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Michael Chabon – „Telegraph Avenue“

Sonntag, 1. Mai 2016

(Rowohlt, 670 S., Tb.)
Anno 2004 leben der ehemalige Elektriker und Golfkriegsveteran Archy Stallings und der weiße Jude Nat Jaffe in ihrer eigenen Welt namens Brokeland Records. Dabei handelt es sich um einen Second-Hand-Jazzplattenladen in titelgebender Telegraph Avenue in Oakland, eingebettet zwischen einem Donut-Laden und dem „King of Bling“. So unterschiedlich die beiden Freunde auch sind, so leben sie doch für den Jazz und freuen sich, dass der Musiker Cochise Jones zu ihren besten Kunden zählt. Ungemach naht allerdings in Gestalt des ehemaligen Football-Stars Gibson Goode, der als fünftreichster Schwarzer Amerikas einen Megastore seiner Kette "Dogpile" direkt neben Brokeland eröffnen will, wobei er auch den Stadtrat und Brokeland-Stammkunden Chandler Flowers auf seine Seite ziehen kann.
Noch machen den beiden Freunden die um sich greifende Digitalisierung und der Online-Handel mit Musik keine allzu großen Sorgen, doch da Dogpile auch Platten in seinem Sortiment haben wird, sehen sich Archy und Nat vor in ihrer Existenzgrundlage bedroht.
Davon abgesehen müssen sich ihre Frauen, Gwen und Aviva, die als Hebammen zusammen arbeiten, mit einer Klage auseinandersetzen, nachdem es bei einer ihrer präferierten Hausgeburten zu Komplikationen gekommen ist und der zuständige Arzt im Krankenhaus die Meinung vertreten hat, die Hebammen würden Voodoo praktizieren. Als wären das nicht schon genug Probleme, findet die hochschwangere Gwen heraus, das Archy sie betrügt, und setzt ihn kurzerhand vor die Tür, während Archys Vater Luther versucht, nach zwei erfolgreichen „Stratter“-Filmen Geld für einen weiteren Film der Reihe aufzutreiben, die ihn einst zu einem Blaxploitation-Action-Helden gemacht hatte.
 Und schließlich finden Nats Sohn Julius, der aufgrund seiner weiblichen Ausstrahlung Julie genannt wird, und Archys verlorener Sohn Titus zueinander. Archy bekommt von Gibson „G Bad“ Goode das Angebot, ein Jobangebot bei Dogpile, damit er seine junge Familie auch weiterhin ernähren kann.
„Er wusste, dass Nat und er sich finanziell in einem immer engeren Kreis drehten. Und da kam dieser Typ daher, der sich selbst in Zeiten, da die Plattenketten dicht machten und unzählige Gratis-Downloads in die Hosentasche passten, der es sich selbst jetzt leisten konnte, einen hammermäßigen Plattenladen zu eröffnen, fünfmal so groß wie Brokeland und zehnmal so umfangreich, der es sich nur des Ruhms und der Tugend zuliebe leisten konnte, Archy für alle Zeiten pleitegehen zu lassen, unerschöpflich finanziert durch sein Medienimperium, sein lizenziertes Abbild, sein alchemistisches Händchen mit Ghetto-Immobilien. Wehte an einem Samstagnachmittag bei Brokeland herein, ein König in Zivil, um seinen Stiefel in den Nacken der Eroberten zu setzen.“ (S. 333) 
Vordergründig thematisiert der neue Roman von Pulitzer-Preisträger Michael Chabon exemplarisch an einem altehrwürdigen, Traditionen bewahrenden Second-Hand-Plattenladen den Untergang eines ganzen Industriezweigs, wie ihn kürzlich auch Schauspieler und Regisseur Colin Hanks in seinem Film „All Things Must Pass – The Rise and Fall of Tower Records“ dokumentierte. Aber vielmehr als zum Beispiel Nick Hornbys „High Fidelity“ präsentiert Michael Chabon auch eine Musikgeschichte des Jazz, wie sie vor allem in der bewegenden Trauerrede von Archy Stallings zum Ausdruck kommt.
Darin kommt gleichsam ein anderer Schwerpunkt in dem Roman zum Tragen, nämlich die Vermischung der Kulturen. Was der verstorbene Jazz-Musiker Cochise Jones zu seinen Lebzeiten als „kalifornisches Kreol“ bezeichnete, nämlich die Symbiose aus Afrika und Europa, Chopin, Kirchenmusik, Irish Folk, Polyrhythmik, das Gefühl vom Bayou, macht auch „Telegraph Avenue“ aus. Es zeichnet nicht nur vielschichtige Charaktere unterschiedlicher Jahrgänge, Hautfarben, Bildungsschichten und Kulturen, sondern ein soziokulturelles Gesamtbild Amerikas jener gar nicht so lang verjährter Tage, in denen jeder mit seinen eigenen gewichtigen Problemen zu kämpfen hat, in denen es um das Bewahren familiärer Werte und kultureller Errungenschaften geht.
Das ist wie beim großen Fabulierer Chabon gewohnt wort- und bildgewaltig beschrieben, anekdotenreich und mit allerlei Zitaten gespickt filmreif präsentiert, wenn auch gelegentlich etwas zu ausufernd manieristisch übertrieben, wie das aus nur einem, 18 Seiten (!) umfassenden Satz bestehende Kapitel „Ein Vogel von großer Erfahrung“.
Auch von einigen anderen Längen im Mittelteil abgesehen bietet „Telegraph Avenue“ ein intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen, in der die Jazz-Musikgeschichte fast akribisch und von rezensierender Intensität den Mittelpunkt einer komplexen Sozialgeschichte bildet.
Leseprobe Michael Chabon - "Telegraph Avenue"

Michael Chabon - „Junge Werwölfe“

Freitag, 12. Juni 2009

(dtv, 256 S.,Tb.)
Hierzulande ist der 1963 geborene amerikanische Schriftsteller Michael Chabon durch die Verfilmung seines Bestsellers „Wonderboys“ und durch das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Meisterwerk „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay“ bekannt geworden. Nun legt er mit „Junge Werwölfe“ eine herrliche Sammlung von Kurzgeschichten vor, die überwiegend in Magazinen wie GQ, Harper’s, Enquire, Playboy und im New Yorker veröffentlicht wurden.
Da versucht der elfjährige Paul seinen bereits halbwegs aus der elterlichen Wohnung ausgezogenen Vater zurückzugewinnen, indem er vorgibt, seine Mitschülerin Virginia in den Hals gebissen zu haben, obwohl der sich stets als Werwolf bezeichnende Timothy Stokes für diesen Übergriff verantwortlich zeichnete. In „Haussuche“ versuchen Daniel und Christy Kite ihre ebenfalls vom Scheitern bedrohte Ehe dadurch zu kitten, dass sie sich eine efeubedeckte Villa im pseudonormannischen Stil zu kaufen beabsichtigen. Allerdings scheint so einiges an dem Haus sehr merkwürdig zu sein. Und in „Greens Buch“ begegnet Marty Green bei einer Feier der jungen Ruby Klein, auf die er, als sie noch ein Mädchen war, aufgepasst und sie im Schlaf unter ihrem Höschen geküsst hatte. Chabon erzählt auf meisterhafte, gefühlvolle und detailfreudige Weise von den Problemen des Erwachsenwerdens, von schmerzhaften Trennungen, ungewöhnlichen Freundschaften und extremen Situationen.

Michael Chabon - „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“

(Kiepenheuer & Witsch, 811 S.,)
Als der jüdische Junge Josef Kavalier 1939 von Prag zu seinen Verwandten nach Brooklyn in New York flüchten kann, beginnt eine seltsame wie wunderbare Freundschaft zwischen ihm und seinem Vetter Sammy Clay. Angetrieben von dem Wunsch, möglichst viel Geld zu verdienen, um auch dem Rest seiner Familie die Überfahrt ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten finanzieren zu können, können sie den Comic-Verleger Sheldon Anapol dafür begeistern, ihren eigenen Comic-Superhelden, den Eskapisten, bei Empire Comics herauszubringen. Das Kunststück gelingt. Während der von Houdini inspirierte Entfesselungskünstler gegen das Böse in der Welt kämpft und schließlich sogar Hitler beseitigt, kommen die beiden Comic-Autoren zu Ruhm und Geld.
Doch bald lernen Joe und Sam auch die Schattenseiten des Lebens kennen. Joe flüchtet aus Angst vor familiärer Verantwortung zum Militär und nach Alaska. Nach seiner Rückkehr scheint nichts mehr so, wie es einmal war... Michael Chabon („Die Wonderboys“) schuf mit seinem neuen, 2001 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman ein farbenfroh inszeniertes, humorvolles, warmherziges und turbulentes Portrait einer außergewöhnlichen Männerfreundschaft und gewährt dabei gleichzeitig einen Blick in die Welt der Comic-Superhelden, der jüdischen Vorstellung vom Golem und der Entfesselungskunst.