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Garrett Carr – „Der Junge aus dem Meer“

Freitag, 28. März 2025

 (Rowohlt, 416 S., HC)
Mit seinem Sachbuch „The Rule of the Land: Walking Ireland’s Border“ durfte sich der im irischen Donegal geborene Garrett Carr rühmen, bei BBC Radio 4 ein „Book of the Week“ vorgelegt zu haben, hierzulande ist der Dozent für Kreatives Schreiben an der Queen’s University und Autor für „The Guardian“ und „The Irish Times“ noch gänzlich unbekannt. Das wird sich allerdings mit seinem nun veröffentlichten Debütroman „Der Junge aus dem Meer“ schnell ändern.
In der Donegal Bay leben die paar Tausend Männer, Frauen und Kinder vor allem von der Fischerei. Sie arbeiteten hart, um ihre Hypotheken abzubezahlen, Erstbesitzer eines Autos zu sein und den Kindern all das mitzugeben, um später selbst eine Familie gründen zu können und ein Auskommen zu haben. Das Leben in der Küstenstadt nimmt eines Freitagmorgens eine eigenartige Wendung, als Mossy Shovlin mit einem Baby im Arm zur Filiale der Ulster Bank bringt, wo er verkündet, dass der Kleine, den er in den Armen hält, ein Geschenk aus dem Meer sei und in einem Fass gelegen habe. Der Fischer Ambrose Bonnar erklärt sich schnell bereit, sich zusammen mit seiner Frau Christine des niedlichen Babys anzunehmen. Sie nennen es Brendan und adoptieren es. 
Doch nicht alle sind von der wundersamen Ankunft des Babys entzückt, am wenigstens Brendans zwei Jahre älterer Bruder Declan, aber auch Christines Schwester Phyllis, die sich um ihren gemeinsamen, zunehmend pflegebedürftigen Vater kümmert, sieht mit Besorgnis, dass sich Christine nur noch um Brendan kümmert und die eigentliche Familie vernachlässigt. Vor allem Ambrose ist aber ganz vernarrt in das Kind, was der Rivalität zwischen den Brüdern in den kommenden Jahren neue Nahrung gibt. In dem Bemühen, es seinem Vater recht zu machen, verlässt Declan schließlich die Schule und lässt sich auf dem Schiff seines Vaters zum Fischer ausbilden. Brendan dagegen ist schon als Kind seine eigenen Wege gegangen, ist durch die Gegend gestromert und hat Hausbesuche gemacht, um die Menschen zu segnen.

„Tatsächlich war es so, dass viele von uns etwas Tiefergehendes spürten, wenn Brendan uns segnete, unter seiner Berührung wurde uns unsere eigene Bedeutungslosigkeit bewusst, wir waren Fässer, die im Meer trieben, doch zugleich hatten wir das Gefühl, dass hier eine wohlwollende Kraft am Werk sein könnte, eine hilfreiche Strömung, und das war tröstlich. Also ließen wir uns von ihm segnen, und eine Woche später dann vielleicht wieder.“

Doch als die Segnungen ihren Reiz einbüßen, sieht sich Brendan gezwungen, sich einen eigenen Platz in der Gemeinschaft zu schaffen, die ihn so wohlwollend aufgenommen hat…
Garrett Carr ist mit „Der Junge aus dem Meer“ ein besonders einfühlsamer Roman über das Leben in einer irischen Küstenstadt gelungen, in der durch die schicksalhafte Aufnahme eines Findelkindes die besten und die schlechtesten Seiten in den Menschen hervorgekehrt werden. Aus der Perspektive eines nicht ganz außenstehenden, aber mit den Ereignissen auch nie direkt verbundenen Erzählers wird beschrieben, wie „der Junge aus dem Meer“ über zwanzig Jahre lang die Geschicke in Donegal beeinflusst, wie Familienbande zerrüttet und wieder geflickt werden, wie viel Geld verdient wird, große Häuser gebaut und Fischfangquoten mit immer größeren Schiffen gebrochen werden, wie Eifersucht, Trauer, Fürsorge, Glaube, Hoffnung, Verzeihen und Liebe die Menschen voneinander weg treibt, um sie dann wieder nur umso enger wieder zusammenzuführen. „Der Junge aus dem Meer“ zieht den Leser bereits mit den ersten Seiten in den Bann, da es der Autor versteht, mit ausdrucksvollen Bildern die nicht nur physische, sondern auch die seelische Topografie von Donegal zu beschreiben, wo das Herz der Menschen am Ende doch am rechten Fleck zu sitzen scheint. Mit feinfühligen Charakterisierungen und deutlicher Sympathie für seine Figuren ist Carr ein großer irischer Roman gelungen, der stets den richtigen Ton trifft.

Heinz Strunk – „Fleisch ist mein Gemüse. Eine Landjugend mit Musik“

Freitag, 31. Januar 2025

(Rowohlt, 256 S., Tb.)
Eigentlich heißt er ja Mathias Halfpape, der Heinz, aber seit seiner 1992 veröffentlichten Tonträger-Produktion „Spaß mit Heinz“ hat sich der in (Bad) Bevensen geborene und bei Harburg aufgewachsene Musiker und Autor das Pseudonym Heinz Strunk zugelegt, das er bis heute nicht mehr ablegen sollte. Mittlerweile hat Strunk etliche Solo-CDs, CDs mit Studio Braun, Fraktus und Künstlern wie Stephan Remmler, Revolverheld und Yasmin K. produziert, als Schauspieler und Drehbuchautor gearbeitet sowie Romane und Erzählungen veröffentlicht. Seinen literarischen Durchbruch feierte Strunk mit seinem 2004 veröffentlichten Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“, mit dem Strunk seine Zeit als Musiker in einer Unterhaltungskapelle verarbeitete.
1985. Der dreiundzwanzigjährige Heinz Strunk leidet seit elf Jahren unter der schlimmsten Form der Akne und lebt noch bei seiner Mutter, als er eines Augustnachmittags einen Anruf seines entfernten Bekannten Jörg bekommt, der in Lüneburg das kleine Musikgeschäft Ohrenschmaus unterhält und ihm einen Job als Saxofonist bei der Tanzband Tiffanys vermittelt. Die sucht für ein Schützenfest in Moorwerder noch einen fünften Mann, am liebsten mit Saxofon, wie Heinz von Bandleader Gundolf „Gurki“ Beckmann erfährt. Immerhin winken sechshundert Mark für zwei Tage. Heinz, der von seinen Musikerkollegen schnell „Heinzer“ genannt wird, bewährt sich und hofft, nach seiner eineinhalbjährigen Bundeswehrzeit endlich eine Karriere als Vollzeitmusiker im Pop-Business einschlagen zu können, auch wenn die Neue Deutsche Welle bereits in ihren letzten Zügen lag. Doch mit seinen Kollegen Norbert, Torsten, Jens und Gurki heißt es erst einmal, Schützenfeste, Feuerwehrbälle und Hochzeiten zu bespielen. Immerhin gibt es kostenloses Essen und Trinken, aber in Sachen Frauen tut sich leider absolut gar nichts. Als sich seine psychisch kranke Mutter aus dem Fenster stürzt und in die Geriatrie verlegt wird, muss Heinzer nicht nur allein in dem Harburger Reihenhaus klarkommen, sondern verfällt zusehends dem Alkohol und dem Automatenglücksspiel.
Nur so lässt sich Heinzers andauernder Frust über knappe Kassen, sinnentleerte Schlagertexte, besoffenes Publikum und mangelnden Gelegenheiten zum Kennenlernen von Frauen überhaupt aushalten. Trotz aller – wenn auch halbherziger - Bemühungen wie ein Musiklehrerjob in der Musikschule schafft es Heinzer auch nach zehn Jahren nicht, seinen Status quo wesentlich zu verbessern…

„Schrott kombiniert mit Schrott ergibt Vollschrott. Egal, ob wir zur Polyesterthermohose das Eiersweatshirt trugen, die bulgarische Karottenbundfaltenhose mit Drogeriesocken akzentuierten oder den elektrostatisch stark aufgeladenen Vollacrylunterziehrolli mit der aufgerubbelten Trainingshose zu komplettieren versuchten: Wir blieben Lumpenproletariat. Zeltartige Großraumjeans und essbare Einwegkleidung schlugen die letzte Luke zur Sonnenseite des Lebens endgültig und für immer zu.“ (S. 207)

Als Heinz Strunk auf Anraten seiner damaligen Freundin im Alter von über 40 Jahren sein erstes Buch veröffentlichte, landete er durch seine Vorstellung in Stefan Raabs Sendung „TV total“ gleich einen Bestseller, dem viele weitere – wie zuletzt die ebenfalls verfilmten Romane „Jürgen“ und „Der goldene Handschuh“ – folgen sollten. „Fleisch ist mein Gemüse“ beschreibt auf kurzweilige Weise genau das Leben junger Erwachsener im Tanzkapellen-Geschäft, wie man es sich gemeinhin auf dem Lande vorstellt. 
Ganz ungeniert berichtet Strunk von seiner tatsächlichen schweren Akne-Erkrankung, seinem zunehmend unmotivierten Engagement bei Tiffany’s (die im Roman zu Tiffanys wurden) und den Fehlschlägen hinsichtlich angestrebter Fraueneroberungen, so dass regelmäßig selbst abgemolken oder entsaftet werden musste. Die ausufernden Spiegeleier-Gelage nach den Auftritten sorgten schließlich für genügend Material zur Sperma-Produktion. Strunk gelingt es, das Lebensgefühl in den 1980er Jahren ebenso anschaulich wie amüsant darzustellen, wobei die Auftritte abgehalfteter Stars wie den One-Hit-Wonder-Acts Taco und Gombay Dance Band genüsslich durch den Kakao gezogen werden, während die effektive Professionalität von Klaus & Klaus oder Witzeerzähler Fips Asmussen neidlose Bewunderung erfährt. Natürlich wird sich über Dorftrottel in Gummistiefeln auf Schützenfesten ebenso hergezogen wie über dümmliche Schlagertexte, aber vor allem gefällt „Fleisch ist mein Gemüse“ durch die authentische Darstellung des Alltags Landkapellen-Musikern.

Heinz Strunk – „Zauberberg 2“

Mittwoch, 4. Dezember 2024

(Rowohlt, 288 S., HC) 
In seinem 1924 veröffentlichten, 1000 Seiten umfassenden Bildungsroman „Der Zauberberg“ fühlte sich Thomas Mann von einem Besuch in einem Sanatorium inspiriert, in dem seine lungenkranke Frau therapiert wurde, und ließ seinen Protagonisten Hans Castorp für sieben Jahre in einem Sanatorium in den Schweizer Bergen verweilen. Heinz Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“, „Jürgen“) hegte seit sieben Jahren schon die Idee, Manns Klassiker in die Neuzeit zu überführen. Sein schmales Bändchen „Zauberberg 2“ könnte man als Fortsetzung missverstehen, stattdessen verströmt der Roman den typischen Strunk-Touch und liest sich bis auf ein Kapitel zum Schluss wie ein moderner Abgesang auf gewinnmaximiert geführte Therapiehäuser. 
Bereits mit Mitte dreißig muss sich Jonas Heidbrink keine Sorgen mehr um seinen Lebensunterhalt machen. Sein Start-up hat er so gut verkauft, dass er nie mehr arbeiten muss, doch mit dieser Erkenntnis geht eine mit Angstzuständen und Langeweile einhergehende Sinnkrise einher, mit der sich der in Neumünster geborene und in Hamburg lebende „Erfinder“ in einem Sanatorium in der mecklenburgischen Einöde kurz vor der polnischen Grenze in dreißig Tagen auseinanderzusetzen gedenkt. Doch die ärztliche Eingangsuntersuchung bringt noch andere Baustellen ans Licht: Der Verdacht auf Hautkrebs, eine Fettleber und einen Nierentumor muss erst einmal ausgeräumt werden. 
Bis dahin und darüber hinaus setzt sich Heidbrink wie seine Leidensgenossen Tag für Tag mit der einlullenden Sanatoriums-Routine auseinander, mit Visiten, aus Klassikern der Hausmannskost bestehenden Mahlzeiten in fest strukturierten Gruppen und natürlich diversen Therapien. Heidbrink findet weder die Musiktherapie noch die Fototherapie oder Bibliotherapie besonders heilsam, weshalb sich in Heidbrink immer mehr der Wunsch nach selbstgewählter Isolation breitmacht. Aus dem geplanten Monat wird erst ein halbes Jahr, dann ein ganzes. Heidbrink sieht Klienten kommen und gehen, bemerkt aber auch den schleichenden Niedergang des Hauses. 
Da wird erst ein Nebengebäude geschlossen, das Essen schmeckt nach in der Mikrowelle aufgewärmtes Convenience Food, das Personal wird sichtlich abgebaut, und Heidbrink geht es noch immer nicht besser… 
„Das Klinikum ist nun so groß wie die ganze Welt. Ein mächtiges Gebäude an einer anonymen Straße in einer fremden Gegend in einem verlassenen Land. An jedem Dritten des Monats erhält Heidbrink seine Privatliquidation, die er unverzüglich begleicht. Morgens kämpft er sich, unter einer Ladung Schotter in einem tiefen Schacht begraben, aus Schichten von Müdigkeit, Langeweile und Dumpfheit hoch an die Oberfläche. Er fürchtet die schlaflosen Nächte, die endlosen Nachmittage, all die leeren Stunden.“
Heinz Strunk versteht „Zauberberg 2“ als Hommage an Thomas Manns berühmten Klassiker „Der Zauberberg“ und hat die Begebenheiten entsprechend angepasst. Das Sanatorium hat Strunk von den Schweizer Alpen ins norddeutsche Flachland verlegt, aus Lungenkranken seelische Wracks gemacht, die von den Ärzten möglichst lange in der Heilanstalt „festgehalten“ werden. 
Strunks Roman umfasst nicht mal ein Drittel von Manns Werk, doch nimmt sich der Wahlhamburger genügend Zeit, um in der dritten Person von den Zuständen in dem Sanatorium zu erzählen. Die Vorgeschichte seines Protagonisten beschränkt sich auf das Notwendigste. Wichtig scheinen nur die Zustände im Hier und Jetzt. Das liest sich die erste Hälfte recht eintönig, weil im Klinik-Alltag vor allem den Alltag strukturierende Routine angesagt ist. Das macht Strunk nicht zuletzt durch die wiederholte Auflistung von Heidbrinks Vitalwerten deutlich („Sauerstoff 97, Temperatur 36,5, Blutdruck 128:82, Puls 65“). Davon abgesehen erfahren wir mehr über Heidbrinks LeidensgenossInnen als über ihn selbst. 
In der ersten Hälfte des Romans ist es vor allem Strunks ausgefeilter Stil, der die triste Atmosphäre auflockert, in der zweiten Hälfte verändert sich merklich der Ton. Das hängt nicht nur mit dem schleichenden Niedergang des Sanatoriums, sondern vor allem mit den Psychopharmaka zusammen, die Heidbrink immer weniger gut verträgt. Das bietet Strunk die Steilvorlage, in dem Kapitel „Kirgisenträume“ ausgiebig aus Manns Vorlage zu zitieren. 
Sicher, Strunk blickt mit „Zauberberg 2“ fast schon subversiv pedantisch in die seelischen Abgründe unserer Zeit, doch kann er sich dabei ein immer wieder aufflackerndes Schmunzeln nicht verkneifen.

David Mitchell – „Utopia Avenue“

Sonntag, 21. Juli 2024

(Rowohlt, 748 S., HC) 
Seit seinem 1999 veröffentlichten Debütroman „Ghostwritten. A Novel in Nine Parts“, der fünf Jahre später in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Chaos“ von Rowohlt erschien, hat sich der Brite David Mitchell mit ausladenden Romanen als einer der interessantesten zeitgenössischen Autoren von der Insel etabliert und durfte sogar eine Verfilmung seines Romans „Cloud Atlas“ durch Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern mit Tom Hanks, Hugh Grant und Halle Berry in den Hauptrollen feiern. Mit seinem 2020 veröffentlichten Roman „Utopia Avenue“ lässt Mitchell die Folk-Rock-Szene rund um den „Summer of Love“ anhand der titelgebenden, fiktiven Band auferstehen und lädt sein Publikum zu einer berauschenden Zeitreise und Begegnungen mit Stars wie David Bowie, Janis Joplin und Leonard Cohen ein. 
Die Folk-Sängerin Elf Holloway hat noch kaum die Trennung von ihrem Freund Bruce Fletcher, mit dem sie das Duo Fletcher & Holloway bildete, verkraftet, da sich ihr in London bereits ein neues Betätigungsfeld auf. Der ehrgeizige Musikmanager Levon Frankland ist 1968 gerade zur rechten Stelle, um eine neue Band aufzubauen, zu der neben Elf auch der völlig abgebrannte, gerade von seiner Hauswirtin vor die Tür gesetzte Bluesbassist Dean Moss, der niederländische Gitarrenvirtuose Jasper de Zoet und der Jazzdrummer Griff Griffin zählen und die fortan unter dem Namen Utopia Avenue firmieren. Es folgt der obligatorische Marathon mit der Suche nach einem geeigneten Plattenlabel, der Auswahl der ersten, durch Würfeln bestimmten Singles und ermüdenden Tourneen durch die kleinen Clubs, bis ein Auftritt bei „Top of the Pops“ die Dinge langsam ins Rollen bringt: Nach einem Auftritt in Italien wird Dean am Flughafen von einem Polizisten ein Päckchen mit Drogen untergeschoben, Levon wegen Steuerhinterziehung verhaftet. Dieser Vorfall löst international heftige Proteste aus und macht Utopia Avenue auch in den USA populär, wo sie mit ihrem zweiten Album touren. Doch Jasper bekommt wieder psychotische Schübe, die die weitere Karriere der Band bedrohen… 
„Der Auftritt im Ghepardo ist bizarr und peinlich. Bizarr, weil Jasper völlig passiv dabei zusieht, wie sein Ex-Körper fehlerfrei seine Gitarrenparts spielt. Peinlich, weil man, um das Publikum zu begeistern, nicht nur technisches Können braucht, sondern auch Feeling, und ohne Jasper ist Klopf-Klopf ein seelenloser Automat. Utopia Avenue müssen bei ihrem Amerika-Debüt deutlich mehr bieten. Elf, Dean und Griff denken bestimmt, dass Jasper sie im Stich lässt. Und fünf-, sechshundert New Yorker teilen denselben Eindruck: Jasper de Zoet hat keinen Bock. Es tut ihm weh, dass Utopia Avenue so glanzlos untergehen.“ (S. 618) 
David Mitchell lädt mit „Utopia Avenue“ zu einer schillernd-bunten, psychedelisch angehauchten und musikalisch verrückten Zeitreise ein. Akribisch verbindet er die einzelnen Biografien der vier fiktiven Band-Mitglieder von Utopia Avenue zu mehr als nur einer Band-Biografie. Er beschreibt eindringlich, unter welch schwierigen Bedingungen Musiker ihren Lebensunterhalt verdienen, wie komplex sich das Schreiben und Arrangieren von Songs und das Aufrechterhalten der Bandchemie gestalten. 
Vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges, einer wachsenden Protestkultur und Fragen des Feminismus entfaltet Mitchell eine atmosphärisch stimmige Gesellschaftsstudie, einen fesselnden Künstlerroman und einen berauschenden Drogen-Trip mit fatalen Folgen. Zwar tritt der episodenhafte Charakter von Mitchells früheren Romanen nicht ganz so deutlich hervor, doch springt der Autor immer wieder in der Zeit ein kleines Stück vor und zurück, um einzelne Zusammenhänge deutlicher zu machen. Vor allem fesselt die musikalische Qualität des Romans, den man am liebsten mit einer passenden Spotify-Playlist oder noch besser mit dem Soundtrack auf ausgesuchten Vinyl-Scheiben liest.  

Cormac McCarthy – „Stella Maris“

Mittwoch, 10. Juli 2024

(Rowohl, 240 S., HC) 
16 Jahre nach seinem letzten, auch noch erfolgreich mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle verfilmten Roman „Die Straße“ widmete sich der am 13. Juni 2024 verstorbene Pulitzer- und National-Book-Award-Preisträger Cormac McCarthy mit seinen letzten beiden Werken einmal mehr den großen Fragen der Menschheit, thematisierte Liebe, Wahnsinn und die Wissenschaften. 
Das über 500-seitige Epos „Der Passagier“ schilderte die Geschichte des Bergungstauchers Bobby auf der mysteriösen Suche nach einem Vermissten. Von seiner jüngeren, hochintelligenten Schwester Alicia Western erfahren wir vor allem, dass sie zwar eine geniale junge Mathematikerin und virtuose Violinistin gewesen ist, aber Selbstmord verübt hat, nachdem bei ihr paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden war. „Stella Maris“ stellt weniger eine Fortsetzung von „Der Passagier“ dar, sondern einen Teil der ganzen Geschichte aus der Perspektive von Alicia. 
Nach zwei früheren Aufenthalten in dieser Einrichtung kehrt die zwanzigjährige Alicia Western im Oktober 1972 in die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Stella Maris zurück und begibt sich in eine Therapie, die allein aus Gesprächen mit dem dreiundvierzigjährigen Psychiater Dr. Cohen besteht. 
Zu mehr hat sich die Doktorandin der Mathematik an der Universität von Chicago nicht bereiterklärt. Es erschien ihr der einzig mögliche Zufluchtsort, da sie von der psychiatrischen Klinik St. Coletta, in der Rosemary Kennedy untergebracht war, nicht angenommen wurde. In ihren Gesprächen klammert sie ihre Beziehung zu ihrem Bruder Bobby aus, erwähnt aber, dass sich ihre Eltern beim „Manhattan Project“ kennengelernt haben, wo ihr Vater als Physiker wirkte und ihre Mutter damit beschäftigt war, Uran anzureichern. Alicia spricht in ihren Therapiesitzungen vor allem über das Wesen der Mathematik, über die Natur der Probleme, die Grothendieck, Gödel, Riemann, Poincaré und Noether angetrieben haben, aber auch über die Geister, die sie ab ihrem elften Lebensjahr wahrzunehmen begann, vor allem ein Zwerg mit Flossen statt Händen. Alicia streift in ihren Beschreibungen verschiedene Überlegungen zu wissenschaftlichen Disziplinen, findet den Bogen von Jung und Freud zu Wittgenstein
Am Ende spricht sie dann doch über die inzestuöse Liebe zu ihrem Bruder, über ihre Selbstmordgedanken und den Wahnsinn. 
„Wenn wir noch an Hexen glauben würden, würden wir sie auch verbrennen. Hässliche Weiber mit Hakennasen würden auf den elektrischen Stuhl geschnallt. Anscheinend hat nie jemand bemerkt, dass die stereotype Hexe jüdische Züge tragen soll. Ich glaube, der Skeptizismus ist ganz okay. Wenn man ertragen kann, was damit einhergeht. Ich bin froh, dass man mich gut behandelt, aber ich weiß, dass das nicht unbedingt so bleiben muss. Wenn diese von der Vernunft geschaffene Welt irgendwann den Bach runtergeht, wird sie die Vernunft mitnehmen.“ (S. 171) 
Ähnlich wie „Der Passagier“ stellt „Stella Maris“ keine leichte Lektüre dar, auch wenn der Aufbau als reines Zwei-Personen-Stück konzipiert ist, als einfach nur aufeinander folgende Gesprächssitzungen zwischen Psychiater und Patient. Dabei wird deutlich, dass Cormac McCarthy, der seit Jahrzehnten dem Santa Fe Institute angehört, mehr der Wissenschaft als der Literatur zugetan ist. Die mathematischen Theorien, die wie zuvor schon auf dem Gebiet der Physik in „Der Passagier“ thematisiert wurden, könnten schon mal den Leser in Versuchung führen, das Buch beiseite zu legen, doch die einzigartig gekonnte, karge Sprache des vielleicht bedeutendsten zeitgenössischen amerikanischen Schriftstellers lässt einen durchhalten, und dann geht es auch mit weniger komplizierten Sachverhalten weiter, die allerdings durchweg den brillanten Geist durchschimmern lassen, der die Zwanzigjährige durchzieht. 
„Stella Maris“ erzählt auf spannende Weise, wozu der menschliche Geist im Spannungsfeld zwischen Liebe, Wissenschaft, Kunst und Spiritualität in der Lage ist – im schöpferischen wie zerstörerischen Sinne. 

 

Cormac McCarthy – „Der Passagier“

Montag, 17. Juni 2024

(Rowohlt, 526 S., HC) 
Mit preisgekrönten, u.a. mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Romanen wie „Die Abendröte im Westen“, „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ zählte Cormac McCarthy bis zu seinem Tod im Jahr 2023 im Alter von fast neunzig Jahren zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren des englischsprachigen Amerikas. Nach dem erfolgreich verfilmten Meisterwerk „Die Straße“ blieb es aber sechzehn Jahre ruhig um den versierten Schriftsteller, ehe er ein Jahr vor seinem Tod die beiden zusammenhängenden Romane „Der Passagier“ und „Stella Maris“ über ein offensichtlich inzestuöses Geschwisterpaar mit außergewöhnlichen naturwissenschaftlichen Talenten veröffentlichte. Während das um die Hälfte kürzere „Stella Maris“ die Geschichte aus der Perspektive der begnadeten, aber leider psychisch labilen Mathematikerin Alicia erzählt, führt uns zunächst ihr Bruder Bobby Western in die ungewöhnliche Familiengeschichte ein. 
Als sich der Bergungstaucher Bobby Western im Jahr 1980 mit seinem Kumpel Oiler bei Pass Christian in Mississippi eine abgestürzte Jet Star untersucht, entdeckt er, dass nicht der Flugschreiber fehlt, sondern auch der zehnte Passagier. 
Wenig später wird Western von zwei Männern mit geheimnisvollen Dienstausweisen in die Mangel genommen. Nachdem auch er auch seine Wohnung durchwühlt vorfindet, entschließt sich Western, sich auf den Weg zu seiner Schwester Alicia zu machen, die in Wisconsin in einem Sanatorium untergebracht war. Da der mysteriöse Geheimdienst auch Westerns Auto, Bankschließfach und Konten eingesackt hat, gestaltet sich Westerns Reise problematisch. 
Er sucht seine alten Kumpels auf und versucht sich einen Reim darauf zu machen, was die Tätigkeit seines Vaters, der als Forscher mit Oppenheimer zusammengearbeitet hat und so mitverantwortlich für die Toten von Hiroshima und Nagasaki war, und der von der Mathematik besessene Geist seiner Schwester mit seinem eigenen Leben zu tun hat. 
„Wer bin ich, was bin ich, wo bin ich. Aus welchem Stoff ist der Mond geprägt. Wie lautet der Plural von Durst. Wo finde ich einen guten Grill. Ich suche nach Schwachstellen in deiner Haltung. Abgesehen von den offensichtlichen eines Nichtteilnehmers. Wie Jimmy Anderson sagt: Das Einzige, was schlimmer ist, als zu verlieren, ist, nicht zu spielen. Ich muss sagen, dass die meisten Schrecknisse zumindest lehrreich sind, aber bei Frauen lernt man überhaupt nichts. Woran liegt das? Ich weiß, ich bin mit dieser Überzeugung nicht allein. Besteht der Zweck von Schmerz nicht in der Belehrung? Tja, darauf ist gepisst.“ (S. 414) 
Cormac McCarthy macht es seiner Leserschaft nicht leicht. Die meisten Kapitel von „Der Passagier“ werden mit kursiv gedruckten Episoden eingeleitet, in der ein junges Mädchen mit einem sie hartnäckig verfolgenden Zwerg merkwürdige Gespräche führt, die – wie sich später herausstellt – Gedankenspiele der schizophrenen Alicia sind. 
Den Kern der Geschichte macht allerdings die unter schwierigsten Bedingungen vollzogene Reise von Bobby Western aus, wobei das Rätsel des verschwundenen Passagiers eine Krimihandlung einleiten könnte, die allerdings nicht weiterverfolgt wird. Stattdessen rücken die Begegnungen in den Mittelpunkt, die Bobby Western nach seiner erzwungenen Flucht unterwegs macht. 
Dabei werden Entdeckungen im Bereich der Physik ebenso ernsthaft und – leider auch unnötig ausführlich – diskutiert wie die Theorie, wie John F. Kennedy wirklich ermordet worden ist. Die Erbschuld, die Western durch die Tätigkeit seines Vaters mit sich trägt, dringt dabei immer wieder durch, ebenso die Verzweiflung, mit der sich seine Kumpels durch das Leben schlagen. 
So brillant McCarthy einmal mehr mit der Sprache umgeht, so verworren kommt doch der Plot mit seinen unzähligen Nebenfiguren und den lamentierenden Gesprächen rüber. „Der Passagier“ ist vielleicht McCarthys am wenigsten zugängliches Werk und wird deshalb wohl auch nicht so ins kulturelle Gedächtnis eingehen wie seine früheren, zurecht preisgekrönten Romane. 

John Wray – „Unter Wölfen“

Sonntag, 2. Juni 2024

(Rowohlt, 480 S., HC) 
John Wray ist das Pseudonym des 1971 in Washington, D.C., geborenen John Henderson, und als Sohn einer Österreicherin ist er nicht nur zweisprachig aufgewachsen, sondern verbringt noch immer so viel Zeit im Kärtner Haus seiner Großeltern, dass er seinen 2021 veröffentlichten Erzählband „Madrigal“ sogar auf Deutsch geschrieben hat. Nun ist mit „Unter Wölfen“ sein neues Werk erschienen, das im weitesten Sinne einen Entwicklungsroman in der Death-Metal-Szene darstellt. 
Ende der 1980er Jahre fühlt sich Leslie „Z“ Vogler in dem Florida-Städtchen Venice wie ein prototypischer Außenseiter. Er ist nicht nur schwarz, sondern obendrein noch bisexuell und ein Fan von Hanoi Rocks. Als würde das noch nicht genügen, läuft er in Glam-Klamotten herum, als hätte er noch nicht mitbekommen, dass Glamrock out und Death Metal in sei. 
An der Venice High lernt er Christopher Chanticleer „Kip“ Norvald kennen, der wegen seiner desaströsen Familienverhältnisse in einer bewachten Wohnanlage bei seiner Oma Oona lebt und bei Leslies Vorspielen einer Hanoi-Rocks-Platte erstmals vom „Self Destruction Blues“ hört. Dieser Blues zieht sich fortan wie ein Leitfaden durch das Leben von Kip, Leslie und Kira Hetfield, der dritten Außenseiterin im Bunde. Kira lebt mit ihrem übergriffigen Vater in einem Trailer und kennt sich in der Death-Metal-Szene aus wie niemand sonst. Als sie den Alltagsmist mit psychischen und Schul-Problemen, mit homophoben wie sexuellen An- und Übergriffen nicht mehr ertragen, wollen die drei jungen Metal-Addicts nur noch weg, ab nach Los Angeles, in die Hauptstadt ihrer geliebten Musik, mit den coolsten Clubs und angesagtesten Bands. Doch der Aufenthalt dort entpuppt sich als weitere Sackgasse auf dem Weg zur absoluten Erkenntnis, der allumfassenden Wahrheit. 
Zwar macht sich Kip langsam einen Namen als Kolumnist für verschiedene Metal-Fanzines und -Magazine, doch muss er auf schmerzliche Weise erkennen, dass seine Schwärmerei für Kira wohl nicht erwidert wird. Als sie allerdings verschwindet und ihre Spur nach Skandinavien führt, machen sich Kip und Leslie auf die Suche nach ihr, bis sie auf einen mysteriösen Todeskult stoßen, der Schlimmes befürchten lässt… 
„Sie hatten so spektakulär versagt, sie alle drei. Die Distanz zwischen dem Leben, das sie sich in groteskem California Technicolor ausgemalt, und dem, das sie tatsächlich vorgefunden hatten, war so riesig wie das Land, durch das sie im Kthulhu gefahren waren. Aber der Grund für ihr Scheitern war nie Kalifornien gewesen, die Stadt Los Angeles oder der Strip in seiner ganzen Verdorbenheit. Sie selbst waren der Grund gewesen. Ihr Egoismus, ihre Unreife, ihre Schwäche. Sie waren Hinterwäldler aus dem mittleren Florida, daran würde sich nie etwas ändern.“ 
Man muss kein Metal-Fan sein, um John Wrays neuen Roman „Unter Wölfen“ lesen und auch genießen zu können, denn Death Metal dient hier letztlich nur als eine Möglichkeit von vielen, mit denen sich Jugendliche und junge Erwachsene aus der desillusionierenden Welt des Hochkapitalismus Ende der 1980er Jahre ausgeklinkt haben. Dass Wray selbst früher Musiker in einer Rockband gewesen ist, gestaltet den Zugang zu dieser Szene allerdings einfacher, denn der Autor versteht es auch für den Laien sehr gut, das herauszuarbeiten, was die Metal-Szene mit ihren verschiedenen Subgenres ausmacht, und er transportiert auch die Emotionen seiner drei Protagonisten so anschaulich, dass sie einem beim Lesen trotz ihrer vielleicht fremdartig anmutenden Geisteshaltung schnell ans Herz wachsen. 
Wray versteht es, die Verzweiflung, die innere Leere, die Suche nach einem tieferen Sinn im Leben dieser jungen Menschen nicht zuletzt durch seine bildliche Sprache und großartigen Dialoge einzufangen, die so einzigartig wie die Figuren sind, die sie sprechen. Wie tief dieser Self Destruction Blues einwirkt, wird den Beteiligten spätestens in den abgelegenen Gegenden in Skandinavien vor Augen geführt, als Kip die Bekanntschaft des geheimnisvollen Euronymous und einer sektenähnlichen Vereinigung macht. 
Mit dem skandinavischen Teil bewegt sich der Autor eher auf den Pfaden eines dämonischen Mystery-Thrillers und führt den in Venice und Los Angeles begonnen Weg seiner drei Hauptfiguren konsequent zu Ende. 
Einmal mehr beweist John Wray sein Gespür für die verschrobene, gekränkte Psyche ausgegrenzter Menschen und lässt bei aller brutaler Gewalt und Härte doch auch immer wieder zärtliche, gefühlvolle Momente zu.  

Paul Auster – „Bloodbath Nation“

Freitag, 16. Februar 2024

(Rowohlt, 192 S., HC) 
Die Statistiken sind deprimierend: Amerikaner haben nicht nur eine 25 Mal höhere Chance, angeschossen zu werden als Bürger in anderen hochentwickelten Ländern, sondern 82 Prozent aller Todesfälle durch Schusswaffen werden von Amerikanern verübt. 40 000 Amerikaner sterben jährlich durch Schussverletzungen, mit 393 Millionen Schusswaffen im Besitz amerikanischer Staatsbürger besitzt jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mehr als eine Waffe. Das sind die Schattenseiten des als unantastbar geltenden Zweiten Verfassungszusatzes vom 15. Dezember 1791, der die Einschränkung des Rechts auf den Besitz und das Tragen von Waffen untersagt und seit jeher Anlass zu nicht enden wollenden juristischen wie politischen Diskussionen über das genaue Ausmaß dieses Verbots gibt. 
In diese Diskussion schaltet sich nun auch der renommierte US-amerikanische Autor Paul Auster ein, der neben seinen prominenten Romanen wie „Die New-York-Trilogie“, „Mond über Manhattan“, „Im Land der letzten Dinge“ und zuletzt „Baumgartner“ auch immer wieder kluge Essays zu unterschiedlichsten Themen verfasst hat (wie zuletzt in dem Band „Mit Fremden sprechen“ zusammengefasst). 
Austers neuer Essay „Bloodbath Nation“ hat seinen Ursprung in der Vita Austers, ist doch sein Großvater 1919 von seiner Großmutter erschossen worden, was jahrelang ein gut gehütetes Geheimnis in der Familie blieb. Auster selbst erwies sich bei Schießübungen im Kindesalter als überaus talentiert, hat aber nie eine Waffe besessen und ist seinem offensichtlichen Talent für den Umgang mit Schusswaffen auch nie mehr nachgegangen. Dabei ist Auster wie so viele seiner Zeitgenossen mit den Western in den 1950er Jahren aufgewachsen, in der Männer mit schwarzen Hüten die Bösen waren und durch die guten Männer mit weißen Hüten – natürlich mit Waffen – zur Räson gebracht werden mussten. 
Auster skizziert, wie schon die Ausrottung der Ureinwohner und die Sklaverei als unaufgearbeitete Sünden in der Geschichte der USA dazu führten, dass das Verständnis von Demokratie dazu führte, dass sich Einzelne eher um sich selbst kümmern, als dass sich die Menschen in einer Gemeinschaft füreinander verantwortlich fühlen. Auster zählt in seinem Essay vor allem etliche Beispiele auf, in denen oft junge und psychisch schwer geschädigte Männer nicht nur davon fantasieren, möglichst viele Menschen (ob Fremde, Freunde oder Familienangehörige) zu töten, sondern dies nach sorgfältiger Planung auch tun. 
Zwar betont der 77-jährige, an Krebs schwer erkrankte Autor, dass Amokläufe nur für einen geringen Prozentsatz der Opferzahlen verantwortlich sind, die auf Schusswaffengebrauch zurückzuführen sind, sie stehen aber nicht ohne Grund im Zentrum des Buchs, werden diese mass shootings doch als eine Art Performancekunst angesehen, die besonders viel Raum in der Medienberichterstattung erhält. Dieser Fokus wird auch durch die schwarzweißen, sehr trist und trostlosen erscheinenden Fotografien von Spencer Ostrander betont, da sie die Tatorte der Verbrechen erst danach zeigen, ohne eine Menschenseele, was die Tragik der oft nach wie vor verwaisten, mittlerweile bereits abgerissenen Supermärkte, Bars oder Synagogen noch verstärkt. 
„Mit generellen Verboten und drakonischen Maßnahmen kann man den zum Kampf Entschlossenen keinen Frieden aufdrängen. Frieden wird es erst geben, wenn beide Seiten ihn wollen, und um es dahin zu bringen, müssten wir uns zunächst einmal aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir sind und wer wir als Volk in Zukunft sein wollen, und dazu müssten wir uns aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir in der Vergangenheit gewesen sind. Sind wir bereit, uns diesem lange hinausgeschobenen nationalen Augenblick der Wahrheit und der Versöhnung zu stellen?“ 
So interessant und erkenntnisreich sich Austers „Bloodbath Nation“ auch liest, macht das schmale Büchlein doch wenig Mut, dass sich in Zukunft etwas Grundlegendes an dem Verhältnis der Amerikaner zu ihren Waffen ändert. Dazu ist der Einfluss der NRA (National Rifle Association) auch zu stark. Und die gar nicht so unwahrscheinliche Möglichkeit, dass der Mann mit der schrecklichen Frisur doch noch einmal zum Präsidenten gewählt werden könnte, lässt wenig Hoffnung keimen, dass sich die Amerikaner noch eines Besseren besinnen werden. 
Auster selbst bietet auch keine Lösung für das Problem des Umgangs mit den Waffen an, so dass man auch in Zukunft nur auf weitere Berichte über irgendwelche Massaker an Schulen, in Clubs oder bei öffentlichen Versammlungen warten kann, ohne dass sich etwas an den Gesetzen zum Tragen und Benutzen von Waffen ändern wird.  

Paul Auster – „Baumgartner“

Mittwoch, 8. November 2023

(Rowohlt, 208 S., HC) 
Seit seinen ersten beiden Büchern, die im Original 1987 erschienen und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung unter den Titeln „Die New-York-Trilogie“ und „Im Land der letzten Dinge“ veröffentlicht worden sind, hat sich der aus Newark, New Jersey, stammende Schriftsteller Paul Auster zu einem der produktivsten, vielseitigsten und wichtigsten Künstler der Gegenwart entwickelt, zu dessen Oeuvre neben den bekannten Romanen – zuletzt das über 1000-seitige Epos „4 3 2 1“ – auch Essays, Lyrik, Übersetzungen und sogar Filme zählen. Nun präsentiert der mittlerweile 76-jährige Auster mit „Baumgartner“ eine ungewohnt kurze, aber sehr berührende Geschichte, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man mit der Trauer nach dem Tod eines über alles geliebten Menschen umgeht. 
Seymour Tecumseh „Sy“ Baumgartner, 71-jähriger Professor für Phänomenologie in Princeton, sitzt in seinem Arbeitszimmer gerade an seiner Monografie über Kierkegaards Synonyme, als ihm einfällt, dass er nicht nur aus dem Wohnzimmer ein Buch holen muss, aus dem er zitieren will, sondern auch seine Schwester noch nicht wie abgesprochen angerufen hat. Der Weg nach unten setzt eine Kette verschiedener unglücklicher Ereignisse in Gang, die über Verbrennungen an der Hand nach der ungeschickten Handhabung eines kochend heißen Aluminiumtopfes auf dem Herd bis zu einem schmerzhaften Sturz die Kellertreppe hinunterführen. 
Als Lichtblick dazwischen klingelte die UPS-Botin Molly, in die Baumgartner ein wenig verliebt ist, seit seine große Liebe Anna Blume vor fast zehn Jahren gestorben war, weshalb er Bücher bestellt, die er eigentlich gar nicht braucht und sich schon in einer Ecke neben dem Küchentisch bis zur Umsturzgefahr stapeln. All diese Ereignisse setzen Erinnerungen an Anna in Gang, der er nach wie vor gewohnheitsmäßig eine Tasse Kaffee einschenkt und pornographische Liebesbriefe schreibt, wobei er sich vorstellt, wie Anna diese Briefe in Empfang nehmen und lesen würde… 
Immerhin, S. T. Baumgartner hat noch einen weiteren Versuch unternommen, eine Frau zu lieben. Auf die unverfälschte, direkte, übersprudelnde und spontane, aber weltabgewandte Anna folgte die ausgeglichene, beeindruckende, selbstsichere und kultivierte Judith, die so ganz anders war als seine große Liebe. 
Während Baumgartner erst nach Annas Tod einen schmalen Band mit ihren besten Gedichten veröffentlichen ließ, war Judith bereits eine Autorität in der Welt des Films, mit vier veröffentlichten Büchern, doch heiraten wollte sie Baumgartner nicht, und so ging es mit der Beziehung auch zu Ende. Der Philosophieprofessor grämt sich allerdings nicht zu sehr, sondern stürzt sich mit immer großer Begeisterung in neue Projekte, so die Betreuung der siebenundzwanzigjährigen Studentin Beatrix Coen, die ihre Dissertation über das Gesamtwerk von Anna Blume schreiben will und plant, die unveröffentlichten Manuskripte, Briefe und Romanfragmente in Baumgartners Nähe zu studieren. Schließlich bringt Baumgartner auch sein eigenes Buch zu Ende, in denen er seine Ideen über das Wort Automobil zum Besten gibt. 
„Das Auto als Mensch, der Mensch als Auto, eins mit dem anderen austauschbar in einer hakenschlagenden, pseudophilosophischen Abhandlung im Geiste von Swift, Kierkegaard und anderen intellektuellen Spaßvögeln, die die Welt auf den Kopf stellen, damit ihre Leser sich in den Kopfstand begeben und versuchen, sich aus dieser Perspektive eine Welt vorzustellen, die richtig herum steht.“
Auch wenn der titelgebende Baumgartner die Hauptfigur von Paul Austers neuen Roman darstellt, rückt Anna Blume durch die lebendig geschilderten Erinnerungen ihres Mannes ebenso in den Vordergrund einer berührenden Erzählung über die Liebe, die über den Tod hinauswirkt, aber wie in Austers Werk üblich, wird der Plot natürlich auch von Zufällen und selbstreferentiellen Passagen geprägt. Baumgartner ist es intellektuell gewohnt, die Dinge auf ihre Natur und Bedeutung zu untersuchen, und auf analytische Weise betrachtet er auch die Beziehung zu Anna und anderen Frauen in seinem Leben. Es scheint ihm die Einsamkeit erträglicher zu machen, auf diese Weise noch mit den Menschen, die ihm einst viel bedeutet haben und nun nicht mehr an seinem Leben teilhaben, verbunden zu bleiben. 
Mit seinen verschlungenen Sätzen, die auch in Werner Schmitz‘ Übersetzung einen wunderbaren Sog erzeugen, führt Auster seiner Leserschaft eindringlich vor Augen, wie sehr das Leben eines Menschen von Erinnerungen, Träumen und Wünschen geprägt wird, wie Gefühle von Einsamkeit und Trauer - zumindest teilweise - überwunden werden können. 

Stewart O’Nan – „Ocean State“

Dienstag, 20. Juni 2023

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Stewart O’Nan hat es in seiner über fünfunddreißigjährigen Schriftstellerkarriere immer wieder hervorragend verstanden, die Befindlichkeiten und das allgemeine soziale Gefüge gerade der amerikanischen Arbeiterschicht und damit der breiten Bevölkerung seines Landes zu sezieren und auf mitfühlende Weise in oft tragischen Geschichten zu beschreiben. Da macht sein 2022 erschienener Roman „Ocean State“ keine Ausnahme. In Rhode Island, dem sogenannten „Ocean State“ und kleinsten US-Staat, haben die Menschen schwer mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Die Arbeiterstadt Westerly ist von nach dem Bankencrash leeren Häusern an der Küste geprägt. Im nahegelegenen Ashaway lebt die nach ihrer Scheidung von Frank alleinerziehende Carol als Pflegerin in einem Altenheim, bringt sich und ihre beiden Teenagertöchter Marie und Angel gerade so über die Runden und hofft, durch neue Beziehungen mit Männern ihren Status zu erhöhen, was ihr in zunehmenden Jahren immer schlechter zu gelingen scheint. 

Bricht die Beziehung auseinander, muss Carol für sich und ihre beiden Töchter eine neue Bleibe suchen. Momentan ist es ein unscheinbares Haus am Fluss, gegenüber der leer stehenden Garn- und Schnur-Fabrik Line & Twine, in deren Gängen die Mädchen Rollschuh fahren. 
Der Mord an der Highschool-Schülerin Birdy erschüttert die Kleinstadt. Sie hat sich in den aus wohlhabendem Haus stammenden Myles verliebt, der allerdings mit Maries älterer Schwester Angel liiert gewesen ist. Aus einem Abstand von einigen Jahren lässt nicht nur Marie die Ereignisse Revue passieren, die mit Birdys Tod endeten. 
„Wie alles im Fernsehen schien der Fall einer anderen Welt anzugehören, obwohl sich das Ganze direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite abspielte. Ich kannte diesen Flussabschnitt besser als jeder andere und stellte mir vor, wie ich sie entdeckte, schlaff und blass wie ein Fisch, hängen geblieben im Wehr, und meine Geschichte einem Reporter erzählte. Jeden Abend gaben sie uns einen Hinweis, als wäre es ein Spiel. Ihre Mutter sagte, als sie losgefahren sei, habe sie ihre Uniform getragen, doch ihr Chef bestritt, dass sie Dienst hatte. Sie hatte sich vor kurzem von ihrem langjährigen Freund getrennt, den die Polizei für eine Person von besonderem Interesse hielt.“ (S. 180) 
Auch wenn „Ocean State“ mit der Erwähnung eines Mordes beginnt, handelt es sich bei O’Nans neuen Roman natürlich nicht um einen Krimi mit klassischem Whodunit-Plot, denn die (Mit-)Täterin wird gleich im ersten Satz miterwähnt.
Stattdessen bewegt sich der aus Connecticut stammende Autor auf vertrautem Terrain, portraitiert einfühlsam die Lebensumstände (nicht nur) junger Menschen, die sich durch Highschool, Nebenjobs, Liebesgeschichten und das Leben kämpfen, nach und nach ihre Träume begraben und desillusioniert von einer unglücklichen Beziehung in die nächste schlittern. O’Nan lässt die Geschichte aus der wechselnden Perspektive der vier Frauen Carol, Marie, Angel und Birdy erzählen, was dem Roman eine besondere Note verleiht, denn die Männer wirken ohnehin eher schwach. Myles sieht zwar gut aus und kommt aus reichem Hause, verfügt aber über keinen nennenswerten Charakter, vermag sich nicht so recht zwischen Angel und Birdy entscheiden, was die tragischen Ereignisse vielleicht erst in Gang setzt. 
In den persönlichen Erinnerungen der vier Protagonistinnen wird vor allem das Ringen um Liebe und Anerkennung in einer Welt deutlich, die den Figuren am Rande der Gesellschaft sonst nichts zu bieten hat. Gewohnt eindringlich fühlt sich O’Nan in die Träume, Sehnsüchte und Ängste seiner Figuren ein und bleibt diesen auch bis nach dem eigentlichen Ende der Geschichte treu, wirft noch einen kurzen Blick in die Zukunft der vier Frauen. So entsteht das Bild einer Gesellschaft, die vor allem durch die Ungleichheit der Chancen und des Vermögens geprägt ist. Darin ist und bleibt O’Nan einfach ein Meister. 

Paul Auster – „Leviathan“

Samstag, 20. August 2022

(Rowohlt, 320 S., HC) 
In den Werken des amerikanischen Schriftstellers Paul Austers spielen Zufälle und die Frage nach Identitäten eine immer wiederkehrende Rolle. In dieser Hinsicht schließt sein fünfter Roman „Leviathan“ nahtlos an „Die Musik des Zufalls“ an. 
Der mysteriöse Tod eines nicht identifizierten Mannes bei einer Explosion bringt den Schriftsteller Peter Aaron im Juni 1990 dazu, über seine ungewöhnliche Freundschaft mit seinem Kollegen Benjamin Sachs nachzudenken und seine Geschichte zu erzählen. Aaron hat nach der Lektüre des Artikels in der New York Times sofort seinen besten Freund wiedererkannt. Zwar hat er ihn seit knapp einem Jahr nicht mehr gesprochen, aber damals war Aaron bereits bewusst geworden, dass Sachs auf eine dunkle, namenlose Katastrophe zusteuerte. 
Kennengelernt haben sich Aaron und Sachs, als sie an einer gemeinsamen Lesung in einer Bar im West Village teilnehmen sollte, die allerdings ausfiel, ohne dass die beiden Autoren informiert wurden. Sachs hatte zu jener Zeit zwei Jahre zuvor den erfolgreichen Roman „Der neue Koloss“ veröffentlicht und konnte auf ein enormes Pensum an qualitativ hochwertigen Artikeln und Essays verweisen. Zu Aarons Überraschung war Sachs aber auch mit den weit weniger bekannten Aufsätzen vertraut, die Aaron in Zeitschriften unterbringen konnte. 
Über die intensive Diskussion über ihre Arbeiten und Lebenserfahrungen an jenem Abend an der Bartheke entwickelte sich eine enge Freundschaft, die ihre Höhen und Tiefen aufwies. Interessanterweise war Aaron mit Sachs‘ Frau Fanny aus seiner eigenen College-Zeit bekannt und damals sogar in sie verliebt, doch war sie damals schon mit Sachs verheiratet, der allerdings seine Gefängnisstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung absaß… Aaron heiratet Delia, doch nicht zuletzt die anhaltenden Geldsorgen führen zu Streits und schließlich zur Trennung. Als Sachs für eine Verfilmung seines Romans für einige Zeit nach Hollywood muss, beginnen Fanny und Aaron eine Affäre, die mit Sachs‘ Rückkehr abrupt endet. Die gemeinsame Bekanntschaft mit der Künstlerin Maria Turner bedeutet eine radikale Kehrtwendung im Leben der beiden Schriftsteller. 
Während Aaron allmählich auf eine gewisse Stabilität bauen kann, seinen ersten Roman „Luna“ veröffentlicht und mit Iris seine zweite Frau kennenlernt, stürzt Sachs während einer Party aus dem vierten Stock eines Hochhauses, überlebt allerdings mit viel Glück. Danach will Sachs sein Leben ändern, zieht von New York aufs Land, beginnt an seinem neuen Roman „Leviathan“ zu arbeiten und wird unversehens im Wald zum Mörder und schließlich zum Freiheits-Aktionisten, der überall im Land Freiheitsstatuen sprengt… 
„Und genau das ist es, was mir noch immer zu schaffen macht, das Rätsel, dessen Lösung ich noch immer nicht gefunden habe. Sein Körper erholte sich wieder, aber er selbst war nicht mehr der alte. In diesen wenigen Sekunden vor de Aufprall scheint Sachs alles verloren zu haben. Sein ganzes Leben ist dort in der Luft in Stücke gegangen, und von diesem Augenblick bis zu seinem Tod vier Jahre später hat er es nicht wieder zusammensetzen können.“ (S. 145) 
Es ist wieder einmal das Spiel mit Zufällen und wechselnden Identitäten, das Paul Auster in „Leviathan“ so souverän wie kein Zweiter beherrscht. Schon die Bekanntschaft der beiden Schriftsteller in einer Bar nach einer abgesagten Lesung, bei der Aaron kurzfristig für einen anderen Autor einspringen musste, wirkt wie ein glücklicher Zufall, was durch den Umstand verstärkt wird, dass Aaron einst in Sachs‘ Frau Fanny verliebt gewesen war und später eine Affäre mit ihr unterhält. Ein Zufall führt Sachs auch zu einer vermeintlichen Abkürzung durch einen Wald, bei dem der Schriftsteller in eine Schießerei gerät und einen Mann namens Dimaggio erschießt, nachdem dieser den Jungen tötete, der Sachs freundlicherweise in seinem Wagen mitgenommen hatte. 
Und wie wahrscheinlich mag es wohl sein, dass Dimaggio mit Maria Turners bester Freundin Lillian Stern verheiratet gewesen ist? Man muss sich schon auf diese merkwürdigen Zusammenhänge einlassen können, ebenso auf die Herausforderungen, mit denen sowohl Sachs als auch Aaron beim Meistern ihres jeweiligen Lebens zu kämpfen haben. Allerdings verfügt Auster über ein so ausgeprägtes Sprachgefühl, dass seine Geschichte einen verführerischen Sog entwickelt, der die Ereignisse ganz natürlich erscheinen lässt. 
Es lassen sich auch einige autobiographische Züge in „Leviathan“ entdecken, so Peter Aarons und Paul Austers identische Initialen, ein Frankreichaufenthalt, eine erfolglose Zeit in Beruf und Ehe, die Tatsache, dass der Name von Aarons zweiter Frau Iris rückwärts geschrieben den Namen von Austers zweiter Frau Siri ergibt. Schließlich ist die Konzeptkünstlerin Sophie Calle Vorbild für Austers Figur der Maria Turner gewesen. 
Mit „Leviathan“ ist Auster ein vielschichtiger Roman über die ungewöhnliche Freundschaft zweier unterschiedlicher Schriftsteller gelungen, in dem Aaron als Ich-Erzähler von dem chronologischen Ende aus, dem Tod von Benjamin Sachs, halbwegs chronologisch die Geschichte Sachs‘, aber auch seine eigene erzählt, schließlich gibt es immer wieder die überraschendsten Berührungspunkte. 
Er erzählt vor allem von den Schwierigkeiten, seinen Platz im Leben zu finden, von Ereignissen, die dem Leben plötzlich eine ganz andere Richtung verleihen. Dabei sind Auster die Charakterisierungen auch der Nebenfiguren, also vor allem der Frauen, ausgezeichnet gelungen. 

 

Paul Auster – „Die Musik des Zufalls“

Samstag, 25. Juni 2022

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Bereits in seinem vorangegangenen Roman „Mond über Manhattan“ ließ Paul Auster einen jungen Protagonisten namens Marco Stanley Fogg auf eine Sinnsuche von wortwörtlicher existentieller Bedeutung gehen, wobei ihm eine Erbschaft nicht davor bewahrt, das Schicksal eines Obdachlosen zu teilen. Eine ganz ähnliche Geschichte erzählt der preisgekrönte US-amerikanische Schriftsteller in seinem 1990 veröffentlichten Roman „The Music of Chance“. Hier ist es ein Feuerwehrmann, der nach einer Erbschaft auf Reisen geht und dessen Leben durch die zufällige Bekanntschaft mit einem jungen Pokerspieler eine unerwartete Wendung nimmt.
Jim Nashe war Buchverkäufer, Möbelpacker, Barkeeper und Taxifahrer, bis er durch einen seiner Fahrgäste auf die Möglichkeit angesprochen wurde, eine Prüfung zum Feuerwehrmann abzulegen. Nach sieben Jahren bei der Feuerwehr in Boston erhält Nashe die überraschende Nachricht, dass er von seinem Vater, zu dem er seit seiner Kindheit keinen Kontakt mehr hatte, 200.000 Dollar geerbt hat. 
Da seine Frau ihn verlassen hat und er seine Tochter zu Verwandten geben musste, hält ihn nichts mehr in der Stadt. Er kündigt seinen Job, kauft sich einen nagelneuen Saab und ein paar Kassetten mit Musik von Haydn und Mozart und macht sich nur mit einem Koffer im Gepäck auf eine ziellose Reise durch die USA, genießt die Freiheit, erst am Abend vom jeweiligen Motel aus die Route für den kommenden Tag zu planen. Er besucht das Grab seines Vaters, lässt es sich Miami neun Tage lang am Swimming Pool gutgehen, stürzt sich vier Tage lang in die Spielhöllen von Las Vegas, trifft sich mit der Journalistin Fiona, die einst einen Artikel über seine Arbeit als Feuerwehrmann geschrieben hatte, und beginnt eine Affäre mit ihr, reist aber weiter zum Geburtstag seiner Tochter Juliette, statt Fiona einen Heiratsantrag zu machen. 
Als er zu ihr zurückkehrt, ist sie anderweitig vergeben. Nach einem Jahr des ziellosen Herumreisens sind Nashes Geldreserven spürbar geschrumpft. Da nimmt er den offensichtlich verprügelten Jack „Jackpot“ Pozzi als Anhalter mit. Der vielleicht zwei- oder dreiundzwanzigjährige junge Mann stellt sich als Pokerspieler vor, der an neun von zehn Abenden als Sieger den Tisch verlässt, doch nun wurde er nach einem an sich erfolgreichen Abend überfallen und niedergeschlagen. 
Nashe bietet ihm an, ihm seine verbliebenen 14.000 Dollar als Startkapital für eine Partie mit zwei Millionären zur Verfügung zu stellen. Wie sich herausstellt, haben die beiden Exzentriker Flower und Stone mittlerweile aber Unterricht bei einem alternden Poker-Profi genommen und lassen sich nicht so leicht ausnehmen wie zunächst angenommen. Tatsächlich verschuldet sich Pozzi sogar um 10.000 Dollar, die Nashe und sein neuer Freund auf ungewöhnliche Weise abzahlen müssen… 
„In der Nacht des Pokerspiels hatte er Pozzi bis zum äußersten geholfen, war über jede vernünftige Grenze hinausgegangen, und mochte er sich dabei auch ruiniert haben, so hatte er doch immerhin einen Freund gewonnen. Und dieser Freund schien jetzt bereit, alles für ihn zu tun, selbst wenn das hieß, die nächsten fünfzig Tage auf einer gottverdammten Wiese zu leben und sich abzurackern wie ein zu Zwangsarbeit verurteilter Sträfling.“ (S. 151) 
Von Paul Auster ist die Geschichte überliefert, dass er im Alter von vierzehn Jahren miterlebt hat, wie einer seiner Freunde von einem Blitz erschlagen wurde, was ihn in der Überzeugung bestärkte, wie sehr das Leben doch von Zufällen geprägt werde. Diese Einstellung zieht sich auch bei „Die Musik des Zufalls“ wie ein roter Faden durch die Geschichte. Wie wäre Nashes Leben wohl verlaufen, wenn der Anwalt seines Vaters nicht sechs Monate gebraucht hätte, um seinen einzigen Sohn aufzuspüren? Welchen Weg hätte es genommen, wenn er bei Fiona geblieben und sie geheiratet hätte? 
Bei der Ziellosigkeit, mit der der 32-jährige Nashe durch die Staaten reist, muss es auch ein Zufall sein, dass er einen abgebrannten Pokerspieler kennenlernt und mit ihm die beiden exzentrischen Millionäre Flower und Stone, die ebenso wie Nashe durch eine Erbschaft ein neues Leben begonnen haben. Bis zur schicksalhaften Begegnung mit Pozzi erzählt Auster eine recht gewöhnliche Geschichte eines Mannes, der sich die Freiheit nimmt, mit dem unerwarteten Geldsegen einfach das zu tun, wonach ihm gerade der Sinn steht. Doch als das Geld nach einem Jahr zur Neige geht, steht die Entscheidung an, wie er zukünftig seinen Lebensunterhalt verdienen will. 
Die auch in finanzieller Hinsicht vielversprechende Freundschaft mit Pozzi bietet aber nur scheinbar einen Ausweg. Sobald Nashe und Pozzi den Palast der ungleichen Millionäre betreten, gerät ihre Welt aus den Fugen und nimmt jene phantastischen Züge an, die man von Austers Büchern schon gewohnt ist. Lässt man sich erst einmal auf die unwahrscheinliche wie kurze Geschichte ein, erlebt man ein furioses, fast schon märchenhaftes literarisches Abenteuer mit allerlei sympathischen wie skurrilen Figuren. 

 

Jack Kerouac – „Die Dharmajäger“

Samstag, 26. März 2022

(Rowohlt, 288 S., HC) 
„On the Road“, der 1957 veröffentlichte, zweite Roman von Jack Kerouac, avancierte nach seinem Erscheinen zur Bibel einer ganzen Generation von sinnsuchenden Menschen, die unter dem Begriff Beat Generation zusammengefasst wurden und zu deren populärsten Wortführern Kerouacs Kommilitonen Allen Ginsberg und William S. Burroughs zählen. 
Zum 100. Geburtstag des am 12.03.1922 geborenen und bereits 1969 an den Folgen seines Alkoholkonsums verstorbenen Kerouac hat der Rowohlt Verlag mit „Die Dharmajäger“ und „Engel der Trübsal“ zwei Werke in grandioser neuer Übersetzung von Thomas Überhoff veröffentlicht, die chronologisch an die autobiografischen Erlebnisse, die in „On the Road“ geschildert werden, direkt anschließen. Der um die Hälfte schmalere Band „Die Dharmajäger“ (im Original passender als „The Dharma Bums“, in deutscher Erstveröffentlichung unter dem Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“ erschienen) wirkt wie ein ausführlicher Prolog zu „Engel der Trübsal“, kreisen beide – wiederum autobiografischen - Werke doch um Kerouacs zweimonatigen Aufenthalt auf dem Desolation Peak. 
Im September 1955 macht sich Ray Smith (Jack Kerouac) im Güterzug auf den Weg von Los Angeles über Santa Barbara nach San Francisco. Obwohl er selbst stets knapp bei Kasse ist, teilt der tiefgläubige Zen-Buddhist seinen Wein und sein Essen mit einem Mitreisenden, denn für ihn, der sich als Bhikkhu aus alten Zeiten in modernem Gewand betrachtet, der durch Freigebigkeit, Nächstenliebe, stille Einkehr, Hingabe und Ekstase schließlich Verdienste als zukünftiger Buddha erwerben würde. Eine Woche später lernt er in San Francisco Japhy Ryder (Gary Snyder) kennen, der in einer Blockhütte tief im Wald aufgewachsen war, Chinesisch und Japanisch lernte und Orientalist mit einem tiefen Verständnis für den Zen-Buddhismus.Bei einer Lesung in der Six Gallery trifft Ray auch Alvah Goldbook (Allen Ginsberg) und andere „Hornbrille tragende Intellekto-Hipster mit ungebändigter schwarzer Mähne“ und feiern in der Hütte von Japhys Freund Sean wilde Partys mit Jazz, Alkohol und willigen Mädchen, die Japhy scheinbar mühelos für seine Zwecke einspannt, während Ray auf dem Rasen sein einsames Nachtlager aufschlägt.
Zusammen mit dem Bergsteiger/Jodler Henry Morley unternehmen Japhy und Ray eine Wanderung den kalifornischen Matterhorn Peak hinauf, wo Ray die wohltuende Kraft der Natur für sich entdeckt. Dieser Aufstieg dient ihm als Vorbereitung für den Sommerjob auf dem Desolation Peak, während Japhy nach Asien reisen will, um seine buddhistischen Studien fortzuführen … 
„Ich wusste, der Klang der Stille war überall, und deshalb war alles überall Stille. Angenommen, wir wachen plötzlich auf und erkennen, dass das, was wir für dieses und jenes gehalten haben, gar nicht dieses und jenes ist? Begrüßt von Vögeln taumelte ich den Hügel hoch und besah mir die gedrängt auf dem Hüttenboden schlafenden Gestalten. Wer waren all diese seltsamen Geister, die mit mir zusammen das dumme kleine Abenteuer Erde teilten? Und wer war ich?“ (S. 224f.) 
Während „Engel der Trübsal“ (das zuvor nur als gekürzte Fassung unter dem Titel „Engel, Kif und neue Länder“ erhältlich gewesen ist) mit der Rückschau auf die letztlich niederschmetternde Erfahrung auf dem Desolation Peak beginnt, wo Jack Kerouac zwei Monate als Brandwächter gearbeitet hat, wird in „Die Dharmajäger“ der Boden für diesen abenteuerlichen Trip bereitet, und zwar in einer weit einheitlicheren Sprache als sie uns bei „Engel der Trübsal“ begegnet. 
Kerouac bzw. sein in diesem Roman Ray Smith benanntes Alter Ego brennt darauf, seinen Zen-Buddhismus-getränkten Geist durch Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen zu schärfen und sich dabei vom Haben zum Sein zu entwickeln. Mehr noch als die obligatorischen Partys mit ihren allseits verfügbaren Verführungen durch Sex, Alkohol und Drogen sind es die Reisen durch Amerika und nach Mexiko, die Rays Gedanken und Gefühle prägen, doch nutzen sich die buddhistischen Plattitüden mit der Zeit doch arg ab. 
Weitaus fesselnder sind die unmittelbaren Eindrücke gelungen, die Kerouac bei den Wanderungen durch die Natur gewinnt. Seine Beschreibungen sind dabei so intensiv und bildreich ausgefallen, dass man sich als Leser an seiner Seite wähnt, das feuchte Gras unter den nackten Fußsohlen und das Knistern des Lagerfeuers zu spüren glaubt. Das ist nicht unbedingt große Literatur, aber doch ein authentisches Zeugnis der Sinnsuche, die Kerouac Zeit seines Lebens getrieben, aber eben nicht glücklich gemacht hat.  

Jack Kerouac – „Engel der Trübsal“

Donnerstag, 24. März 2022

(Rowohlt, 526 S., HC) 
Zusammen mit seinen Kommilitonen an der Columbia University in New York, Allen Ginsberg und William S. Burroughs, war Jack Kerouac (1922-1969) das Aushängeschild der Beat Generation und somit Aushängeschild der Popliteratur. Kerouacs zweiter, 1957 veröffentlichter Roman „On the Road“ wurde zur Bibel der Beatniks. Weit weniger populär wurden Kerouacs Nachfolgewerke, von denen der Rowohlt Verlag zum 100. Geburtstag des Ausnahme-Literaten eine Vielzahl neu bzw. in neuer Aufmachung/Übersetzung veröffentlicht, darunter erstmals in vollständiger deutscher und neuer Übersetzung den 1956 erschienenen autobiografischen Roman „Desolation Angels“
In „Engel der Trübsal“ (der zuvor in Teilen als „Engel, Kif und neue Länder“ veröffentlicht wurde) lässt Kerouac das Jahr vor der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Romans „On the Road“ Revue passieren.
In der Hoffnung, Gott oder Tathagata gegenübertreten und den Grund für die ganze Existenz herauszufinden, übernimmt Jack Duluoz für zwei Monate einen einsamen Job als Brandwächter hoch oben auf dem Desolation Peak in den Cascade Mountains an der Grenze zu Kanada, doch werden die Erwartungen des 34-jährigen Schriftstellers, dessen Roman „Road“ kurz vor der Veröffentlichung steht, schnell enttäuscht. 
Duluoz begegnet letztlich nur sich selbst, gelangweilt von der Einöde ohne Drogen und Alkohol, so dass er mehr als froh ist, am 8. August 1956 wieder den Weg zurück ins Tal antreten zu können. Zurück nach San Francisco bringt er nur die Erkenntnis, dass mit der Freiheits- und Ewigkeitsvision der Wildniseinsiedler kaum etwas in den Großstädten, wo jeder jeden bekriegt, anzufangen ist. Duluoz stürzt sich wieder in das wilde Partyleben in San Francisco, zieht mit seinen Freunden durch die Bars und Jazz-Clubs. Hin- und hergerissen zwischen dem absoluten Frieden, den er in den Bergen erlebte, und den einfachen Freuden des Großstadtlebens mit Sex, Shows und gutem Essen zieht es Duluoz wieder in die Welt, zunächst nach Mexico. 
In Mexico City, wo das Essen gut und die Unterkünfte billig sind, freundet er sich mit dem sechzigjährigen Junkie Bull Gaines an, später tauchen auch Jacks Freunde Cody Pomeray und Irwin Garden (mit dessen Lover Simon) auf, bis alles zu eng und wild wird. Duluoz zieht es zurück in die USA, über Memphis geht es nach New York, wo er mit seinen Freunden bei den Mädchen Ruth Erickson und Ruth Heaper abhängt, doch der vertraute Mix aus Partys, Alkoholexzessen und Sex nutzt sich auch hier schnell ab. Weiter geht’s – nach Tanger, Paris und London, stets finanziert von den monatlich ausgezahlten 100-Dollar-Vorschüssen für sein Buch „Road“. Am Ende unternimmt er noch mit seiner Mutter eine Reise nach Mexico … 
„Und genau wie in New York, Frisco oder sonst wo hocken sie alle im Marihuanadunst rum und reden, die coolen Mädchen mit den langen dünnen Beinen in lässigen Hosen, die Männer mit Kinnbärten, alles furchtbar und öde und damals (1957) noch nicht mal offiziell unter dem Namen ,Beat Generation‘ bekannt. Kaum zu glauben, dass ich damit so viel zu tun hatte, ja, gerade erst wurde das Manuskript von Road für die baldige Veröffentlichung gesetzt, und ich hatte schon die Schnauze voll von all dem. Nichts ist öder als ,Coolness‘ (nicht die von Irwin, Bull oder Simon, die ist natürliche Ruhe), gekünstelte, eigentlich insgeheim steife Coolness, die verschleiert, dass der jeweilige Mensch nichts Starkes oder Interessantes zu vermitteln hat, eine soziologische Coolness, die bald für eine Weile bis in die Mittelschichtsjugend hinein in Mode kommen wird.“ (S. 451) 
Obwohl „Engel der Trübsal“ die Zeit direkt vor der Veröffentlichung von „On the Road“ abdeckt, handelt es sich um den bereits zwölften, erst 1965 und damit vier Jahre vor seinem Tod veröffentlichten Roman von Jack Kerouac. Die desillusionierende Erfahrung, die der Ich-Erzähler auf dem Berg mit dem für ihn prophetischen Namen Desolation Peak macht, bildet nicht nur den Auftakt von Kerouacs/Duluoz‘ Reise durch die USA bis nach Mexiko, Nordafrika und Europa, sondern vermittelt gleichzeitig das Gefühl der Niedergeschlagenheit, das den Autor und sein Alter ego letztlich in die Alkoholsucht und in den Tod trieb. 
Vor allem die ersten Kapitel der Rückbetrachtung auf die einsame Zeit auf den Gipfeln der Berge stellt sich als wilde Improvisation dar, die dokumentiert, was Kerouac unter „spontaner Prosa“ verstand. Die rauschhaft wirkende, unzensierte und unmittelbare Verschriftlichung innerer und äußerer Erfahrungswelten macht sich bei „Engel in Trübsal“ in wilden, zusammenhanglosen Aufzählungen und Kettensätzen bemerkbar, die buddhistische Philosophie, literarische Anspielungen und überhaupt die ganze Weltgeschichte miteinander vereint. Die Handlung, also vor allem Kerouacs/Duluoz‘ Reisen, aber auch seine sexuellen Begegnungen, Gespräche und Erfahrungen bei Partys und Auftritten von Jazz-Musikern, gerät dabei fast in den Hintergrund, so sehr drängt sich die Niedergeschlagenheit des immer auf sich selbst beziehenden Schriftstellers in den Vordergrund. Das ist nicht immer leicht zu konsumieren, stellt aber ein beredtes Selbstzeugnis eines einzigartigen Schriftstellers dar, dessen Werk auch über „On the Road“ hinaus Beachtung verdient – wie diese gelungene Neu- und Gesamtübersetzung beweist. 

Paul Auster – „Mond über Manhattan“

Freitag, 21. Januar 2022

(Rowohlt, 384 S., HC) 
Im Herbst 1965 kommt der 18-jährige Student Marco Stanley Fogg nach New York, um an der Columbia Literaturwissenschaft zu studieren. Als er nach neuen Monaten das Studentenwohnheim verlassen kann und in der West 112th Street ein Apartment bezieht, sind es die von seinem Onkel Victor geerbten Bücherkisten, mit denen der junge Mann die Räumlichkeiten möbliert. Als dieser im Frühjahr 1967 unerwartet im Alter von 52 Jahren verstirbt, verliert Fogg nicht nur seine letzte familiäre Bindung – seine Mutter kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als Fogg elf war, einen Vater hat es nie gegeben, so dass sein Onkel zum Vater-Ersatz wurde - sondern auch den Halt in seinem Leben. 
Mit dem geerbten Geld kann Fogg sein Studium nicht zu Ende finanzieren, er leidet Hunger, verliert die Wohnung, deren Besonderheit vor allem darin besteht, dass mit der kleinen Aussicht auf den Broadway auch die Leuchtreklame eines chinesischen Restaurants zu sehen ist. Der „Moon Palace“-Schriftzug lässt Fogg an die Moon Men denken, an die Band seines Onkels, dessen Bücher er nach und nach verkauft, um von dem mickrigen Erlös Miete und Essen zu bezahlen. Als das nicht reicht und Fogg die Wohnung räumen und das Studium schmeißen muss, zieht Fogg als Obdachloser durch die Straßen, nächtigt im Central Park, hungert bis auf die Knochen ab, bis ihn die Zufallsbekanntschaft der 19-jährigen Kitty Wu vor dem sicheren Tod bewahrt. 
Sie besorgt ihm eine Bleibe bei seinem früheren Studienkollegen David Zimmer, wo er allmählich wieder zu Kräften kommt und schließlich eine Stelle als Vorleser beim exzentrischen, blinden und reichen 86-jährigen Thomas Effing bekommt. Dem alten, an den Rollstuhl gefesselten Mann liest er allerdings nicht nur vor, sondern er unternimmt auch Spaziergänge mit ihm und schreibt seine obskure Lebensgeschichte auf. Demnach hieß Effing früher Julian Barber, kam zufällig an viel Geld, als er an die Westküste reiste, und begann unter neuem Namen ein neues Leben. 
Als Effing stirbt, schreibt Fogg, der seinen Vornamen auf die Initialen M.S. verkürzt hat, wie vom alten Herrn gewünscht dessen Nachruf und beginnt, Effings Sohn Solomon Barber ausfindig zu machen. Als Barber nach einem Auslandsaufenthalt für ein langes Wochenende nach New York kommt, um mit Fogg über seinen Vater zu reden, findet der junge Mann heraus, dass seine Mutter eine der Studentinnen des Geschichtsprofessors war, der als Siebzehnjähriger einen biografisch gefärbten, nie veröffentlichten Roman über seinen Vater geschrieben hatte. Als sich Fogg mit dem Manuskripts auseinandersetzt, fügen sich die Puzzleteile seines Lebens allmählich zusammen, und er macht sich selbst auf eine abenteuerliche Reise in den Westen, um die Höhle zu suchen, die Effing in seiner Geschichte erwähnt hat … 
„Vielleicht war es die schiere Aussichtslosigkeit des Unternehmens, was bei mir den Ausschlag gab. Wenn ich auch nur die geringste Möglichkeit gesehen hätte, dass wir die Höhle finden könnten, würde ich mich wohl kaum auf die Suche eingelassen haben, aber die Vorstellung, auf eine sinnlose Suche auszuziehen, zu einer Reise aufzubrechen, die ein Fehlschlag werden musste, sagte meiner derzeitigen Sicht der Dinge zu. Wir würden suchen, aber wir würden nicht finden. Nur die Reise als solche war wichtig, und am Ende bliebe uns nichts als die Vergeblichkeit des Strebens.“ (S. 359) 
Von Beginn an in seiner schriftstellerischen Karriere hat sich bei Paul Auster Biografisches mit fiktionalen Geschichten vermischt. Neben den (auto-)biografischen Titeln „Die Erfindung der Einsamkeit“, „Das rote Notizbuch“, „Von der Hand in den Mund“ und „Die Geschichte meiner Schreibmaschine“ hat er auch in seinen frühen Romanen „Die New-York-Trilogie“ und „Im Land der letzten Dinge“ stets außergewöhnliche, wenn auch fiktionale Lebensgeschichten veröffentlicht, die bereits Austers Talent für die einfühlsame Beschreibung der Innen- und Außensicht seiner Figuren dokumentiert. 
Mit seinem 1989 veröffentlichten Roman „Moon Palace“, der im folgenden Jahr in deutscher Übersetzung von Werner Schmitz erschienen ist, schickt Auster seinen jungen Protagonisten Marco Stanley Fogg auf eine Sinnsuche von wortwörtlicher existentieller Bedeutung. Fogg, der sich aus großen Reisenden wie Marco Polo, Henry Morton Stanley und Phileas Fogg aus dem Roman „In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Verne zusammensetzt, muss seit seiner Kindheit lernen, ohne Eltern aufzuwachsen, findet in seinem Jazz-Klarinette spielenden Onkel einen passenden Vater-Ersatz und muss auf die harte Tour die Herausforderungen des Erwachsenwerdens meistern – das alles unter den Begleiterscheinungen der ersten Mondlandung und dem Vietnamkrieg. 
Doch bevor auch Fogg fremde Welten erkunden kann, landet er ganz tief unten, bis auf die Knochen abgemagert lernt er schließlich eine unermessliche Woge an Hilfsbereitschaft und Liebe kennen, lernt aber auch, die Welt mit anderen Augen zu sehen, als er gezwungen wird, für seinen blinden Arbeitgeber Mr. Effing ganz alltägliche Dinge zu beschreiben. Als er sich auf eine hoffnungslose Reise begibt, nachdem er auch seine Liebe verloren hat, fügen sich die Puzzleteile seines Lebens endlich zusammen. 
Auster erweist sich bei dieser abenteuerlichen Odyssee als bravouröser Stilist, der mit seinen bildhaften Beschreibungen den Leser in die Handlung mit hineinzieht. Erst als sich Auster mit den zunehmend abenteuerlichen Lebensläufen von Foggs Verwandten, Vorfahren und Weggefährten auseinandersetzt, schleichen sich auch Längen ein, doch findet „Mond über Manhattan“ einen versöhnlichen Abschluss. Der Roman zeigt auf vielfältige Weise auf, welch ungewöhnliche Geschichten doch hinter unscheinbar wirkenden Menschen stecken, wie Wahrnehmung und Einstellung das Schicksal eines Menschen beeinflussen können.