(Rowohlt, 748 S., HC)
Seit seinem 1999 veröffentlichten Debütroman „Ghostwritten. A Novel in Nine Parts“, der fünf Jahre später in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Chaos“ von Rowohlt erschien, hat sich der Brite David Mitchell mit ausladenden Romanen als einer der interessantesten zeitgenössischen Autoren von der Insel etabliert und durfte sogar eine Verfilmung seines Romans „Cloud Atlas“ durch Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern mit Tom Hanks, Hugh Grant und Halle Berry in den Hauptrollen feiern. Mit seinem 2020 veröffentlichten Roman „Utopia Avenue“ lässt Mitchell die Folk-Rock-Szene rund um den „Summer of Love“ anhand der titelgebenden, fiktiven Band auferstehen und lädt sein Publikum zu einer berauschenden Zeitreise und Begegnungen mit Stars wie David Bowie, Janis Joplin und Leonard Cohen ein.
Die Folk-Sängerin Elf Holloway hat noch kaum die Trennung von ihrem Freund Bruce Fletcher, mit dem sie das Duo Fletcher & Holloway bildete, verkraftet, da sich ihr in London bereits ein neues Betätigungsfeld auf. Der ehrgeizige Musikmanager Levon Frankland ist 1968 gerade zur rechten Stelle, um eine neue Band aufzubauen, zu der neben Elf auch der völlig abgebrannte, gerade von seiner Hauswirtin vor die Tür gesetzte Bluesbassist Dean Moss, der niederländische Gitarrenvirtuose Jasper de Zoet und der Jazzdrummer Griff Griffin zählen und die fortan unter dem Namen Utopia Avenue firmieren. Es folgt der obligatorische Marathon mit der Suche nach einem geeigneten Plattenlabel, der Auswahl der ersten, durch Würfeln bestimmten Singles und ermüdenden Tourneen durch die kleinen Clubs, bis ein Auftritt bei „Top of the Pops“ die Dinge langsam ins Rollen bringt: Nach einem Auftritt in Italien wird Dean am Flughafen von einem Polizisten ein Päckchen mit Drogen untergeschoben, Levon wegen Steuerhinterziehung verhaftet. Dieser Vorfall löst international heftige Proteste aus und macht Utopia Avenue auch in den USA populär, wo sie mit ihrem zweiten Album touren. Doch Jasper bekommt wieder psychotische Schübe, die die weitere Karriere der Band bedrohen…
„Der Auftritt im Ghepardo ist bizarr und peinlich. Bizarr, weil Jasper völlig passiv dabei zusieht, wie sein Ex-Körper fehlerfrei seine Gitarrenparts spielt. Peinlich, weil man, um das Publikum zu begeistern, nicht nur technisches Können braucht, sondern auch Feeling, und ohne Jasper ist Klopf-Klopf ein seelenloser Automat. Utopia Avenue müssen bei ihrem Amerika-Debüt deutlich mehr bieten. Elf, Dean und Griff denken bestimmt, dass Jasper sie im Stich lässt. Und fünf-, sechshundert New Yorker teilen denselben Eindruck: Jasper de Zoet hat keinen Bock. Es tut ihm weh, dass Utopia Avenue so glanzlos untergehen.“ (S. 618)
David Mitchell lädt mit „Utopia Avenue“ zu einer schillernd-bunten, psychedelisch angehauchten und musikalisch verrückten Zeitreise ein. Akribisch verbindet er die einzelnen Biografien der vier fiktiven Band-Mitglieder von Utopia Avenue zu mehr als nur einer Band-Biografie. Er beschreibt eindringlich, unter welch schwierigen Bedingungen Musiker ihren Lebensunterhalt verdienen, wie komplex sich das Schreiben und Arrangieren von Songs und das Aufrechterhalten der Bandchemie gestalten.
Vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges, einer wachsenden Protestkultur und Fragen des Feminismus entfaltet Mitchell eine atmosphärisch stimmige Gesellschaftsstudie, einen fesselnden Künstlerroman und einen berauschenden Drogen-Trip mit fatalen Folgen. Zwar tritt der episodenhafte Charakter von Mitchells früheren Romanen nicht ganz so deutlich hervor, doch springt der Autor immer wieder in der Zeit ein kleines Stück vor und zurück, um einzelne Zusammenhänge deutlicher zu machen. Vor allem fesselt die musikalische Qualität des Romans, den man am liebsten mit einer passenden Spotify-Playlist oder noch besser mit dem Soundtrack auf ausgesuchten Vinyl-Scheiben liest.