Der 16-jährigen Paola Di Giorgio ergeht es wie vielen Mädchen ihres Alters, sie findet sich zu hässlich und zu dick. Bei einer Körpergröße von 1,74 Meter bringt sie 75 Kilo auf die intelligente Waage, die ihr sofort den BMI anzeigt und ihr Ernährungstipps mit auf den Weg gibt. Außerdem hadert sie mit ihren krummen Beinen, das Gefühl, nur einen einzigen fetten Oberschenkel zu haben, und mit ihrem stets verpickelten Gesicht. Da hilft ihr das gute Aussehen ihrer Mutter und das Leben in einer der reichen Familie der Stadt wenig. In der Schule wird sie deshalb gemieden und gemobbt, besonders ein auf Facebook veröffentlichtes Video hat ihr arg zugesetzt. Ihre Freizeit verbringt sie deshalb mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Riccardo, den sie mal Richi, dann auch Opf nennt. Er leidet an einer frühkindlichen Entwicklungsstörung, kann sich nicht deutlich artikulieren und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Sie beide zieht es vor allem in die wenig ansehnliche Margeriten-Siedlung, eines der Projekte, die Paolas Eltern umgesetzt haben.
Doch Paolas Mutter, die die Firma sogar einst leitete und angeblich wegen Richi kürzer getreten ist und nur noch als Sekretärin für ihren Mann arbeitet, hasst diese Siedlung wie die Pest. Der Grund, warum es Paola trotzdem dahinzieht, heißt Antonio, ist zwei Jahre älter als sie und behandelt Paola ganz normal. Da Richi mit seinem Bruder Schach spielt (eine Fähigkeit, die ihr bislang verborgen geblieben war), lernen sich Antonio und Paola derweil näher kennen, doch als sie befürchtet, ihr Schwarm könnte auch was mit dem auf Facebook veröffentlichten Video zu tun haben, geht sie wieder auf Distanz. Sorgen bereitet ihr aber vor allem der Verdacht, dass das Bauunternehmen ihrer Eltern in einen Müllskandal verwickelt sein könnte …
„Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich, und unsere Art ist das Schweigen. Über die auf Giftmüll gebauten Wohnanlagen, über Richis Krankheit, darüber, warum Mama nicht mehr die Chefin ist, obwohl sie es doch ist, die den Namen Costa trägt. Über die Margeriten-Siedlung. Darüber, wo sie heute Morgen hingeht. Das Schweigen klebt an dir, ist wie Leim, eine Angewohnheit wie das Rauchen, du möchtest aufhören, kannst es aber nicht.“ (S. 193)
Nach ihrem episch angelegten Portrait zweier Frauen und ihrer Familien, das die italienische Gymnasiallehrerin und Schriftstellerin Raffaella Romangnolo in „Bella Ciao“ präsentierte, nimmt sie in ihrem neuen Roman einen ganz neuen Blickwinkel ein und taucht tief in die Welt eines pubertierenden Mädchens ein, das in materieller Hinsicht alles hat, was man sich nur wünschen kann, aber sich sonst sehr einsam fühlt. Dass Paola mit ihren gehandicapten Bruder abhängt, ist aber nicht einfach der Not an anderen Freundschaften geschuldet, sondern stellt für das Mädchen eine ganz normale wie elementare Beziehung dar. Tatsächlich stellt diese natürlich wirkende Bindung zwischen den beiden Außenseitern auch den stärksten Aspekt des Romans „Dieses ganze Leben“ dar.
Als eine Art Tagebucheintrag erzählt die 16-jährige Protagonistin auf durchaus witzige, selbstironische Weise von ihrer Selbstwahrnehmung, von ihren Schlemmerorgien und ihren regelmäßigen Aufenthalten im Kosmetiksalon. Sie erstellt eine lange Liste von Dingen, die sie hasst und schweift immer mal wieder in die eigene Kindheit und Familiengeschichte ab, wobei sie sich vor allem für die Lebens- und Liebesgeschichte ihrer Oma erwärmt. Es geht in „Dieses ganze Leben“ aber nicht nur einfach um die Geschichte eines mit sich selbst unzufriedenen Mädchens, sondern durch die angedeutete Romanze zwischen Paola und Antonio wird der Blick auch auf den Gegensatz von Arm und Reich gerichtet. Das liest sich manchmal sehr klischeebehaftet, zumal die belesene Ich-Erzählerin die Dinge sonst sehr differenziert und klug betrachtet. Was den Roman reizvoll macht, ist der natürliche Umgang mit den Ausgestoßenen, Außenseitern und Zurückgebliebenen, den Verlierern. Da kommt ein deutliches Maß an Kapitalismuskritik durch, die aber nicht in der Tiefe weiterverfolgt wird. Das geschieht übrigens auch mit anderen Themen, die kurz angerissen werden, aber dann doch im ominösen Dunkeln bleiben. Letztlich ist „Dieses ganze Leben“ dann doch nur eine kurzweilige, humorvolle, aber auch nachdenkliche Selbstreflexion eines jungen Mädchens, das sich das erste Mal verliebt und einfach nur gern wissen möchte, was ihre Familie für ein – dunkles? - Geheimnis mit sich trägt.
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