, während es in Wirklichkeit genau umgekehrt war.“ (S. 224) 
In seinem vierten, im Original 1997 veröffentlichten Roman „Die Speed Queen“ hat der aus Pittsburgh stammende Schriftsteller Stewart O’Nan eine eigenwillige Methode gefunden, die Geschichte seiner Protagonistin, der zum Tode verurteilten Marjorie Standiford, zu erzählen, nämlich als transkribierte Kassettenaufnahme, die der Bestseller-Autor Stephen King zu einem Roman formen soll, nachdem er der Todgeweihten einen Fragenkatalog zukommen ließ. Diese Form der Ich-Erzählung ist deshalb so interessant, weil die Leserschaft nur die schöngefärbte Perspektive der Erzählerin zu hören bekommt, die in ihrer Lebensgeschichte vor allem ihren Weggefährten Lamont und Natalie die Schuld an den Verbrechen zuschiebt, so als sei sie kaum beteiligt gewesen und habe sich nur um ihren Sohn gekümmert, während die beiden mutmaßlichen Verräter die Morde verübten. Die Fragen des – zwar an sich realen, in diesem Fall aber fiktiv eingebundenen – Autors Stephen Kings werden nicht aufgeführt, erschließen sich in der Regel aber aus der Art von Margies Antworten. 
„Die Speed Queen“ erweist sich als die tragische Geschichte einer sehr durchschnittlichen Frau, die sich mit Mindestlohn-Jobs über Wasser hält und voll in den Beziehungen zu Lamont und später auch Natalie aufgeht. Wie sie im späteren Verlauf ihnen die Schuld an den tödlichen Verbrechen gibt, wirkt wie ein Racheakt, weniger wie eine wahrheitsgetreue Aufarbeitung. Der Roman thematisiert aber auch den Umgang der Medien mit Gewalt und fehlgeleiteter Berühmtheit. Stephen King fungiert hier als Stellvertreter für ein mächtiges Sprachrohr, der mit seinen Millionenauflagen auch Margies letztlich bemitleidenswerte Geschichte möglichst breit bekannt machen soll. 
Auch wenn die sehr einfache Sprache, mit der O’Nan seine Protagonistin ihre Geschichte erzählen lässt, zunächst gewöhnungsbedürftig ist, entwickelt die Story bei allen Zeitsprüngen einen starken Sog, mit dem eine an sich unauffällige Figur an Persönlichkeit gewinnt.


Lee Child – (Jack Reacher: 13) „Underground“

Mittwoch, 25. November 2020

(Blanvalet, 446 S., HC) 
Jack Reacher, ehemaliger Militärpolizist in der 110th Investigative Unit der US-Army, ist in New York mit dem 6 Train um zwei Uhr morgens stadtauswärts unterwegs, als er gewohnheitsmäßig die übrigen Passagiere in Wagen 7622 abscannt und bei einer weißen Frau in den Vierzigern die 12-Punkte Liste zum Erkennen von Selbstmordattentätern durchgeht, die einst die israelische Spionageabwehr entwickelt hat. Reacher macht einige der relevanten Punkte bei der in Schwarz gekleideten Frau aus und entschließt sich, sie anzusprechen, sie zu bitten, die Hände aus den Taschen zu nehmen, worauf sie allerdings eine Waffe zieht und sich in den Kopf schießt. Bei den anschließenden Ermittlungen ist nicht nur das NYPD, sondern vor allem der Geheimdienst im Spiel. Der geht davon aus, dass die Frau, die als Susan Ward identifiziert wird und als Zivilangestellte in der Personalabteilung der United States Army gearbeitet hat. Bei dem Verhör, das sich Reacher durch den nicht näher definierten Geheimdienst unterziehen muss, fallen verschiedene Namen wie Lila Hoth und John Samson. 
Der Kongressabgeordnete aus North Carolina will Senator werden und hat eine glänzende Karriere bei den Special Forces hinter sich. Reacher gibt sich in jeder Hinsicht unwissend, vor allem gegenüber der ausgesprochenen Vermutung, dass Susan Mark ihm etwas übergeben haben muss, einen USB-Stick zum Beispiel. Reacher macht sich schließlich selbst auf die Suche nach dem Motiv, das Susan Mark in den Selbstmord getrieben hat, und macht nicht nur Bekanntschaft mit dem angehenden Senator, sondern auch mit der auffallend schönen Lila Hoth und ihrer angeblichen Mutter Swetlana, die Reacher Pässe aus der Ukraine vorlegen und ihm eine Geschichte auftischen, die mit dem Einsatz der Sowjets in Afghanistan und der Beteiligung von Samson zu tun hat. 
Mit Unterstützung der engagierten NYPD-Beamten Theresa Lee deckt Reacher nach und nach die wahren Hintergründe eines Einsatzes auf, das in Form eines Fotos auf dem gesuchten USB-Stick eine explosive Wirkung nach sich ziehen würde … 
„Ich erinnerte mich an alles, was sie gesagt hatten, wie ein Schreiner mit der Handfläche über gehobeltes Holz fährt, um raue Stellen auszumachen. Es gab ein paar. Es gab seltsame Halbkommentare, eigenartige Nuancen, nicht weiter erklärte Andeutungen. Ich konnte nichts mit ihnen anfangen. Noch nicht. Aber allein die Tatsache, dass ich von ihrer Existenz wusste, war bereits nützlich.“ (S. 233) 
Mit dem ehemaligen hochdekorierten Militärpolizisten Jack Reacher hat Lee Child einen charismatischen Ermittler erschaffen, der nach dreizehn Jahren im Dienst der Army ohne festen Wohnsitz und nur mit den Sachen, die er am Leib trägt wahllos durch die Staaten zieht und dabei regelmäßig in Situationen gerät, bei denen seine ausgeprägte Beobachtungsgabe und analytischen Fähigkeiten seine Intervention für die gute Sache erfordern. 
In dem 2009 veröffentlichten 13. Reacher-Roman „Gone Tomorrow“, der drei Jahre später auch hierzulande mit dem passenden Titel „Underground“ erschien, wird die allgegenwärtige Gefahr durch den Terrorismus zum grundlegenden Thema, um das sich herum Politiker, Polizisten, Geheimdienste und - natürlich – Jack Reacher auf die Suche nach einem geheimnisvollen USB-Stick machen, der sowohl dem ambitionierten Kongressabgeordneten als auch fundamentalistischen Kräften Schaden zufügen konnte. So packend die Story um die Selbstmordattentäterin beginnt, verliert der Plot allerdings mit den sich in die Länge ziehenden Verhören und Streitigkeiten zwischen NYPD und Geheimdiensten, Reachers mühselig gewonnenen Erkenntnissen an Reiz zu verlieren. 
Lee Child hat sich stets als Meister der detaillierten Beschreibung und Analyse erwiesen, mit denen sein imponierend aussehender Held seine Umgebung erfasst, allerdings schießt er dabei in „Underground“ etwas übers Ziel hinaus. Erst zum Finale hin, wenn Reacher sich als Einzelkämpfer gegen eine ganze Truppe bewaffneter Terroristen durchpflügt und dem wahren Kern der ganzen Lügengeschichten näherkommt, findet Child zu gewohnter Stärke zurück. Nichtsdestotrotz bleiben sowohl die Story selbst als auch die nur rudimentär charakterisierten Personen im Vergleich zu anderen Reacher-Romanen sehr blass. 

Stewart O’Nan – „Die Armee der Superhelden“

Mittwoch, 18. November 2020

(Rowohlt, 208 S., Tb.) 
Der aus Pittsburgh stammende Schriftsteller Stewart O’Nan hat sich in seinem mittlerweile durchaus umfangreichen Oeuvre als Meister des schonungslosen Blicks auf das Gewöhnliche, auf den Alltag und die – oft gescheiterten - Beziehungen ganz normaler Menschen etabliert. Im Jahr 2000 erschien bei Rowohlt seine bereits 1993 im Original veröffentliche Story-Sammlung „Die Armee der Superhelden“, und selbst wer bislang nur wenige Bücher des amerikanischen Ausnahme-Autors gelesen haben sollte, wird sofort merken, dass im Zentrum der zwölf hier vereinten Geschichten alles andere als Superhelden stehen. 
So versucht der auf einer Mülldeponie arbeitende Carter in der Eröffnungsgeschichte „Der Finger“ noch immer einen Draht zu seiner Frau Diane zu finden, von der er seit einem Jahr getrennt lebt. Er fühlt sich nach wie vor verantwortlich, obwohl sie sich – wie er weiß – mit anderen Männern trifft, bringt ihr Umschläge mit Geld, wenn sie dringend welches benötigt, besucht sie und ihr gemeinsames Kind am Sonntag und führt Reparaturen in ihrem Haushalt durch. Doch als er eine Kommode von der Mülldeponie hübsch für Diane aufbereitet, findet er sie wenig später erneut im Müll wieder. In „Der 3. Juli“ versucht die verwitwete Mrs. May den heruntergekommenen Golf-Club in Schuss und die wenigen Gäste bei Laune zu halten, doch kann sie sich nicht auf ihren Angestellten Lawson verlassen, der bestimmte Arbeiten anfängt, sich dann aber anderen Beschäftigungen zuwendet wie das Beschützen seiner Tauben vor dem Falken. 
In „Die Versteigerung“ werden Farmen von bankrotten Leuten versteigert, in „Winter Haven“ versucht ein Polizeibeamter ein Haus zu verkaufen, nachdem er sich von seiner Frau Eileen getrennt hat, und nun ein Auge darauf wirft, dass ein Hausbesetzer, der am Strand ein Haus nach dem anderen in Beschlag nimmt, nicht auch sein Haus besetzt. In der Titelgeschichte versucht ein Mann, seine Einsamkeit dadurch zu lindern, dass er sich wie sein Sohn mit dem Sammeln von Comics beschäftigt, doch als sein Sohn kein Interesse mehr an den Comics hat und sie verkaufen will, wird seinem Vater die Einsamkeit umso schmerzlicher bewusst. 
In der abschließenden Geschichte „Econoline“ denkt Willie T. darüber nach, in Rente zu gehen, sich einen Bus zu kaufen und damit Leute aus einem Seniorenheim durch die Gegend zu fahren. Doch der Job drückt dem alten Mann zunehmend aufs Gemüt. 
„Aber selbst während seine Fahrgäste lachten und Witze rissen, vergaß Willie T. nie, dass sie bald sterben würden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, war leichter, als daran zu glauben. Christine war stolz auf ihn, Mr. Binstock war stolz auf ihn, Mr. Fergus war stolz auf ihn. Ungeachtet des Geldes wäre es dumm gewesen, gegen ihren vereinten Respekt anzukämpfen. Also fuhr er, angstvoll, skeptisch.“ (S. 203) 
Mit „Die Armee der Superhelden“ taucht Stewart O’Nan einmal mehr tief in die Seele einfacher amerikanischer Menschen ein, die am Ende ihres Berufslebens stehen und mit Sorge auf die Zeit danach blicken; die am Ende einer Ehe/Beziehung sind, sich aber mit den veränderten Lebensbedingungen nicht abgefunden haben; die sich mit Menschen umgeben, die einander nicht verstehen – da helfen auch keine Sprachkurse weiter wie in „Mr. Wu denkt“. In nahezu jeder Geschichte offenbart der Autor mit seiner schnörkellosen Sprache und seinem lakonischen Ton die emotionale Leere, die Einsamkeit seiner Figuren, die viel reden, aber letztlich wenig mitzuteilen haben und von ihren Gesprächspartnern wenig Verständnis erwarten können. 
Zum Glück sind es nur gut 200 Seiten, in denen O’Nans Leserschaft die niederschlagende, pessimistische Sicht auf den Alltag ganz gewöhnlicher Leute ertragen müssen. Auf der anderen Seite tragen die Geschichten hoffentlich dazu bei, sich selbst besser zu fühlen, weil man nicht ein so trostloses Leben führt. Im Gegensatz zu seinen meist sehr gelungenen Romanen, bei denen O’Nan tief in die Psyche der Protagonisten blicken lässt, präsentieren hier die kurzen Erzählungen nur einen kurzen Blick auf einzelne Situationen, als würde man als Kinobesucher zu spät in einen Film kommen und vor dem Finale wieder gehen, denn oft fehlt auch eine Pointe.


Henning Mankell – (Kurt Wallander: 6) „Die fünfte Frau“

Montag, 16. November 2020

(Zsolnay, 544 S., HC) 
Der achtundsiebzigjährige ehemalige erfolgreiche Autoverkäufer Holger Eriksson lebt allein auf seinem abgelegenen Hof und verbringt seine Zeit mit dem Schreiben von Gedichten über Vögel. Als er in einer Septembernacht des Jahres 1994 sein Haus verlässt, um draußen die Vogelzüge in den Süden zu verfolgen, bricht die an sich stabile Planke, die er über einen Graben gelegt hatte, und er wird von Bambusstangen im Graben aufgespießt. Ein Mann, der Eriksson zu einem verabredeten Termin Öl liefern sollte, berichtet das Polizeipräsidium in Ystad von seinem Verdacht, dass da etwas nicht stimme. Währenddessen denkt Kommissar Kurt Wallander an die Romreise mit seinem demenzkranken Vater zurück, die sie einander wieder nähergebracht hatte. Doch kurz nach seiner Rückkehr verstirbt sein Vater an einem Schlaganfall in seinem Atelier. 
Mit seiner aufgeweckten Kollegin Ann-Britt Höglund kümmert sich Wallander um einen Einbruch in einem Blumenladen, wo offensichtlich nichts gestohlen wurde, aber Blutflecken auf dem Boden entdeckt werden. Der Eigentümer, Gösta Runfeldt, wollte eine Reise nach Nairobi antreten, um Orchideen zu fotografieren, doch hat er nicht mal die Fähre in Kastrup erreicht. Drei Wochen später wird der Mann mit Seilen an einen Baum gebunden und erwürgt aufgefunden. Und schließlich wird ein Forscher gegen Milcheiweißallergien in einem Sack ertrunken im See gefunden. Zunächst scheint es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen diesen äußerst brutal ausgeführten Morden zu geben, doch mit der Zeit finden Wallander und seine Leute heraus, dass die Männer Frauen misshandelten, teilweise wahrscheinlich sogar umbrachten. Obwohl die Brutalität der Verbrechen eher auf einen Mann als Täter hindeutet, gelangen Wallander & Co. zunehmend zur Überzeugung, dass eine Frau sich für die an ihrem Geschlecht verübten Verbrechen rächt. Eine erste Spur führt dabei auf die Entbindungsstation eines Krankenhauses, wo eine Frau in Schwesterntracht bemerkt wird, die offensichtlich nicht zum Kollegium gehört. 
„Ihm war auf einmal klar, dass das Motiv nichts anderes sein konnte als Rache. Doch dies hier überstieg alle fassbaren Proportionen. Was rächte der Täter? Was war der Hintergrund? Etwas so Ungeheuerliches, dass es nicht ausreichte, einfach zu töten, sondern dass denen, die starben, auch bewusst werden sollte, was mit ihnen geschah. 
Dahinter verbergen sich keine Zufälle, dachte Wallander. Alles ist genau ausgedacht – und ausgewählt.“ (S. 335) 
Mit seinem sechsten Wallander-Roman knüpfte der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell thematisch an den vorangegangenen Krimi „Die falsche Fährte“ an, denn auch hier ist Rache für Verbrechen an Menschen, die dem Täter auf irgendeine persönliche Art nahestehen, das Motiv, aus dem sich die wiederum sehr brutalen Taten erklären. Dabei stehen die einzelnen Mordarten in direktem Zusammenhang mit den Verbrechen, die die Männer an Frauen begangen haben, und folgen somit einer alttestamentarischen Vergeltungsphilosophie. Die unvorstellbare Brutalität der Verbrechen macht die Ermittler nahezu fassungslos. 
Mankell verweist dabei aber auch immer wieder auf die Verrohung der schwedischen Gesellschaft, die Kürzungen im Polizeiapparat, so dass sich immer mehr Bürgerwehren formieren, um das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Darunter muss sogar Wallanders Kollege Martinsson leiden, dessen Tochter in der Schule misshandelt worden ist, nur weil ihr Vater Polizist ist. Wallanders private Baustellen kommen bei dem umfassend beschriebenen Gewalt-Thema leider etwas kurz, vor allem die Fernbeziehung mit Baiba, die noch unschlüssig scheint, ob sie zu ihrem Geliebten nach Schweden ziehen soll. Aber auch der plötzliche Tod seines Vaters und die Beziehung zu seiner Tochter Linda werden nur am Rande angerissen. Auf jeden Fall ist Mankell mit „Die fünfte Frau“ ein komplexer Krimi gelungen, bei dem er sein Publikum sehr detailliert an den Ermittlungen und Überlegungen teilhaben lässt. Dazu regt die drastisch inszenierte Gewalt, die sich über die zunächst im Zentrum stehenden Morde bis zu den Bürgerwehren erstreckt, nach wie vor zum Nachdenken über die Ausbreitung von Gewalt in der modernen, zivilisierten Welt an.


Dan Simmons – „Der Berg“

Mittwoch, 11. November 2020

(Heyne, 768 S., HC) 
Eigentlich hatte der amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Hyperion“, „Terror“) vor, einen in der Antarktis spielenden Roman zu schreiben, als er im Sommer 1991 in einer Seniorenresidenz in Delta, Colorado, Jacob „Jake“ Perry kennen, der 1934 an einer US-Expedition zum Südpol teilnahm, um Admiral Byrd zu retten, der fünf Monate allein in einer meteorologischen Station im Eis verharren musste. Simmons war zwar an einer persönlichen Schilderung der Ereignisse interessiert, hatte aber auch einen Thriller mit einem bedrohlichen Wesen im Sinn. Wie Simmons im Gespräch mit Perry erfährt, war der Expeditionsteilnehmer kein Wissenschaftler, sondern hatte in Harvard Anglistik studiert und war entschlossen, in Paris den jungen Ernest Hemingway nach seiner Meinung zu drei Erzählungen einzuholen, die er ihm vorlegte und mit dem Hinweis zurückbekam, dass er bei seinem Beruf bleiben solle. Erst später fand Simmons heraus, dass Perry an mehreren berühmten Bergexpeditionen teilgenommen hatte. Als Perry im Mai 1992 seinem Krebsleiden erlag, hat er Simmons ein Paket mit zwölf Notizbüchern mit einer Geschichte überlassen, die Simmons quasi nur als Herausgeber begleitet.
Bei einer 1924 initiierten Klettertour in den Alpen, die der junge Felskletterer Jake Perry mit dem siebenunddreißigjährigen Engländer Richard Davis „Diakon“ Deacon und dem fünfundzwanzigjährigen Franzosen Jean-Claude „J. C.“ Clairoux unternimmt, erfahren die Bergsteiger, dass George Leigh Mallory und A. C. Irvine beim Versuch, den Mount Everest zu besteigen, tödlich verunglückt sind. Mit ihnen sind zwei weitere Kletterer von einer Lawine mitgerissen und getötet worden, der zweiunddreißigjährige Lord Percival Bromley und der deutscher oder österreichischer Bergsteiger namens Kurt Meyer. Der Diakon, J. C. und der junge Jake Perry bekommen von Lady Bromley eine Expedition zum Mount Everest finanziert – mit dem Auftrag, den Leichnam des jungen Lord Bromley sicherzustellen. Zusammen mit Bromleys Cousine, der taffen Plantagenbesitzerin Reggie, Dr. Pasang und etlichen Sherpas nehmen sie 1925 mit verbesserter Ausrüstung den gefährlichen Aufstieg auf sich, der ihnen neben dem eigentlichen Auftrag auch einen langgehegten Traum erfüllen soll, nämlich den Mount Everest zu bezwingen. 
„Ich recke den schmerzenden Hals nach links, um zum Gipfel des Everest hinaufzublicken, der nur siebenhundert Meter über uns rötlich erglüht, wie von der Sonne gesegnet. Die schimmernden Schneefelder unter dem letzten steilen Abschnitt haben etwas Überirdisches an sich, als wären sie nicht von dieser Welt. Diese Höhe ist nicht von dieser Welt, mahnt eine dumpfe Stimme in mir. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht. Doch während sich in mir leise Panik regt, bildet sich ein völlig gegensätzlicher Gedanke: Hier will ich sein. Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet.“ (S. 490f.)
Dan Simmons nutzt den geschickten Kniff, sich auf zwölf ihm überlassene Notizbücher des mehrfachen Expeditionsteilnehmers Jake Perry zu berufen, um eine größtmögliche Authentizität bei der Schilderung der ebenso körperlich wie psychisch herausfordernden Expedition zum Mount Everest zu erreichen. Tatsächlich nimmt er sich sehr viel Zeit, um die ausgiebigen Planungen, die Reisen, die optimierten Sauerstoffflaschen, Zelte, Seile und Kletterwerkzeuge zu beschreiben, was dem Leser aber auch die Möglichkeit eröffnet, die einzelnen Figuren näher kennenzulernen. Spannend ist dabei nicht nur das beschwerliche Besteigen des Berges, das Wechseln zwischen den einzelnen Lagern und die Rückschläge beschrieben, sondern der politische Hintergrund der Aktion. Denn offensichtlich ist Percy Bromley der Expedition von Mallory und Irvine nachgereist und hatte als britischer Spion einen außergewöhnlichen Auftrag, mit dem er Beweise sicherstellen sollte, die die in Deutschland aufstrebenden Nationalsozialisten in Verruf bringen würden. Deshalb wundern sich der Diakon und seine Truppe auch nicht, als nationalsozialistische Bergsteiger um einen Mann namens Sigl sich an ihre Fersen heften … Simmons erweist sich einmal mehr als Meister der stimmungsvollen Vermittlung historischer Ereignisse, wobei er sich hier einige Freiheiten erlaubt haben dürfte. Besonders krude wirken hier die ins Zentrum gerückten Fotos, die Perry sicherstellen konnte und schließlich entscheidend dafür gewesen sein sollen, dass Nazi-Deutschland England nicht angriff. Davon abgesehen bietet „Der Berg“ etwas zu langatmige und ausschweifende Beschreibungen eines bemerkenswerten Abenteuers, bei dem die majestätische Schönheit der Natur ebenso wunderbar vermittelt wird wie die unvorstellbaren körperlichen Strapazen und Gefahren, unter denen die Expeditionsteilnehmer ihre Mission durchführten. 

Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 1) „Der Todesspieler“

Montag, 9. November 2020

(Blanvalet, 510 S., HC) 
Colter Shaw hat gerade einen unbekannten Mann in die Flucht geschlagen, der es offensichtlich auf sein Wohnmobil im Oak View Wohnmobilpark in der Bay Area abgesehen hatte, als er von seinen Nachbarn, die sein Haus in Florida hüteten, einen neuen Auftrag übermittelt bekommt. Colter ist nämlich Prämienjäger, der vor allem vermisste Personen aufspürt und dafür die ausgesetzten Belohnungen kassiert. Obwohl er gerade in privater Mission unterwegs ist, interessiert ihn der Fall eines vermissten Mädchens im Silicon Valley. Die neunzehnjährige Studentin Sophie „Fee“ Mulliner lebte mit ihrem Vater und dem Pudel Luka zusammen, den sie nie zurücklassen würde, wie Colter von ihrem Vater erfährt, der eine Belohnung von 10.000 Dollar für Hinweise auf den Verbleib seiner Tochter ausgesetzt hat. 
Die örtliche Polizei war bislang weitgehend untätig gewesen, da kein Hinweis auf ein Verbrechen vorliegt und keine Lösegeldforderung eingetroffen ist. Colter knöpft sich zunächst Sophies Ex-Freund Kyle Butler vor, der aber aufrichtig erschüttert über Sophies Verschwinden wirkt. Im Quick Byte Café in Mountain View stößt Colter auf einen ersten Hinweis. Bei der Sichtung der Videoüberwachung entdeckt er einen Mann, der womöglich einen Peilsender bei Sophie angebracht haben könnte. Als er Sophies möglichen Weg mit ihrem Fahrrad zu rekonstruieren versucht, findet er tatsächlich an einer Böschung ihr Handy und Spuren, die auf einen Unfall mit ihrem Fahrrad hindeuten. Doch nach wie vor steckt die Polizei nicht viel Energie in die Sache. Im Quick Byte Café lernt Colter schließlich die attraktive Gamerin Maddie Poole kennen, die ihn in die Welt der Computerspiele einführt und ihm die nächste heiße Spur liefert: Nachdem Sophie von Colter nämlich in einem Fabrikgebäude gerettet werden konnte, scheinen sich die Hinweise zu verdichten, dass der Täter ein psychopathischer Spieler sein könnte, der nach dem Muster eines Spiels namens „Der flüsternde Mann“ vorgeht. 
Tatsächlich verschwindet kurz darauf mit dem homosexuellen Blogger Henry Thompson eine weitere Person. Zusammen mit Maddie versucht Colter, in der hart umkämpften Welt des Computerspiele-Markt die entscheidende Spur zu finden, denn mit den steigenden Levels wird es für die Opfer schwieriger, sich aus ihren prekären Situationen auch zu befreien … 
„Der Spieler folgte lediglich der vorgegebenen Handlung. Er war an den Schauplatz von Sophie Mulliners Gefangenschaft zurückgekehrt, um das Mädchen zu jagen. Hier hatte er das Gleiche getan. Er war eine Weile auf Abstand geblieben, damit Henry Thompson sein Signalfeuer entzünden könnte – genau wie Sophie eine Chance zum Ausbruch aus dem Raum erhalten hatte. Dann war er zurückgekommen, um das Spiel zu beenden.“ (S. 304) 
Seine Thriller-Reihe um den querschnittsgelähmten Ermittler Lincoln Rhyme hat Jeffery Deaver weltberühmt gemacht. Nun startet er mit „Der Todesspieler“ eine neue Serie um einen charismatischen Protagonisten, der einen höchst interessanten Hintergrund aufweist und seit zehn Jahren gegen Belohnung vermisste Personen aufspürt, womit er sich ganz bewusst von Kopfgeldjägern abgrenzt. Deaver startet seinen Roman gleich mit einer satten Portion Action und Spannung, führt den ebenso im Computerspiel unbewanderten Colter zusammen mit seiner Leserschaft immer tiefer in die Welt der virtuellen Abenteuer. Deaver erweist sich als Meister darin, die Spannungsschreibe konstant, aber langsam anzuziehen. Immer wieder erweist sich Colter dabei als cleverer als die Polizei. Erst mit dem lesbischen Detective Standish, die den zuvor tatenlosen Wiley abgelöst hat, erhält er kompetente Unterstützung, die ihm zuvor nur die Profi-Gamerin Maddie gewähren konnte. Bis sie den wahren Täter endlich identifizieren, nimmt der Plot allerdings etliche Wendungen, die nicht immer überzeugend wirken und die Geschichte unnötig in die Länge ziehen, aber dieses Spiel beherrscht Deaver virtuos. Das Computerspiel-Thema wird hier nicht nur vom wirtschaftlichen Aspekt her betrachtet, sondern bekommt hier im Zusammenhang mit dem Geschäft um gesammelte persönliche Informationen und auch Fake-News und Meinungsbildung eine beunruhigende Bedeutung. Seinen Protagonisten stellt er quasi nebenbei vor, immer wieder sorgen Colters Erinnerungen an seine Kindheit dafür, seinen familiären Hintergrund zu erhellen. So erfahren wir, dass Colter im Alter von vier Jahren mit seiner Familie aufs Land gezogen ist, auf ein riesiges Anwesen in den Ausläufern der Sierra Nevada, wo seine Eltern Ashton und Mary Dove ihn und seine Brüder Russell und Dorion in die Regeln des Spurenlesens, Jagens und Überlebens in der Wildnis einführten. Zusammen mit seinem erfolgreich absolvierten Jura-Studium hat Colter also die besten Voraussetzungen, um der Polizei beim Aufspüren der vermissten Personen zu helfen. Aber auch die private Mission, zu der Colter am Anfang aufgebrochen ist, hat es in sich und wird ihn und die gespannten Leser auch in den hoffentlich bald folgenden Fortsetzungen gut unterhalten. 

Raffaella Romagnolo – „Dieses ganze Leben“

Samstag, 7. November 2020

(Diogenes, 268 S., HC) 
Der 16-jährigen Paola Di Giorgio ergeht es wie vielen Mädchen ihres Alters, sie findet sich zu hässlich und zu dick. Bei einer Körpergröße von 1,74 Meter bringt sie 75 Kilo auf die intelligente Waage, die ihr sofort den BMI anzeigt und ihr Ernährungstipps mit auf den Weg gibt. Außerdem hadert sie mit ihren krummen Beinen, das Gefühl, nur einen einzigen fetten Oberschenkel zu haben, und mit ihrem stets verpickelten Gesicht. Da hilft ihr das gute Aussehen ihrer Mutter und das Leben in einer der reichen Familie der Stadt wenig. In der Schule wird sie deshalb gemieden und gemobbt, besonders ein auf Facebook veröffentlichtes Video hat ihr arg zugesetzt. Ihre Freizeit verbringt sie deshalb mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Riccardo, den sie mal Richi, dann auch Opf nennt. Er leidet an einer frühkindlichen Entwicklungsstörung, kann sich nicht deutlich artikulieren und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Sie beide zieht es vor allem in die wenig ansehnliche Margeriten-Siedlung, eines der Projekte, die Paolas Eltern umgesetzt haben. 
Doch Paolas Mutter, die die Firma sogar einst leitete und angeblich wegen Richi kürzer getreten ist und nur noch als Sekretärin für ihren Mann arbeitet, hasst diese Siedlung wie die Pest. Der Grund, warum es Paola trotzdem dahinzieht, heißt Antonio, ist zwei Jahre älter als sie und behandelt Paola ganz normal. Da Richi mit seinem Bruder Schach spielt (eine Fähigkeit, die ihr bislang verborgen geblieben war), lernen sich Antonio und Paola derweil näher kennen, doch als sie befürchtet, ihr Schwarm könnte auch was mit dem auf Facebook veröffentlichten Video zu tun haben, geht sie wieder auf Distanz. Sorgen bereitet ihr aber vor allem der Verdacht, dass das Bauunternehmen ihrer Eltern in einen Müllskandal verwickelt sein könnte … 
„Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich, und unsere Art ist das Schweigen. Über die auf Giftmüll gebauten Wohnanlagen, über Richis Krankheit, darüber, warum Mama nicht mehr die Chefin ist, obwohl sie es doch ist, die den Namen Costa trägt. Über die Margeriten-Siedlung. Darüber, wo sie heute Morgen hingeht. Das Schweigen klebt an dir, ist wie Leim, eine Angewohnheit wie das Rauchen, du möchtest aufhören, kannst es aber nicht.“ (S. 193) 
Nach ihrem episch angelegten Portrait zweier Frauen und ihrer Familien, das die italienische Gymnasiallehrerin und Schriftstellerin Raffaella Romangnolo in „Bella Ciao“ präsentierte, nimmt sie in ihrem neuen Roman einen ganz neuen Blickwinkel ein und taucht tief in die Welt eines pubertierenden Mädchens ein, das in materieller Hinsicht alles hat, was man sich nur wünschen kann, aber sich sonst sehr einsam fühlt. Dass Paola mit ihren gehandicapten Bruder abhängt, ist aber nicht einfach der Not an anderen Freundschaften geschuldet, sondern stellt für das Mädchen eine ganz normale wie elementare Beziehung dar. Tatsächlich stellt diese natürlich wirkende Bindung zwischen den beiden Außenseitern auch den stärksten Aspekt des Romans „Dieses ganze Leben“ dar. 
Als eine Art Tagebucheintrag erzählt die 16-jährige Protagonistin auf durchaus witzige, selbstironische Weise von ihrer Selbstwahrnehmung, von ihren Schlemmerorgien und ihren regelmäßigen Aufenthalten im Kosmetiksalon. Sie erstellt eine lange Liste von Dingen, die sie hasst und schweift immer mal wieder in die eigene Kindheit und Familiengeschichte ab, wobei sie sich vor allem für die Lebens- und Liebesgeschichte ihrer Oma erwärmt. Es geht in „Dieses ganze Leben“ aber nicht nur einfach um die Geschichte eines mit sich selbst unzufriedenen Mädchens, sondern durch die angedeutete Romanze zwischen Paola und Antonio wird der Blick auch auf den Gegensatz von Arm und Reich gerichtet. Das liest sich manchmal sehr klischeebehaftet, zumal die belesene Ich-Erzählerin die Dinge sonst sehr differenziert und klug betrachtet. Was den Roman reizvoll macht, ist der natürliche Umgang mit den Ausgestoßenen, Außenseitern und Zurückgebliebenen, den Verlierern. Da kommt ein deutliches Maß an Kapitalismuskritik durch, die aber nicht in der Tiefe weiterverfolgt wird. Das geschieht übrigens auch mit anderen Themen, die kurz angerissen werden, aber dann doch im ominösen Dunkeln bleiben. Letztlich ist „Dieses ganze Leben“ dann doch nur eine kurzweilige, humorvolle, aber auch nachdenkliche Selbstreflexion eines jungen Mädchens, das sich das erste Mal verliebt und einfach nur gern wissen möchte, was ihre Familie für ein – dunkles? - Geheimnis mit sich trägt. 

Steven Price – „Der letzte Prinz“

Mittwoch, 4. November 2020

(Diogenes, 366 S., HC) 
Guiseppe Tomasi ist der kinderlose letzte Spross des alten sizilianischen Adelsgeschlechts der Lampedusa. Nichts ist mehr da von dem alten Glanz der Palazzi, des Reichtums und der Würde. Seine Tage verbringt der knapp Sechzigjährige damit, durch die Straßen zu ziehen und unersättlich Bücher auf Italienisch, Französisch und Englisch zu verschlingen, was ihm schon als Kind den Spitznamen Il Monstro einbrachte. Als er seinen Arzt Dr. Coniglio aufsucht, konfrontiert dieser den Kettenraucher mit der Entdeckung eines Lungenemphysems, das zwar nicht heilbar, aber doch aufzuhalten wäre, würde Guiseppe wenigstens mit dem Rauchen aufhören. 
Doch der todkranke Mann beschließt, weder mit dem Rauchen aufzuhören, noch seiner ebenso klugen wie schönen Frau etwas zu sagen, der lettischen Baronesse Alessandra von Wolff-Stomersee, die in Berlin und in Wien bei Freud Psychoanalyse studiert hatte und Mitbegründerin und Präsidentin der Psychoanalytischen Gesellschaft war. Stattdessen reift in ihm ein kühner Plan: Um etwas Bleibendes zu schaffen, will er einen Roman schreiben. Drei Jahre benötigt er für „Der Leopard“, der zunächst von den renommierten italienischen Verlagen Mondadori und Einaudi abgelehnt wurde, später aber zum meistverkauften Buch des 20. Jahrhunderts in Italien, in über 20 Sprachen übersetzt und von Luchino Visconti mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon verfilmt wurde. 
„Dass das Geschlecht der Lampedusa so restlos ausgelöscht werden würde, betrübte ihn. Sein Urgroßvater hatte neun Kinder hervorgebracht. Und er war jetzt der Letzte. Mitten in der Verschwendung und Verwirrung eines untergehenden Zeitalters war er in ein ebenfalls vom Niedergang betroffenes Geschlecht hineingeboren, und bald würde eine neue Art von Aristokratie vorherrschen, ein Adel des Geldes und der Privilegien, der den Wert des Neuen im Blick hatte.“ (S. 340) 
Bereits mit seinem 2019 bei Diogenes veröffentlichten Roman „Die Frau in der Themse“ ist dem kanadischen Schriftsteller Steven Price ein atmosphärisch dichter Roman gelungen, der das viktorianische London in allen seinen Facetten abzubilden verstand. Mit seinem neuen Werk „Der letzte Prinz“ bewegt er sich in die etwas verloren wirkende Region Siziliens, das sich nie so wirklich der italienischen Republik zugehörig fühlte und stets nach Unabhängigkeit strebte. Die Geschichte beginnt im Januar 1955 mit dem erschütternden Arztbesuch, worauf Guiseppe Tomasi seine Gedanken und Erinnerungen – durchaus sprunghaft – schweifen lässt, zu den Reisen nach Lettland, wo er die Liebe von Alessandra „Licy“ von Wolff-Stomersee gewann, zum schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter, die an Mussolini geglaubt, aber seine Frau abgelehnt hatte, zu seinem Wirken in den literarischen Zirkeln und dem Hadern mit seinem eigenen Roman. 
Steven Price hat offenbar sorgfältig recherchiert und einen Ton in seiner Sprache gefunden, der die Leserschaft oft genug in den Bann schlägt, so überzeugend ist die Zeitreise und das sehr persönliche Portrait von Guiseppe Tomasi di Lampedusa gelungen. Es ist aber auch sehr „altmodische“ Geschichte, die Price hier vorlegt, was einer der in den Ablehnungsschreiben erwähnten Gründe gewesen ist, warum „Der Leopard“ schwer an ein Publikum zu vermitteln wäre. 
„Der letzte Prinz“ ist beileibe keine leichte Lektüre, sondern ein sprachlich wunderbar ausgestaltetes, in seiner Sprunghaftigkeit und atmosphärischen Authentizität aber auch etwas sprödes Werk, auf das man sich einlassen können muss. Wer diese Hürde aber erst einmal genommen hat, wird posthum Zeuge nicht nur der Entstehung eines literarischen Klassikers, sondern auch dem schleichenden Niedergang eines alten Adelsgeschlechts.