Eigentlich hatte der amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Hyperion“, „Terror“) vor, einen in der Antarktis spielenden Roman zu schreiben, als er im Sommer 1991 in einer Seniorenresidenz in Delta, Colorado, Jacob „Jake“ Perry kennen, der 1934 an einer US-Expedition zum Südpol teilnahm, um Admiral Byrd zu retten, der fünf Monate allein in einer meteorologischen Station im Eis verharren musste. Simmons war zwar an einer persönlichen Schilderung der Ereignisse interessiert, hatte aber auch einen Thriller mit einem bedrohlichen Wesen im Sinn. Wie Simmons im Gespräch mit Perry erfährt, war der Expeditionsteilnehmer kein Wissenschaftler, sondern hatte in Harvard Anglistik studiert und war entschlossen, in Paris den jungen Ernest Hemingway nach seiner Meinung zu drei Erzählungen einzuholen, die er ihm vorlegte und mit dem Hinweis zurückbekam, dass er bei seinem Beruf bleiben solle. Erst später fand Simmons heraus, dass Perry an mehreren berühmten Bergexpeditionen teilgenommen hatte. Als Perry im Mai 1992 seinem Krebsleiden erlag, hat er Simmons ein Paket mit zwölf Notizbüchern mit einer Geschichte überlassen, die Simmons quasi nur als Herausgeber begleitet.
Bei einer 1924 initiierten Klettertour in den Alpen, die der junge Felskletterer Jake Perry mit dem siebenunddreißigjährigen Engländer Richard Davis „Diakon“ Deacon und dem fünfundzwanzigjährigen Franzosen Jean-Claude „J. C.“ Clairoux unternimmt, erfahren die Bergsteiger, dass George Leigh Mallory und A. C. Irvine beim Versuch, den Mount Everest zu besteigen, tödlich verunglückt sind. Mit ihnen sind zwei weitere Kletterer von einer Lawine mitgerissen und getötet worden, der zweiunddreißigjährige Lord Percival Bromley und der deutscher oder österreichischer Bergsteiger namens Kurt Meyer. Der Diakon, J. C. und der junge Jake Perry bekommen von Lady Bromley eine Expedition zum Mount Everest finanziert – mit dem Auftrag, den Leichnam des jungen Lord Bromley sicherzustellen. Zusammen mit Bromleys Cousine, der taffen Plantagenbesitzerin Reggie, Dr. Pasang und etlichen Sherpas nehmen sie 1925 mit verbesserter Ausrüstung den gefährlichen Aufstieg auf sich, der ihnen neben dem eigentlichen Auftrag auch einen langgehegten Traum erfüllen soll, nämlich den Mount Everest zu bezwingen.
„Ich recke den schmerzenden Hals nach links, um zum Gipfel des Everest hinaufzublicken, der nur siebenhundert Meter über uns rötlich erglüht, wie von der Sonne gesegnet. Die schimmernden Schneefelder unter dem letzten steilen Abschnitt haben etwas Überirdisches an sich, als wären sie nicht von dieser Welt. Diese Höhe ist nicht von dieser Welt, mahnt eine dumpfe Stimme in mir. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht. Doch während sich in mir leise Panik regt, bildet sich ein völlig gegensätzlicher Gedanke: Hier will ich sein. Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet.“ (S. 490f.)
Dan Simmons nutzt den geschickten Kniff, sich auf zwölf ihm überlassene Notizbücher des mehrfachen Expeditionsteilnehmers Jake Perry zu berufen, um eine größtmögliche Authentizität bei der Schilderung der ebenso körperlich wie psychisch herausfordernden Expedition zum Mount Everest zu erreichen. Tatsächlich nimmt er sich sehr viel Zeit, um die ausgiebigen Planungen, die Reisen, die optimierten Sauerstoffflaschen, Zelte, Seile und Kletterwerkzeuge zu beschreiben, was dem Leser aber auch die Möglichkeit eröffnet, die einzelnen Figuren näher kennenzulernen. Spannend ist dabei nicht nur das beschwerliche Besteigen des Berges, das Wechseln zwischen den einzelnen Lagern und die Rückschläge beschrieben, sondern der politische Hintergrund der Aktion. Denn offensichtlich ist Percy Bromley der Expedition von Mallory und Irvine nachgereist und hatte als britischer Spion einen außergewöhnlichen Auftrag, mit dem er Beweise sicherstellen sollte, die die in Deutschland aufstrebenden Nationalsozialisten in Verruf bringen würden. Deshalb wundern sich der Diakon und seine Truppe auch nicht, als nationalsozialistische Bergsteiger um einen Mann namens Sigl sich an ihre Fersen heften … Simmons erweist sich einmal mehr als Meister der stimmungsvollen Vermittlung historischer Ereignisse, wobei er sich hier einige Freiheiten erlaubt haben dürfte. Besonders krude wirken hier die ins Zentrum gerückten Fotos, die Perry sicherstellen konnte und schließlich entscheidend dafür gewesen sein sollen, dass Nazi-Deutschland England nicht angriff. Davon abgesehen bietet „Der Berg“ etwas zu langatmige und ausschweifende Beschreibungen eines bemerkenswerten Abenteuers, bei dem die majestätische Schönheit der Natur ebenso wunderbar vermittelt wird wie die unvorstellbaren körperlichen Strapazen und Gefahren, unter denen die Expeditionsteilnehmer ihre Mission durchführten.
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