John Wray – „Unter Wölfen“

Sonntag, 2. Juni 2024

(Rowohlt, 480 S., HC) 
John Wray ist das Pseudonym des 1971 in Washington, D.C., geborenen John Henderson, und als Sohn einer Österreicherin ist er nicht nur zweisprachig aufgewachsen, sondern verbringt noch immer so viel Zeit im Kärtner Haus seiner Großeltern, dass er seinen 2021 veröffentlichten Erzählband „Madrigal“ sogar auf Deutsch geschrieben hat. Nun ist mit „Unter Wölfen“ sein neues Werk erschienen, das im weitesten Sinne einen Entwicklungsroman in der Death-Metal-Szene darstellt. 
Ende der 1980er Jahre fühlt sich Leslie „Z“ Vogler in dem Florida-Städtchen Venice wie ein prototypischer Außenseiter. Er ist nicht nur schwarz, sondern obendrein noch bisexuell und ein Fan von Hanoi Rocks. Als würde das noch nicht genügen, läuft er in Glam-Klamotten herum, als hätte er noch nicht mitbekommen, dass Glamrock out und Death Metal in sei. 
An der Venice High lernt er Christopher Chanticleer „Kip“ Norvald kennen, der wegen seiner desaströsen Familienverhältnisse in einer bewachten Wohnanlage bei seiner Oma Oona lebt und bei Leslies Vorspielen einer Hanoi-Rocks-Platte erstmals vom „Self Destruction Blues“ hört. Dieser Blues zieht sich fortan wie ein Leitfaden durch das Leben von Kip, Leslie und Kira Hetfield, der dritten Außenseiterin im Bunde. Kira lebt mit ihrem übergriffigen Vater in einem Trailer und kennt sich in der Death-Metal-Szene aus wie niemand sonst. Als sie den Alltagsmist mit psychischen und Schul-Problemen, mit homophoben wie sexuellen An- und Übergriffen nicht mehr ertragen, wollen die drei jungen Metal-Addicts nur noch weg, ab nach Los Angeles, in die Hauptstadt ihrer geliebten Musik, mit den coolsten Clubs und angesagtesten Bands. Doch der Aufenthalt dort entpuppt sich als weitere Sackgasse auf dem Weg zur absoluten Erkenntnis, der allumfassenden Wahrheit. 
Zwar macht sich Kip langsam einen Namen als Kolumnist für verschiedene Metal-Fanzines und -Magazine, doch muss er auf schmerzliche Weise erkennen, dass seine Schwärmerei für Kira wohl nicht erwidert wird. Als sie allerdings verschwindet und ihre Spur nach Skandinavien führt, machen sich Kip und Leslie auf die Suche nach ihr, bis sie auf einen mysteriösen Todeskult stoßen, der Schlimmes befürchten lässt… 
„Sie hatten so spektakulär versagt, sie alle drei. Die Distanz zwischen dem Leben, das sie sich in groteskem California Technicolor ausgemalt, und dem, das sie tatsächlich vorgefunden hatten, war so riesig wie das Land, durch das sie im Kthulhu gefahren waren. Aber der Grund für ihr Scheitern war nie Kalifornien gewesen, die Stadt Los Angeles oder der Strip in seiner ganzen Verdorbenheit. Sie selbst waren der Grund gewesen. Ihr Egoismus, ihre Unreife, ihre Schwäche. Sie waren Hinterwäldler aus dem mittleren Florida, daran würde sich nie etwas ändern.“ 
Man muss kein Metal-Fan sein, um John Wrays neuen Roman „Unter Wölfen“ lesen und auch genießen zu können, denn Death Metal dient hier letztlich nur als eine Möglichkeit von vielen, mit denen sich Jugendliche und junge Erwachsene aus der desillusionierenden Welt des Hochkapitalismus Ende der 1980er Jahre ausgeklinkt haben. Dass Wray selbst früher Musiker in einer Rockband gewesen ist, gestaltet den Zugang zu dieser Szene allerdings einfacher, denn der Autor versteht es auch für den Laien sehr gut, das herauszuarbeiten, was die Metal-Szene mit ihren verschiedenen Subgenres ausmacht, und er transportiert auch die Emotionen seiner drei Protagonisten so anschaulich, dass sie einem beim Lesen trotz ihrer vielleicht fremdartig anmutenden Geisteshaltung schnell ans Herz wachsen. 
Wray versteht es, die Verzweiflung, die innere Leere, die Suche nach einem tieferen Sinn im Leben dieser jungen Menschen nicht zuletzt durch seine bildliche Sprache und großartigen Dialoge einzufangen, die so einzigartig wie die Figuren sind, die sie sprechen. Wie tief dieser Self Destruction Blues einwirkt, wird den Beteiligten spätestens in den abgelegenen Gegenden in Skandinavien vor Augen geführt, als Kip die Bekanntschaft des geheimnisvollen Euronymous und einer sektenähnlichen Vereinigung macht. 
Mit dem skandinavischen Teil bewegt sich der Autor eher auf den Pfaden eines dämonischen Mystery-Thrillers und führt den in Venice und Los Angeles begonnen Weg seiner drei Hauptfiguren konsequent zu Ende. 
Einmal mehr beweist John Wray sein Gespür für die verschrobene, gekränkte Psyche ausgegrenzter Menschen und lässt bei aller brutaler Gewalt und Härte doch auch immer wieder zärtliche, gefühlvolle Momente zu.  

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