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Jens Henrik Jensen – (Oxen: 6) – „Pilgrim“

Donnerstag, 11. Januar 2024

(dtv, 512 S., Pb.) 
Der Däne Jens Henrik Jensen hatte bereits eine langjährige journalistische Karriere hinter sich, bevor er 1997 sein (hierzulande noch unveröffentlichten) Romandebüt veröffentlichte. Seinen internationalen Durchbruch feierte Jensen allerdings erst mit dem 2012 veröffentlichten ersten Band um den höchstdekorierten dänischen Kriegsveteran Niels Oxen, der 2018 unter dem Titel „Das erste Opfer“ auch in deutscher Übersetzung bei dtv erschien. Mittlerweile haben auch Jensens zuvor erschienenen Thriller-Reihen um Nina Portland („SØG“) und die Kazanski-Trilogie („East“) ihren Weg in den deutschen Sprachraum gefunden, aber das Herzstück von Jensens Schaffen bildet nach wie vor die Oxen-Reihe. Mit „Pilgrim“ erscheint der bereits sechste Band und damit die direkte Fortsetzung zum Vorgänger „Noctis“
Die wochenlange Gefangenschaft in den Katakomben eines Therapiezentrums für Kriegsveteranen hat bei Niels Oxen Spuren hinterlassen. Nicht nur, dass er bei der Polizeiaktion zu seiner Befreiung einen Schuss abbekommen hatte, setzt ihm noch zu, sondern auch der Umstand, dass er erstmal in seinem Leben gezwungen war, zu töten, um zu überleben, ganz zu schweigen von den Misshandlungen, die er über sich ergehen lassen musste. Oxen war eines der Opfer einer ebenso skandalösen wie ertragreichen Unternehmung, bei der steinreiche Gäste nicht nur jede Art von sexuellen Gelüsten befriedigt bekamen, sondern auch bei Käfigkämpfen zwischen gefangenen Männern auf den Mann setzen konnten, der seinen Kontrahenten tötete. 
Um Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen, begibt sich Oxen auf eine Pilgerreise und setzt schließlich alles daran, den Kontakt zu seinem fünfzehnjährigen Sohn Magnus zu vertiefen. Mit der Aufklärung der Heckenschützenmorde an den Veteranen befasst sich auch Margarethe Franck beim dänischen Geheimdienst PET, doch wird sie von Chiefinspektor Worre, dem Leiter der operativen Abteilung nach Rücksprache mit Salomonsen zurückgepfiffen, obwohl noch einer der Heckenschütze frei herumläuft und zwei weitere Beteiligte mit einer Löwen- und einer Mandrill-Maske ebenfalls auf freiem Fuß sind. 
Dass sich Franck damit nicht abfinden will, endet mit ihrer Suspendierung, aber ihr ehemaliger Chef, Axel Mossman, heuert sie für einen Spezialauftrag rund um eine Transaktion zwischen der dänischen Steuerbehörde und einem Kurier, der geleakte Daten aus einem Steuerparadies zum Verkauf anbietet. Als bei dem Treffen auf den Amerikanischen Jungferninseln Schüsse fallen, wird der Deal auf dänischen Boden verlegt. 
Mit von der Partie sind nicht nur Oxen, sondern auch die fähige Polizistin Sally Finnsen aus der Fahndungsabteilung der Polizei in Kopenhagen, die maßgeblich bei der Befreiung von Niels Oxen aus dem Keller des Therapiezentrums beteiligt war und dort auch ihren Bruder Nikolai verlor, der dort ermordet und dann in einem Massengrab verscharrt worden war. Es stellt sich bald heraus, dass die Affäre um die Steuerhinterziehung mit den Vorgängen im Therapiezentrum zusammenhängen. Unklar ist nur, welche Rollen die CIA und der undurchsichtig agierende Mossman dabei spielen… 
Jens Henrik Jensen ist mit dem sechsten „Oxen“-Band wieder ein äußerst spannender Thriller gelungen, der erst einmal die Ereignisse aus dem Vorgängerband „Noctis“ aufarbeitet und so auch den Leser:innen die Möglichkeit bietet, sich auch dann in die Geschichte einzufinden, die den fünften Band nicht gelesen haben. Doch mit Francks Suspendierung und Mossmans ungewöhnlichen Auftrag, die sichere Übergabe der sogenannten Precious Papers mit den geleakten Daten aus Panama zu gewährleisten, kommt auch die Action ins Spiel, wobei prominente Dänen alles daransetzen, ihre Namen aus den Unterlagen herausstreichen zu lassen. 
Das Katz-und-Maus-Spiel mit der CIA verläuft zwar in vorhersehbaren Bahnen, dafür bleibt Mossmans Rolle in dem Spiel lange Zeit undurchschaubar, was Franck, Oxen und Finnsen fast zur Verzweiflung treibt. Jensen schafft dabei zum Glück genügend Raum, um auch die emotionalen Befindlichkeiten seiner Protagonist:innen zu beleuchten und ihnen so jene Tiefe zu verleihen, dass sie die Empathie und Sympathie des Publikums ansprechen. So muss ein moderner Thriller gestrickt sein!  

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 4) „Lupus“

Sonntag, 15. März 2020

(dtv, 608 S., Pb.)
Nachdem der ehemalige, mit dem Tapferkeitsorden ausgezeichnete Elite-Soldat Niels Oxen zusammen dem ehemaligen PET-Geheimdienstchef Axel Mossman, dessen Neffen Christian Sonne und dessen Mitarbeiterin Margarethe Franck dabei half, den mächtigen Geheimbund Danehof zu zerschlagen, will sich Oxen zunächst um eine Annäherung zu seinem 14-jährigen Sohn Magnus kümmern, doch die gemeinsamen Besuche im Kopenhagener Zoo an den Wochenenden tragen nicht wirklich dazu bei. Auch seine regelmäßigen Termine bei einer Psychologin im Veteranenzentrum der Armee schaffen keine Abhilfe gegen Oxens Unwillen, Veranstaltungen mit größerem Menschenaufkommen zu besuchen, und andere Folgen seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Eines Tages kommt Mossman zu Besuch, der jetzt einer eigenen Kommission vorsitzt und bei der Durchforstung der Danehof-Archive auf weiteres Unheil gestoßen ist, das sich zwar erst als undeutlicher Schatten abzeichnet, aber der anglizistisch veranlagte Mossman würde seinen „black knight in shining armour“ gern nach Jütland schicken, um auf einem abgelegenen Bauernhof einige Voruntersuchungen anzustellen.
Er macht Oxen den Ausflug nach Harrildholm mit der Aussicht schmackhaft, dass er auf dem Weg dahin auch das Haus in Brande besuchen könnte, wo er einst bei der Fischzucht gearbeitet hatte, um mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit abschließen zu können. Trotz seiner Absicht, nicht mehr für Mossman arbeiten zu wollen, ist Oxen nicht abgeneigt, nach dem vermissten Poul Hansen in der Harrilder Heide zu suchen, zumal in der Gegend nach zweihundert Jahren wieder Wölfe gesichtet worden sind, die Oxen schon immer fasziniert haben. Sein Sohn, der er mitgenommen hat, wird bei der ersten Besichtigung des Hofes Zeuge, wie sein Vater einen Einbrecher ausschaltet, und wenig später überschlagen sich die Ereignisse, bei denen Mossman und Oxen einer Organisation namens Lupus auf die Spur kommen, die die Justiz immer dann selbst in die Hand nimmt, wenn die staatliche Rechtsprechung zu versagen scheint. Und die Hinweise führen auch zwölf Jahre zurück, als Margarethe Franck nach einem Banküberfall den vermeintlichen Fahrer des Fluchtwagens erschoss und dabei ihr Bein verlor …
„Dort draußen waren Schatten. Schatten, die Risiken eingingen. Lupus-Schatten, die bis in Mossmans Anfangsjahre zurückreichten, vage Spuren eines feuchtfröhlichen Sommerabends unter Polizisten, auf einem Gartenfest in Roskilde … Und Jahre später auf einer Geburtstagsfeier im Søpavillon. Schatten, deren Existenz nur durch einen kleinen Fetzen Papier in den Hinterlassenschaften eines ehemaligen PET-Chefs angedeutet wurde, auf dem ein Millionenbetrag notiert worden war.“ (S. 298) 
Jens Henrik Jensen hat viele Jahre lang als Journalist in seiner dänischen Heimat gearbeitet und 1997 seinen Debütroman „Wienerringen“ veröffentlicht, bevor er sich seit 2015 ganz auf das Schreiben von Büchern verlegte. Mit seiner zwischen 2012 und 2016 erschienenen Trilogie um den hochdekorierten Ex-Jäger-Soldaten Niels Oxen hat Jensen schließlich auch international die Bestseller-Listen gestürmt und verständlicherweise weiterhin Lust gehabt, die Geschichte um seinen interessanten Protagonisten weiterzuerzählen.
Auch wenn der mächtige Danehof durch das beherzte Zusammenwirken von Mossman, Franck, Oxen und Sonne demaskiert und zerstört werden konnte, sind die staatsfeindlichen Kräfte in Dänemark natürlich nicht ausgemerzt. Der „Lupus“-Fall vereint nicht nur die Faszination für die in die Harrilder Heide zurückgekehrten Wölfe mit der nach dem Canis Lupus benannten Organisation, sondern versucht zumindest ansatzweise die persönliche Entwicklung des traumatisierten Ex-Elitesoldaten zu charakterisieren. Allerdings belässt es Jensen hier bei unbefriedigenden Ansätzen und konzentriert sich schnell auf die zunehmend komplexer werdenden Ereignisse auf dem verlassenen, aber von Kameras überwachten Hof in Mitteljütland. Hier erweist sich einmal mehr die Stärke des Autors. Während seine Figuren zwar an sich interessant sind, aber kaum tiefergehend charakterisiert werden, versteht er es meisterhaft, verschiedene zunächst unabhängig voneinander beobachtete Ereignisse nach und nach miteinander zu vernetzen. Mossman bleibt dabei so undurchsichtig wie eh und je, wobei seine ständig eingeworfenen Anglizismen auch schon nerven. Am meisten gewinnt noch Margarethe Franck an Profil, wenn die Ereignisse rekapituliert werden, unter denen sie ihr Bein verlor.
Spannung generiert „Lupus“ aber vor allem aus den wieder bis in die höchsten Polizeidienststellen reichenden Verwicklungen, die in professionell ausgeführten Selbstjustiz-Aktionen münden. Jens Henrik Jensen versteht es dabei, gesellschaftspolitisch relevante Themen fundiert aufzuarbeiten – wobei ihm sein journalistischer Hintergrund sicherlich förderlich ist – und diese in packende Thriller-Unterhaltung zu verpacken. An der Konturierung und Entwicklung seiner Figuren sollte Jensen aber noch arbeiten.
Leseprobe Jens Henrik Jensen "Lupus"

R. R. Sul – „Das Erbe“

Dienstag, 29. Oktober 2019

(dtv, 222 S., HC)
Bis zu seinem siebten Lebensjahr musste Wolf tagsüber im Haus bleiben, litt er doch – so sein Arzt – unter der Mondscheinkrankheit. Also schlief Wolf tagsüber und ging erst nachts auf den Spielplatz, wenn die anderen Kinder schliefen. Dann tritt mit Bob ein neuer Mann in das Leben seiner wahnhaften Mutter und verändert Wolfs Leben von Grund auf. Er schenkt ihm einen Motorradhelm, so dass er sich auch tagsüber gefahrlos im Freien bewegen kann, und geht mit dem Jungen erneut zu einem Arzt, der ihm attestiert, ganz normal zu sein. Wolfs unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidende Mutter verkraftet die Neuigkeit nicht, lebt sich mit Bob auseinander und bringt sich in einer Klinik schließlich mit Tabletten um.
Die vielen Jahre, in denen Wolf nur mit seiner Mutter zusammenlebte und nur nachts auf den Spielplatz durfte, haben aber ihre tiefe Spuren in seiner Persönlichkeit hinterlassen. Er zieht zu seinem Großvater nach Hannover, erbt nach dessen Tod nicht nur dessen Wohnung und eine Hütte in den österreichischen Bergen, sondern auch – zusammen mit dem Erbe seiner Mutter - über eine halbe Million Mark. Finanziell abgesichert, igelt sich Wolf zuhause völlig ein, entdeckt die Welt durch seine Puzzle, mit denen er die Wände dekoriert. Der Höhepunkt des Tages ist die Essenslieferung, doch die von ihm verehrte Botin kommt nicht wieder, nachdem er ihr eines Tages nur in Unterhose bekleidet die Tür öffnete, mit dem Papagei auf der Schulter und obszön geschminktem Mund. Doch nach und nach tritt Wolf aus seiner selbstgewählten Isolation heraus, nimmt einen Job als Türsteher ein, trifft dort seine Jugendfreundin Lina wieder und erlebt seine erste Liebesbeziehung .
 „Lina gehörte zu mir, seitdem sie zum ersten Mal in die Erdatmosphäre eingetreten war. Was nichts daran änderte, dass wir unterschiedliche Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben hatten. Ich wollte nicht mit ihr in einem Draußen leben, mit all den anderen. Dazu war ich nicht fähig. Auch nicht ihr zuliebe. Ich fand, dass ich dann nicht mehr echt wäre, für sie. Ich wollte bei mir bleiben. Mit ihr. Das war mir Welt genug.“ (S. 35f.) 
Lina hat das seltsame Leben mit Wolf allerdings nach acht Jahren satt. Stattdessen tritt sein Stiefbruder Freddy plötzlich in sein Leben, der anfangs ebenso wortkarg kommuniziert wie Wolf früher. Als sie gemeinsam erstmals die geerbte Berghütte in Österreich besuchen, kommen sie sich zwar etwas näher, doch Freddy verhält sich immer seltsamer und kehrt immer dann in Wolfs Leben zurück, wenn er es am wenigsten erwartet. Als Wolf allerdings selbst Vater wird, beginnt er das Leben mit anderen Augen zu sehen …
Unter dem exotisch anmutenden Pseudonym R. R. Sul ist mit „Das Erbe“ ein schlicht wie elegant gestalteter Roman bei dtv erschienen, in dem der unter außergewöhnlichen Umständen aufgewachsene Protagonist Wolf als Ich-Erzähler in oft stark verkürzten Sätzen (ohne Verb) sein Leben reflektiert. Dabei wird schon in der Reflexion seiner Kindheit deutlich, wie die Krankheit seiner überängstlichen Mutter die Saat seiner weithin selbstgewählten Isolation bestimmt. Dass sich der finanziell unabhängige Wolf dann doch auf einzelne Menschen einlässt und sogar geliebt wird, zählt zu den bemerkenswertesten Entwicklungen, die Wolf durchmacht.
Der Leser wird schließlich Zeuge, wie die Liebesbeziehungen scheitern, wie daraus aber mit Karl und Augustin Kinder gedeihen, die Wolf im Leben verwurzeln, ihn in Beziehung zu seiner Familie bringen, in der nichts so lief, wie es sein sollte. Wie der Autor vor allem seinen Protagonisten zum Leben erweckt, wie er ihm in dessen eigenen Beschreibungen ein starkes psychologisches Profil verleiht und durch seine Beobachtungen auch seine Mitmenschen charakterisiert, zählt zu den besonderen Stärken des Romans, der sich auf ebenso amüsante wie düster-bedrohliche Weise mit der Herausforderung auseinandersetzt, in einer dysfunktionalen Familie aufzuwachsen und sich selbst von der kranken Umgebung zu emanzipieren und sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
Die oft abrupt eintretenden Veränderungen in Wolfs Leben und die präzise, manchmal abgehackt kurze Sprache sorgen für ein atemloses Lesevergnügen eines ganz und gar ungewöhnlichen Buches.
Leseprobe R. R. Sul "Das Erbe"

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck: 8) „Opfer 2117“

Samstag, 26. Oktober 2019

(dtv, 588 S., HC)
Der 32-jährige spanische Journalist Joan Aiguader hadert mit seinem Schicksal. Er ist nicht nur total abgebrannt und kann nicht mal die zwei Euro für den Kaffee bezahlen, den er an der Promenade am Strand von Barcelona bestellt hat, sondern hat vier weitere Absagen für seine Kurzgeschichten zu verkraften. Doch dann entdeckt er ein Fernsehteam am Strand, das auf die „Tafel der Schande“ und die darauf gezählten Flüchtlinge hinweist, die seit Jahresbeginn im Mittelmeer ertrunken sind, und eine Reportage über einen Mann bringt, dessen Leiche erst vor wenigen Stunden am Badestrand Ayia Napa auf Zypern angeschwemmt wurde. Der eben noch völlig niedergeschlagene Joan spürt auf einmal seinen journalistischen Instinkt, „borgt“ sich das Geld für die Flüge nach Zypern und zurück und will mit der Reportage über den ertrunkenen Mann die Welt aufrütteln. Vor Ort wird Joan jedoch Zeuge einer weiteren Welle von angeschwemmten Leichen, darunter die einer alten Frau, die Joans Aufmerksamkeit fesselt. Tatsächlich scheint sich sein Blatt zum Guten zu wenden, als er mit seiner Story und dem Foto der alten Frau die Titelseite bei Hores del dia schmückt. Doch wie sich herausstellt, ist die alte Frau, die als „Opfer 2117“ bekannt geworden ist, nicht ertrunken, sondern wurde ermordet, während der zuvor in der spanischen Fernsehreportage erwähnte tote Mann als Anführer einer Terrorzelle identifiziert worden ist.
Während Joan damit beauftragt wird, die ganze Geschichte hinter dieser Tragödie zu erzählen, identifiziert Assad die alte Frau auf dem Foto als Lely Kababi, jene Frau, bei der seine Familie damals in Syrien Zuflucht fand, als sie aus dem Irak geflohen waren. Bei der Sichtung des weiteren Fotomaterials zu dem Fall, das ihm seine alte Arbeitskollegin Rose aus anderen Zeitungen zur Verfügung stellt, entdeckt Assad nicht nur seine Frau Marwa und eine seiner Töchter, sondern bekommt es mit seinem größten Widersacher Ghaalib zu tun, der nicht nur die beiden Frauen in seiner Gewalt hat, die Assad alles bedeuten, sondern einen gewaltigen Terroranschlag in Deutschland plant. Carl Mørck, Assads Chef beim Kopenhagener Sonderdezernat Q, das sich sonst nur mit alten ungelösten Fällen befasst, begleitet Assad auf dem Weg nach Frankfurt, während die wieder zurückgekehrte Rose mit ihrem Kollegen Gordon einem 22-jährigen Jungen namens Alexander nachjagt, der das Schicksal von Opfer 2117 zum Anlass nimmt, mit seinem Samuraischwert loszuziehen, um wahllos Menschen zu töten, sobald er bei dem Computer-Spiel „Kill Sublime“ Level 2117 erreicht hat. Währenddessen folgen Carl, Assad und der Verfassungsschutz den Terroristen nach Berlin …
„Assad atmete tief durch: Vielleicht begriffen sie jetzt endlich, wogegen sie antraten: Ghaalib war das personifizierte Böse. Nichts weniger als das. Lange starrte er auf den Zettel. Er habe nicht viel Zeit, stand da. Nicht viel Zeit! Und Berlin war so unendlich groß!“ (S. 400) 
Seit seinem 1997 veröffentlichten Debütroman, der in Deutschland unter dem Titel „Das Alphabethaus“ erschienen ist, wurde der aus Kopenhagen stammende Jussi Adler-Olsen vor allem durch seine 2007 initiierte Reihe um Carl Mørck und das Kopenhagener Sonderdezernat Q zum internationalen Bestseller-Autor. Mit „Opfer 2117“ präsentiert Adler-Olsen nicht nur den bereits achten Teil der Reihe, die auch kontinuierlich für das Kino adaptiert wird, sondern auch einen ungewöhnlich aktuellen Fall, der vor allem die bisher so geheimnisvolle Geschichte von Assad endlich lüftet – wenn auch auf extrem dramatische Weise.
Geschickt verleiht der Autor der Tragödie der andauernden Flüchtlingskatastrophe über die bloße Anhäufung von Opferzahlen hinaus ein individuelles Gesicht und verbindet sie mit der Familiengeschichte von Assad – und stellt diese auch noch in den ebenso aktuellen Kontext des Terrorismus. Als würde dies für eine packende, vielschichtige Story noch nicht reichen, fahnden die in Kopenhagen gebliebenen Q-Mitarbeiter Rose und Gordon nach einem psychisch labilen jungen Mann, der seine Wut gegen die Gleichgültigkeit in der Welt mit seinem Samuraischwert Ausdruck verleihen will. Das ist selbst bei knapp 600 Seiten, die der Autor mit seiner Geschichte füllt, ein anspruchsvolles Unterfangen, das ihm zum größten Teil bravourös gelingt.
Indem er ständig die Perspektiven zwischen Carl, Assad, Joan, Alexander, Ghaalib, gelegentlich auch Rose und Gordon wechselt, hält er das Tempo hoch. Dazu sorgen die ersten Terrorzwischenfälle in Frankfurt für Spannung, zu der auch Assads Erinnerungen an seine erste Begegnung mit Ghaalib und dessen Vorbereitungen zu seiner finalen Konfrontation mit seinem Erzfeind ihren Anteil beitragen. Für die emotionale Komponente sorgen nicht nur die traurigen Schicksale der toten Flüchtlinge, sondern vor allem Assads Sorge um das Schicksal der – zählt man die tot aufgefundene Lely dazu – vier wichtigsten Frauen in seinem Leben und Carls Beziehung zu Mona, die mit 51 Jahren noch ein Kind von Carl erwartet.
Bei so vielen Themen bleibt zwangsläufig die Tiefe auf der Strecke. Vor allem der Nebenplot mit Alexander wirkt dabei nicht glaubwürdig und trägt leider auch zum ärgerlich konstruierten Happy End bei. Adler-Olsen hätte gut auf diesen Handlungsstrang verzichten können und so der im Fokus stehenden Geschichte um Opfer 2117 und der Vereitelung von Ghaalibs Terrorplänen mehr Aufmerksamkeit widmen können. So wirken die Sprünge zwischen den Protagonisten, Zeiten und Orten doch sehr gehetzt und oberflächlich. Von diesem Manko abgesehen, bietet „Opfer 2117“ aber rasant erzählte, actionreiche Spannung mit brisant aktuellen, sehr persönlich gestalteten Themen und nach wie vor sympathisch gezeichneten Figuren, unter denen hier vor allem Assad endlich deutliche Konturen gewinnt.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen "Opfer 2117"

Sorj Chalandon – „Am Tag davor“

Freitag, 19. April 2019

(dtv, 320 S., HC)
Während sein Vater als Bauer den Lebensunterhalt für die Familie besorgt, heuert Michels älterer Bruder Joseph „Jojo“ Flavent im Alter von zwanzig Jahren als Bergmann in der Zeche von Liévin-Lens an. Er bekommt eine eigene kleine Wohnung, die ihm die Zeche fast umsonst vermietet, und hat mit Sylwia schon seine zukünftige Frau gefunden. Doch das junge Familienglück währt nur sieben Jahre. Am 27. Dezember 1974 kommt es in Schacht 3b zum großen Unglück. 42 Bergarbeiter kommen nach einer Explosion, die auf Sparmaßnahmen und Nachlässigkeit bei den Sicherheitsvorkehrungen zurückzuführen ist, ums Leben. Auch Joseph wird schwerverletzt in das Krankenhaus von Bully-les-Mines gebracht, wo er allerdings am 22. Januar 1975 stirbt, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Doch bei all den nachfolgenden Zeremonien und Gedenkfeiern wird immer nur von den 42 Bergarbeitern gesprochen, die am Tag des Unglücks den Schacht bereits tot aus den Trümmern geborgen wurden. Das Gericht befindet, dass der Bergwerksgesellschaft keine grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen sei, der Betriebschef wird allerdings zu 10000 Franc Geldstrafe verurteilt.
Der damals 16-jährige Michel versucht das Andenken seines Bruders zu bewahren, fängt in der Werkstatt, in der bereits Jojo seine Lehre absolviert hat, eine Ausbildung zum Automechaniker an, wird LKW-Fahrer und heiratet mit Cécile eine Frau, die er an den Krebs verliert. Seine Mutter findet ihren Mann eines Morgens aufgehängt in seinem Stall, in seinem letzten Brief heißt es: „Michel, räche uns an der Zeche.“
Tatsächlich sammelt Michel über Jahre alle Informationen zu dem Unglück, Presseberichte zu den Prozessen, und hat nach Jahren einen Schuldigen ausgemacht: den Vorarbeiter Lucien Dravelle. Unter falschem Namen erschleicht er sich über vierzig Jahre nach dem Tod seines Bruder das Vertrauen des mittlerweile gebrechlichen und von der Arbeit in der Zeche stark gezeichneten Mannes und beginnt, seinen Racheplan in die Tat umzusetzen. Doch nicht nur bei den Gesprächen mit dem schuldbewussten Dravelle kommen auch Dinge ans Licht, die Michel jahrelang verdrängt hat …
„Ungeachtet aller Bekundungen und Versprechungen endete das Martyrium unseres Volks an den Grenzen des Artois. Das Land teilte unsere Trauer nicht. Als es von der Kohle Abschied nahm, vergaß es, Abschied von seinen Bergleuten zu nehmen. Die Welt, die sie verkörperten, gab es nicht mehr. Jojo und seine Freunde waren zu spät gestorben, um noch von der Nation verteidigt zu werden.“ (S. 107) 
Der bekannte französische Journalist und Schriftsteller Sorj Chalandon hat sich auch mit seinen in Deutschland erschienenen Romanen ganz unterschiedliche Sujets verarbeitet. Mit „Mein fremder Vater“ arbeitet er den Tod seines tyrannischen Vaters auf, „Rückkehr nach Killybegs“ präsentiert sich als Biografie eines zum Spion des britischen Geheimdienst konvertierten IRA-Kämpfers, „Die vierte Wand“ ist im Bürgerkrieg in Beirut angesiedelt, und „Die Legende unserer Väter“ spielt geschickt mit den Motiven des Erzählens.
Chalandons neuer Roman erweist sich als komplexes Konstrukt von Erinnerungen, Schuld und Sühne, Vergessen, (Selbst-)Täuschung und Verzeihen. Indem er Michel Flavent als Ich-Erzähler die Ereignisse aus einer anfänglich großen Distanz von über vierzig Jahren rekapitulieren lässt, entsteht zunächst eine eindringliche Milieustudie des Bergarbeiterlebens in den 1970er Jahren, zeigt auf, unter welchen körperlichen und psychischen Belastungen die Bergleute ihrer Arbeit nachgehen, welche unauslöschlichen Spuren der Kohlestaub bei den Kumpels hinterlässt, wie unverantwortlich die Direktion mit dem Leben ihrer Arbeiter umgeht, um das Letzte aus den Schächten herauszuholen. Aber „Am Tag davor“ handelt auch von einer ganz persönlichen Geschichte, davon, wie ein tragisches Ereignis die Erinnerungen prägen und verfälschen kann. Erst als Michel sich selbst in einem Prozess wiederfindet, entwirrt der Autor geschickt das Konstrukt, das sich Michel sein Leben lang aufgebaut hat und auf die Nacht vor dem Unglück zurückgeführt wird, als Michel mit seinem geliebten Bruder auf dessen Moped durch die Straßen seiner Heimatstadt rast.
So gelingt Chalandon nicht nur ein stimmiges Portrait des Lebens als Bergarbeiter, sondern auch ein meisterhaft erzählte Geschichte über die Macht der Einbildung und Verdrängung, über Schuld und Vergebung.

Tom Perrotta – „Mrs. Fletcher“

Donnerstag, 18. April 2019

(dtv, 416 S., HC)
Einst lebte Eve Fletcher das ganz normale amerikanische Leben einer Mittelschichtsfrau, mit einem verantwortungsvollen Job, Ehemann und einem heranwachsenden Sohn, und auf einmal ist sie ganz auf sich allein gestellt. Ihr Ehemann Ted hat sie ganz klassisch wegen einer Jüngeren verlassen und zieht mit ihr ganz liebevoll seinen autistischen Sohn Jon-Jon auf. Ihren volljährigen Sohn Brendan hat die nun 46-Jährige gerade zum Studienbeginn im Wohnheim seines Colleges abgeliefert, nachdem sie vor der Abfahrt noch mitbekam, wie er seine Freundin Becca beim Abschied auf seinem Zimmer mit einem abschätzigen „Lutsch ihn mir, Schlampe“ anfeuerte. Um sich nicht allzu einsam zu fühlen, geht sie nicht nur in ihrem Job als geschäftsführende Direktorin eines Seniorenzentrums in Haddington nach, das den älteren Bewohnern der Stadt eine ganze Reihe von Dienstleistungen anbietet, sondern hat sich am Eastern Community College für den Kurs „Gender und Gesellschaft: Ein kritischer Überblick“ angemeldet, nachdem die beiden von ihr eigentlich favorisierten Kurse schon belegt waren.
Dr. Margo Fairchild, die den Kurs leitet, ist als Mann geboren worden und will die Kursteilnehmer durch das ideologische Minenfeld der Gender-Thematik führen. Für Eve entwickelt sich aus dem Kurs eine ganz persönliche Entdeckungsreise, denn auf einmal stellt sie ihre eigenen sexuellen Vorlieben auf den Prüfstand, klickt sich kontinuierlich auf milfateria.com durch Pornos und lässt sich schließlich auf eine Einladung ihrer Assistentin Amanda ein, der sie bislang jedes Angebot auf einen gemeinsamen Drink ausschlug. Allerdings endet der Abend mit einer großen Irritation und Enttäuschung. Doch auch die Aussicht auf ein Date mit dem Barmann frustriert Eve …
„Sie konnte mit ihm ins Bett gehen, sich sogar in ihn verlieben, aber wohin würde sie das führen? Nirgendwohin, wo sie nicht schon zuvor gewesen war, das stand schon mal fest. Und sie wollte etwas anderes – etwas Neuartiges -, auch wenn sich dieses Etwas erst noch zeigen musste. Alles, was sie bereits wusste, war, dass es da draußen eine sehr viel größere Welt gab und sie bisher lediglich an der Oberfläche gekratzt hatte.“ (S. 133) 
Seit seinem Debütroman „The Wishbones“ (1997) hat der amerikanische Schriftsteller und Autor Tom Perrotta so einige Romanvorlagen für Filme und Fernsehserien vorgelegt, so zu Alexander Paynes „The Election“, Todd Fields „Little Children“ und zur HBO-Serie „The Leftovers“. Nun legt er mit „Mrs. Fletcher“ einen weiteren Roman vor, der thematisch etwas an die erfolgreiche Amazon-Serien-Produktion „Transparent“ angelehnt ist und so einmal mehr die Diskussion um geschlechtliche Identitäten und sexuelle Präferenzen aufgreift.
Dabei ist „Mrs. Fletcher“ weder besonders akademisch, noch erotisch aufgeladen. Stattdessen wird auf ebenso einfühlsame wie leichtfüßige Weise der schwierige Weg einer MILF (Mom I'd Like to Fuck) zu einem Ausweg aus ihrer schon Jahre andauernden sexuellen Einöde beschrieben. Allerdings wird die Perspektive auch um Eves erweitertes persönliches Umfeld ergänzt, wobei nur die flüchtigen Eroberungsstrategien ihres Sohnes Brendan in der Ich-Perspektive an den Leser herangetragen, die Gedanken und Gefühle von Eve, ihrer Assistentin Amanda und Brendans Love Interest am College, Amber, aber in der distanzierteren dritten Person wiedergegeben werden.
So manches hier geschilderte Ereignis wirkt schon auf die bereits angekündigte TV-Serien-Adaption zugeschnitten und etwas überzeichnet, aber dem Autor gelingt der fragile Drahtseilakt, die Probleme einer befriedigenden sexuellen Ausrichtung eines Menschen anhand verschiedener Persönlichkeiten aufzuzeigen, ohne sich des pornografischen Voyeurismus zu bedienen. Auch wenn das Transgender-Thema zunächst in den Fokus gerückt wird, steht vor allem ganz allgemein die Frage nach der eigenen Sexualität, aber auch die Erwartungshaltung an den möglichen Partner im Vordergrund, wobei gerade bei den Jüngeren in dieser Geschichte die Frage des Respekts mitspielt.
Obwohl Perrotta das Thema etwas tiefsinniger hätte bearbeiten können, ist ihm ein flüssig zu lesender, immer wieder humorvoller Roman gelungen, der über die Vielzahl der merkwürdigsten (sexuellen) Begegnungen zumindest anzudeuten versucht, welche Stolpersteine einem Erwachsenen bei der Entdeckung der eigenen Sexualität im Weg liegen können und wie die Gesellschaft auf vermeintlich abnormes Verhalten in dieser Hinsicht noch immer reagiert.
Leseprobe Tom Perrotta - "Mrs. Fletcher"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 3) „Gefrorene Flammen“

Dienstag, 23. Oktober 2018

(dtv, 592 S., Pb.)
Nachdem er sich von dem versuchten Attentat auf ihn bei einer Ärztin auf den Schären erholt hat, sinnt der ehemalige Elite-Soldat Niels Oxen auf Rache, denn er will nicht weiter auf der Flucht vor seinen Verfolgern sein, die der mächtige Danehof auf ihn angesetzt haben, will von den Verleumdungen freigesprochen werden und vor allem seinen Sohn Magnus wieder in die Arme schließen können. Doch dazu ist er auf Hilfe angewiesen.
Als er Margrethe Franck aufsucht, die ihm als Mitarbeiterin des dänischen Geheimdienstes PET im Kampf gegen den Danehof zur Seite stand, erfährt er allerdings, dass sie nicht mehr beim PET angestellt ist, sondern schlecht bezahlten Jobs bei einer Reinigungsfirma und als Kassiererin bei Netto nachgeht. Offenbar haben die weitreichenden Beziehungen des Danehof dafür gesorgt, dass die ehemalige Agentin keinen vernünftigen Job mehr bekommt.
Ähnlich ergeht es dem ehemaligen Polizisten Christian Sonne, Neffe des ehemaligen PET-Chefs Axel Mossman, der offiziell aus Gesundheitsgründen frühzeitig in Rente gehen musste. Doch im Keller seines Hauses arbeitet Mossman weiterhin akribisch an der Aufdeckung der kriminellen Verschwörung, die hinter dem Danehof steckt. Doch dafür muss er erst einmal die Schlüsselfiguren identifizieren, die aus den wichtigsten Vertretern der dänischen Wirtschaft und Politik stammen. Während Oxen die Leiter von Danehof Süd und Nord, Villum Grund-Löwenberg und Kajsa Corfitzen, abhören lässt, die offenbar daran arbeiten, dem von Danehof Ost geführten Unternehmen neue Strukturen zu verleihen, geht Franck einer Spur in Spanien nach, die sich dank Francks längst nicht eingerosteter Ermittler-Fähigkeiten als sehr ergiebig erweist. Doch bis alle losen Enden zusammengeführt werden können, muss auch die dänische Justizministerin Helene Kiss Hassing ins Boot geholt werden …
„Es war wie ein Hürdenlauf. An Hindernisse waren sie gewöhnt. Doch jetzt kam es ihnen vor, als wären sie mitten im Sprung eingefroren, in der Bewegung erstarrt. So hingen sie jetzt in der Luft. Sie waren nicht gescheitert. Aber sie hatten die Hürde nicht genommen. Der Film stand ganz einfach still.
Keiner wusste, wie sie jetzt weiter vorgehen sollten. Die Handlungen und Motive deuteten in unterschiedliche Richtungen.“ (S. 468) 
Obwohl der langjährige dänische Journalist Jens Henrik Jensen bereits 1997 seinen Debütroman und seither eine Vielzahl weiterer Spannungsromane veröffentlicht hat, ist er hierzulande erst durch die in den Jahren 2012 bis 2016 entstandene Oxen-Trilogie bekannt geworden, deren letzten Band der nun mit „Gefrorene Flammen“ vorliegt. Während sich die ersten beiden Bänden vor allem um den von seinen Kriegserlebnissen traumatisierten Elite-Soldaten Niels Oxen gedreht haben, der per Zufall in ein Mordkomplott verwickelt wird und deshalb von der Bildfläche verschwinden muss, hat sich im dritten Band der Fokus auf den ehemaligen PET-Chef Axel Mossman verschoben, der die Operation zur Aufdeckung der Danehof-Machenschaften anführt und dabei seinen Mitstreitern Oxen, Franck und Sonne auch mal die eine oder andere Information vorenthält.
Jensen lässt auf den ersten Seiten noch einmal die wesentlichen Ereignisse Revue passieren, die Oxen überhaupt auf die Spur des Danehofs gebracht haben, aber auch im weiteren Verlauf des Romans werden immer wieder wichtige Informationen über die Geschichte des mächtigen Netzwerks und seiner meist geschickt getarnten Verbrechen eingestreut. Minutiös beschreibt Jensen die einzelnen Operationen, mit denen Mossman seine Team-Kollegen betraut, der Autor gibt sich aber auch viel Mühe mit der Charakterisierung seiner charismatischen Figuren, die jeweils eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht haben.
Während Oxen bereits zu Beginn des ersten Bandes („Das erste Opfer“) als gestrauchelter Kriegsheld eingeführt worden war, der vor allem seinem Hund Mr. White verbunden ist, verfügten Mossman und Franck noch über eine erfolgreiche berufliche Karriere beim Geheimdienst, Sonne bei der Polizei. Am Ende des zweiten Bandes („Der dunkle Mann“) konnte Oxen gerade so einem Attentat entkommen, während Mossman, Franck und Sonne Abschied von ihren Jobs nehmen mussten. Wie sich dieses Quartett im nun vorliegenden Band zusammenrauft und voller Tatendrang gegen den Danehof ermittelt, um auch den eigenen Ruf wieder herstellen zu können, zählt zu den großen Stärken von „Gefrorene Flammen“.
In leicht verständlicher Sprache thematisiert Jensen die Gier nach Macht und die kriminellen Energien, mit denen diese gewonnen und verteidigt wird. Aber die Trilogie ist auch ein Plädoyer für Loyalität, Mut und dem unbändigen Willen, für die gerechte Sache zu kämpfen. Für diesen Kampf hat Jensen mit Niels Oxen, Axel Mossman und Margrethe Franck drei außergewöhnliche Charaktere geschaffen, die uns sicher auch nach Abschluss dieser Trilogie noch begleiten werden, denn Jensen ist Oxen so sehr ans Herz gewachsen, dass er bereits einen vierten Band in Aussicht gestellt hat.
Leseprobe Jens Henrik Jensen - "Oxen: Gefrorene Flammen"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 2) „Oxen - Der dunkle Mann“

Montag, 19. März 2018

(dtv, 509 S., Pb.)
Niels Oxen darf sich als einziger dänischer Elite-Soldat damit rühmen, nicht nur diverse Tapferkeitsmedaillen, sondern auch das Tapferkeitskreuz erworben zu haben, bevor er am 01.01.2010 aus der Armee ausgeschieden ist. Seither leidet Oxen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und versucht, den Rest seines Lebens möglichst unbemerkt zu verbringen. Als allerdings sein Hund ermordet wurde, führte ihn die Suche nach dem Täter zum Schloss Nyborg, wo seit dem Mittelalter der einflussreiche Danehof die Geschicke des Landes leitete.
Im Zusammenhang mit den Ermittlungen im Mord an dem einflussreichen Vorsitzenden eines dänischen Thinktanks stieß er mit Margrethe Franck, Agentin des dänischen Geheimdienstes PET, auf die Tatsache, dass der allseits beliebte dänische Justizminister Ulrik Rosborg doch nicht der liebende Familienvater und Saubermann ist, für den ihn alle halten, sondern dabei gefilmt worden ist, wie er ein litauisches Mädchen bei Sex erwürgt.
Oxen hat sich anschließend in eine jütländische Waldhütte zurückgezogen, wo er dem alten Johannes bei der Fischzucht und Waldarbeit aushilft. Als der Museumsdirektor Malte Bulbjerg durch Schüsse in die Stirn und ein Auge getötet im Schloss aufgefunden wird, erwacht bei PET-Chef Axel Mossman erneut das Interesse an Oxen, doch so sehr Margrethe Franck noch einmal Oxens persönliches Umfeld durchleuchtet, bleibt der introvertierte Ex-Elitesoldat wie vom Erdboden verschluckt.
Währenddessen versucht der stellvertretende Polizeidirektor und Leiter des Morddezernats, H. P. Andersen, den Mord an Bulbjerg aufzuklären, der in letzter Zeit wohl immer mehr dem Glücksspiel verfallen war und bei dessen Leiche ein Tütchen Kokain gefunden wurde. Leider sickern interne Erkenntnisse an die Medien, außerdem bieten die verdeckt agierenden, vom elitären Danehof-Zirkel engagierten Söldner 30.000 Kronen für sachdienliche Hinweise. Schließlich gelingt es Franck und dann auch Mossman, Oxen doch noch aufzufinden, aber da der Danehof plant, Rosborg zu eliminieren, droht Oxens Überlebens-Police mit dem kompromittierenden Video wertlos zu werden. Oxen muss sich entscheiden, ob er nicht nur Franck, sondern auch Mossman vertrauen kann, um dem Danehof endgültig das Handwerk zu legen.
„Das Material bot einen kleinen Einblick in ein einzigartiges Machtgefüge, das die Jahrhunderte überdauert hatte. Es hatte manchmal Unterbrechungen gegeben, und die Struktur hatte sich verändert. Aber der Danehof war immer noch da und bedeutete eine latente Gefahr für jeden, der ihm in die Quere kam. Der Danehof war ein schlummernder Virus, intakt und nach all den Jahren immer noch tödlich.“ (S. 196f.) 
Mit dem hochdekorierten, aber traumatisierten und zurückgezogen lebenden Ex-Elitesoldaten Niels Oxen hat der dänische Schriftsteller Jens Henrik Jensen eine faszinierende Figur geschaffen, dessen ausgeprägten Talente nach wie vor wertvoll für den Geheimdienst sind. „Das erste Opfer“, Band 1 der „Oxen“-Trilogie, bezog seine Spannung weitgehend aus der Frage, inwieweit Oxen dem PET-Chef Mossman trauen kann oder nur als Spielball der Geheimdienstinteressen benutzt wird. Diese Frage schwebt auch über der Handlung des Nachfolgebandes „Der dunkle Mann“, wobei Jensen zunächst etliche geheimnisvolle Handlungsstränge mit anonymisierten Figuren entwirft, die erst nach und nach aufgelöst und zusammengeführt werden. Der Autor beschränkt sich dabei zunächst mehr auf ausgiebige Beschreibungen der jeweiligen Settings als seinen Figuren Charakter zu verleihen. Wieder sind es vor allem Niels Oxen und Margrethe Franck, die überhaupt etwas an Profil gewinnen. Aber sobald die Jagd durch den Danehof auf Oxen eröffnet wird, zieht die Spannung deutlich an, gewinnt die Handlung an Tempo und Struktur, werden Motivationen deutlicher herausgearbeitet.
Im furiosen Finale werden einige interessante Weichen für den Abschluss der Trilogie gestellt, der unter dem Titel „Gefrorene Flammen“ für September angekündigt ist.  
Leseprobe Jens Henrik Jensen - "Der dunkle Mann"

John Williams – „Stoner“

Mittwoch, 22. November 2017

(dtv, 349 S., Tb.)
Der 1891 auf einer Farm nahe des Dorfes Booneville im tiefsten Missouri geborene William Stoner hat es im Alter von neunzehn Jahren geschafft, dem einfachen Leben auf dem Lande zu entkommen und an der Universität von Missouri zu studieren, zunächst Agrarwirtschaft – in der Hoffnung, dass seine dabei gewonnenen Erkenntnisse bei der Arbeit auf der elterlichen Farm hilfreich sein könnten -, dann ermutigt ihn sein Dozent Archer Sloane, zur Literaturwissenschaft zu wechseln.
Stoner lebt in einem kleinen Zimmer bei Verwandten, findet zunächst keine Freunde, wird sich seiner Einsamkeit bewusst. Da er keine konkreten Zukunftspläne hat, aber auch nicht auf die Farm zurückkehren will, bleibt er dem akademischen Betrieb erhalten, beendet 1915 den Magisterstudiengang mit einer Arbeit über Chaucers „Canterbury Tales“ und beginnt, Einführungskurse Englisch für Erstsemester zu geben.
Endlich findet er mit den Dozenten David Masters und Gordon Finch erste Freunde, später mit der ebenfalls sehr schüchternen und zerbrechlich wirkenden Edith eine Frau. Ihre wohlhabenden Eltern aus St. Louis geben dem jungen Ehepaar ein Darlehen für ein größeres, aber auch etwas verwittertes Haus. Im Ersten Weltkrieg stirbt Masters, Stoner und Finch haben währenddessen die Universität nicht verlassen. Die Ehe zwischen der lustfeindlichen Edith und Stoner gerät zur Farce, daran ändert auch die Geburt ihrer Tochter Grace nichts.
Erst im Alter von über Vierzig lernt Stoner die wahre, leidenschaftliche Liebe kennen, doch die Beziehung mit der Studentin Katherine hat natürlich keine Zukunft …
„Er hatte die Einzigartigkeit, die stille, verbindende Leidenschaft der Ehe gewollt; auch die hatte er gehabt und nicht gewusst, was er damit anfangen sollte, also war sie gestorben. Er hatte Liebe gewollt, und er hatte Liebe erfahren, sie aber aufgegeben, hatte sie ins Chaos des bloß Möglichen ziehen lassen.“ (S. 344f.) 
Es ist irgendwie ein trostloses Leben, das der zu seinen Lebzeiten kaum bekannte amerikanische Journalist, Dozent und Autor John Williams (1922-1994) in seinem bereits 1965 veröffentlichten, aber spät wiederentdeckten Roman „Stoner“ präsentiert. Zwar hat es sein Protagonist geschafft, der körperlich schweren und eintönigen Arbeit auf der Farm seiner Eltern zu entkommen und eine akademische Karriere zu absolvieren, doch kann dieses Leben kaum als glücklich und erfüllend bezeichnend werden. Da er durch sein Elternhaus nicht den Umgang in der Gesellschaft gelernt hat, wirkt er im Umfeld der Universität eher unbeholfen, seine sozialen Kontakte unbestimmt.
Das nimmt beim schüchternen Kennenlernen seiner Frau ihren Anfang, zieht sich durch die kaum ernstzunehmenden Freundschaften auf dem Campus, wo er sich schließlich ohne erkennbaren Grund mit seinem Kollegen Lomax überwirft, und wird auch nur kurz durch die leidenschaftliche Affäre mit Katherine gelindert.
Williams hat in seinem dritten von insgesamt nur vier veröffentlichten Romanen (nach „Nichts als die Nacht“ und „Butcher’s Crossing“) auf fast dokumentarische Weise das Leben eines Mannes beschrieben, das zwar die äußeren Umstände detailreich schildert, aber die psychologischen Tiefen, die persönlichen Motivationen nicht ausleuchtet, so dass die Charakterisierung der Figuren nahezu dem Leser überlassen bleibt. Dabei vermag Williams mit seiner sprachlichen Finesse allerdings einen Sog zu erzeugen, dass er den Leser durch die Konfrontation mit Stoners Leben immer wieder zu Selbstreflexion anregt, eine Fähigkeit, die seinem Stoner völlig abhanden geht.
Leseprobe John Williams - "Stoner"

John Williams – „Nichts als die Nacht“

Montag, 23. Oktober 2017

(dtv, 157 S., HC)
Da der 24-jährige Arthur Maxley wöchentlich einen Scheck von dem Anwalt seines Vaters bekommt, kann er sich in San Francisco ganz dem Müßiggang und den Partys widmen. Statt sich auf das Studium zu konzentrieren, trinkt der junge Mann abends regelmäßig einen über den Durst. Der überraschende Besuch seines Vaters in der Stadt wühlt allerdings alte Wunden auf. Vor drei Jahren besuchte Arthur noch das College in Boston, bis ein tragischer Vorfall in der Familie den Vater durch die Welt, nach Australien und Südamerika ziehen ließ, nächste Station Bombay. Die Zeit bis zur Abreise will er gern nutzen, um das unterkühlte Verhältnis zu seinem Sohn zu verbessern, indem er beispielsweise seine Kontakte nutzen könnte, um Arthur einen Studienplatz zu verschaffen. Doch Arthur vermag sich aus seiner Lethargie nicht zu lösen, und als er die junge weibliche Begleitung seines Vaters kennenlernt, ist jeder weitere Versuch einer Annäherung endgültig zum Scheitern verurteilt.
Stattdessen zieht der junge Mann weiter ziellos durch die Straßen und Bars, muss einen Kommilitonen in die Schranken weisen, der den solventen Arthur um ein Darlehen anbettelt, lernt eine junge Frau kennen, für die er zunächst eine tiefe Zuneigung entwickelt, doch dann brechen die Erinnerungen an seine Mutter überraschend an die Oberfläche seines Bewusstseins und führen zu einem erschütternden Gewaltexzess.
„Warum war er an diesen Ort gekommen? Dies war keine Zuflucht, und er hatte das auch geahnt. Welch sinnloser Umstand hatte ihn weiter und weiter geführt, tiefer und immer tiefer hinein in etwas, das ihm nun wie ein verschlungenes Labyrinth vorkam, das frei von jeglicher Ordnung und Bedeutung schien?
Dann aber glaubte er plötzlich, dass ihm nie ein Vorwurf für das gemacht werden konnte, was immer ihm auch im Laufe seines Lebens widerfuhr.“ (S. 90) 
Nicht mal einen Tag im Leben von Arthur Maxley, des Protagonisten in John Williams‘ Schriftsteller-Debüt aus dem Jahre 1948, deckt die Geschichte in „Nichts als die Nacht“ ab, aber die kurze Zeitspanne aus dem Leben des jungen Tunichtguts reicht vollkommen aus, die Tragödie abzubilden, die vor drei Jahren ihren Lauf nahm, die Maxley-Familie brutal auseinanderreißen sollte und den Sohn traumatisiert und ohne Ambitionen im Leben zurückließ.
Was damals genau geschah, erfährt der Leser erst zum Ende der verstörenden Novelle – bis dahin muss er sich mit einer aus Andeutungen und Erinnerungsfetzen gespeisten Ahnung begnügen und dem ziellosen Treiben des Maxley-Jungen folgen, das sich auf Spaziergänge, Partys, Alkoholexzesse und Nachtclubs zu beschränken scheint. Dass „Nichts als die Nacht“ wie ein von Edgar Allan Poe, Nathaniel Hawthorne und Ambrose Bierce inspirierte Schauergeschichte wirkt und an die Existentialisten Albert Camus und Jean-Paul Sartre denken lässt, ist vor allem der düsteren Entstehungsgeschichte geschuldet.
Williams trat Anfang der 1940er Jahre dem Army Air Corps bei und schrieb das Stück, als er mit Anfang 20 nach einem Flugzeugabsturz schwer verletzt wochenlang im burmesischen Dschungel festsaß. Da kann es kaum verwundern, dass die Erzählung von Einsamkeit, Verlust, Paranoia und Gewalt geprägt ist, von Orientierungs- und Ziellosigkeit, von Traumata und Delirien.
Für einen jungen Debütanten ist die Geschichte zunächst nur oberflächlich interessant, schließlich bieten die Reflexionen eines gelangweilten jungen Müßiggängers wenig Neues. Doch wie in sehr kurzer Zeit die gesellschaftlichen Konventionen durch Arthur Maxley aufgebrochen werden und er in einen bizarrer werdenden Strudel aus Gewalt gerät, ist sprachlich sehr ausdrucksstark inszeniert worden und vermag auch gut siebzig Jahre nach der Entstehung durch seine unmittelbare Intensität zu fesseln.
In seinen späteren Meisterwerken „Stoner“ und „Butcher’s Crossing“ verfeinerte Williams seine Erzählkunst, doch als Dokument seiner frühen schriftstellerischen Begabung und Berufung ist „Nichts als die Nacht“ von unschätzbarem Wert.
 Leseprobe John Williams - "Nichts als die Nacht"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 1) „Oxen – Das erste Opfer“

Freitag, 8. September 2017

(dtv, 461 S., Pb.)
Der ehemalige, höchstdekorierte Elitesoldaten Niels Oxen will aussteigen. Das Ziel seines neuen Lebens findet er in einem Zeitungsartikel: In dem riesigen Wald Rold Skov richtet er sich mit seinem Samojedenhund Mr White einen Unterschlupf ein und sieht sich neugierig am herrschaftlichen Schloss Nørlund Slot um. Dort bemerkt er zunächst einen im Baum erhängten Schäferhund, wenig später schon ist Oxen Hauptverdächtiger in einem Mordfall: Der Exbotschafter und einflussreiche Vorsitzende eines dänischen Thinktanks, Hans-Otto Corfitzen, wird in seinem Arbeitszimmer tot aufgefunden. Sein Tod scheint in Zusammenhang zu stehen mit weiteren mysteriösen Todesfällen, bei denen ebenfalls jeweils ein Hund ums Leben kam.
Nachdem Otto von Kriminalhauptkommissar Rasmus Grube, Polizeipräsident Max Bøjlesen und vom Chef des Inlandsnachrichtendienstes, Axel Mossman, zu seinem Aufenthalt am Schloss verhört worden ist, erhält er von Mossman das ungewöhnliche Angebot, für ihn auf eigene Faust in dem Fall zu ermitteln. Allerdings hat Oxen kaum eine andere Wahl. Um nicht selbst für die Morde zur Verantwortung gezogen zu werden, sammeln Oxen und Mossmans Assistentin Margrethe Franck zunehmend brisantere Informationen, die bis ins dänische Herrschaftsgefüge des Mittelalters zurückreichen und auch die heutige politische Elite schwer belasten.
„Jetzt wäre er gern woanders. Ohne all die Fragen, die wie Wespen in seinem Kopf herumschwirrten und ihn nicht in Ruhe ließen. Aber das ging nicht. Er konnte nicht einfach seinen Rucksack packen und verschwinden.
Erst musste er der Sache auf den Grund gehen. Das war er Mr White schuldig – und sich selbst. Wenn er nicht herausfand, was hinter dem Ganzen steckte, würden sie ihn zur Schlachtbank zerren.“ (S. 184) 
Skandinavische Autoren wie Henning Mankell, Hakan Nesser, Stieg Larsson und zuletzt der Däne Jussi Adler-Olsen sind seit den 1990er Jahren aus den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Mit Jens Henrik Jensen hat dtv, wo auch die Werke von Adler-Olsen verlegt werden, einen weiteren potentiellen Star an Land gezogen, nachdem dessen „Oxen“-Trilogie in seiner Heimat seit 2012 so erfolgreich gewesen war, dass bereits die Filmrechte verkauft worden sind.
Mit „Das erste Opfer“ erscheint nun der erste Teil der Trilogie um den Ex-Elitesoldaten Niels Oxen auch in deutscher Sprache. Was der höchstdekorierte Elitesoldat bei seinen oft traumatischen Auslandseinsätzen in Bosnien, Afghanistan, im Irak und Kosovo erlebt hat, wird in kurzen Flashbacks zusammengefasst, aber was den Menschen Niels Oxen ausmacht, wird eher durch die Beziehung zu seinem Hund und dem sehr zurückhaltenden und wortkargen Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen deutlich.
Die Erfahrung hat ihn gelehrt, niemandem zu vertrauen, und so dauert es eine Weile, bis er sich der ebenfalls versehrten, ihm zugeteilten Partnerin Margrethe Franck, etwas öffnen kann. Wie die beiden während ihrer spannenden Schnitzeljagd auf immer heiklere Dokumente stoßen, die zu einer im Danehof gipfelnden Machtelite zurückführen, die wie ein Geheimbund seit dem Mittelalter die Geschicke des Landes beeinflusst hat, liest sich wie ein politischer Actionthriller, bei dem die sympathischen Protagonisten einem gewaltigen Komplott auf der Spur sind, das bis in die höchsten politischen Kreise führt.
Bei der turbulenten und temporeichen Suche nach weiteren Spuren und Beweisen bleibt die Charakterisierung vieler Figuren eher skizzenhaft. Allein bei Oxen und Franck hat sich der Autor merklich Mühe gegeben, charakteristische Züge zu entwickeln. Weitaus mehr Energie verwendete Jensen darauf, eine Reihe von außergewöhnlichen Todesfällen in einen verschwörerischen Thriller zu betten, in dem es vor allem um Macht, Gewalt und Vertuschung geht.
Auf die nachfolgenden Bände „Der dunkle Mann“ (für März 2018) und „Gefrorene Flammen“ (August 2018) darf man sehr gespannt sein!

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 7) „Selfies“

Sonntag, 23. April 2017

(dtv, 576 S., HC)
Die Sozialarbeiterin Anne-Line Svendsen hat schon so einige schlechte Entscheidungen in ihrem Leben getroffen, auch in beruflicher Hinsicht. Da sie bei Männern stets die falsche Wahl getroffen hat, lebt sie als übergewichtiger Single in Kopenhagen und übt ihren Job zunehmend mit Widerwillen aus. Bei Sozial-Schmarotzern wie Michelle Hansen, Denise F. Zimmermann und Jazmine Jørgensen, die nicht bereit sind, für ihren Lebensunterhalt etwas zu tun und sich immer dreistere Tricks einfallen lassen, um das System zu hintergehen, dreht sich ihr der Magen um.
Nachdem ihr bei einer Routineuntersuchung Brustkrebs diagnostiziert wurde, scheint Anneli, wie sich selbst gern nennt, nichts mehr zu verlieren zu haben, und schmiedet einen perfiden Plan, die drei durch gemeinsames Schicksal geschmiedete Freundinnen, mit geklauten Autos zu überfahren. Auf der anderen Seite beschließen die drei jungen Frau, sich ebenfalls ihrer ätzenden Sachbearbeiterin zu entledigen …
Währenddessen steht Vizepolizeikommissar Carl Mørck unter besonderem Druck. Scheinbar sind unerklärlich niedrige Aufklärungsquoten des Sonderdezernats Q zum Polizeipräsidenten gelangt, so dass das im Keller untergebrachte Dezernat für ungelöste alte Fälle davorsteht, aufgelöst oder zumindest personell reduziert zu werden. Da erhält Mørck einen Anruf seines ehemaligen, mittlerweile pensionierten Kollegen Marcus Jacobsen, der einen Zusammenhang zwischen dem jüngsten Mord an der 67-jährigen Rigmor Zimmermann und einem ganz ähnlichen Fall erkennt, als vor zwölf Jahren die Lehrerin Stephanie Gundersen unter ähnlichen Umständen ums Leben kam. Interessanterweise war die Zimmermann die direkte Nachbarin von Rose Knudsen, der psychisch angeschlagenen, aber sehr geschätzten Kollegin in Mørcks kleinen Team. Als der vermeintliche Unfalltod ihres herrschsüchtigen und sadistischen Vaters wieder aufgerollt wird, geht es Rose so schlecht, dass sie sich das Leben nehmen will …
„Er seufzte. Ein unerträglicher Gedanke, dass diese Frau, die sie alle so gut zu kennen glaubten, mit so zerstörerischen, alles überschatteten Gefühlen zu kämpfen hatte. Gefühlen, die sie nur durch harsches Auftreten in den Griff zu bekommen glaubte.
Und trotz all der Düsternis in ihrem Innern hatte sie immer noch die Kraft gefunden, ihn, Carl, zu trösten, wenn er selbst niedergeschlagen war.“ (S. 191f.) 
Seit 2007 begeistert der dänische Schriftsteller Jussi Adler-Olsen die internationale Krimileserschaft mit seiner Reihe um Carl Mørck und dem von ihm geleiteten Sonderdezernat Q – allerdings in unterschiedlicher Qualität. Dass der siebte Band „Selfies“ leider der bislang unausgereifteste ist, liegt nicht nur an dem ambitionierten, aber missglückten Unterfangen, gleich fünf Mordfälle auf unterschiedlichen Ebenen aufzuklären, sondern gleich zu Anfang an der wenig überzeugenden und sehr klischeehaften Einführung der drei Unterschicht-Schlampen mit den dafür typischen Namen Michelle, Denise und Jazmine.
Wie die drei jungen Frauen zu Freundinnen werden und ebenso wie ihre Sachbearbeiterin gegenseitig Mordgelüste entwickeln, hat Adler-Olsen sehr oberflächlich inszeniert. Der Fokus auf diese unglaubwürdige Konstellation führt leider dazu, dass die anderen vom Sonderdezernat Q – teilweise in Zusammenarbeit mit der regulären Mordkommission aus dem zweiten Stock – bearbeiteten Fälle nur angerissen werden.
Vor allem das plötzliche Verschwinden von Rose und die Beschäftigung mit ihrem im Stahlwerk umgekommenen Vater erhält so nicht die Aufmerksamkeit, die die sympathische Rose mit ihren massiven psychischen Problemen verdient hätte. Zu allem Überfluss müssen sich Carl Mørck und Co. auch noch mit dem übereifrigen Fernsehteam von Station 3 herumplagen.
So bleiben nicht nur die übrigen Mitstreiter des Dezernats Q eher blass, sondern finden die einzelnen Fälle eher im Galopp ihre Auflösung.
Adler-Olsen würde sich in Zukunft sich selbst und seinen Lesern wie Kritikern sicher einen Gefallen tun, wenn er sich mehr auf seine sympathischen Ermittler des Sonderdezernats und auf weniger als eine Handvoll Fälle konzentrieren würde, um so mehr erzählerische Tiefe und Spannung zu erzeugen.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Selfies"

John Williams – „Augustus“

Mittwoch, 19. Oktober 2016

(dtv, 478 S., HC)
Kurz bevor der römische Diktator Julius Cäsar im März des Jahres 44 v. Chr. ermordet wird, sorgt er dafür, dass sein adoptierter Großneffe Octavius in Philosophie, Literatur und Rhetorik unterrichtet wird und trotz schwächlicher Konstitution sein Erbe und Nachfolger wird. Tatsächlich gelingt es dem jungen Mann, sich gegen die Widerstände aus den Reihen von Cäsars Feinden zu behaupten und sich sein Leben lang die Gewalt über Staat und Militär zu sichern. Als Förderer der Künste und des öffentlichen Lebens führt er das Römische Reich schließlich zu Wohlstand und Frieden.
John Williams, dessen Romane „Butcher’s Crossing“ (1960) und „Stoner“ (1965) in den vergangenen Jahren wiederentdeckt worden sind, hat mit seinem letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Roman „Augustus“ (1972) eine Biografie veröffentlicht, die auf den ersten Blick wenig gemein zu haben scheint mit den zutiefst amerikanischen Vorgängern.
Ungewöhnlich ist schon die erzählerische Form. Ausgehend von einem Brief, mit dem Cäsar 45 v. Chr. seiner Nichte Atia ankündigt, ihr ihren Sohn von Karthago zurück nach Rom zu schicken, damit er in Apollonia seine mangelnden Kenntnisse in den Geisteswissenschaften auf Vordermann bringen und die Position einnehmen kann, die Cäsar ihm angedacht hat, reihen sich in der Folge weitere (fiktive) Briefe, Tagebuchnotizen, Senatsbeschlüsse, Militärbefehle und Ovids Gedichte zu einem umfangreichen zeitgeschichtlichen Portrait zusammen.
Gaius Octavius Cäsar, der erst nach seinem Sieg über seinen Kontrahenten Marcus Antonius und dessen Geliebten Cleopatra den Ehrennamen Augustus erhielt, tritt dabei lange Zeit eher als gelegentliche Anekdote auf, bevor er im abschließenden Buch III mit einem langen Brief an seinen einzig noch lebenden Freund Nikolaos auf sein Leben und den daraus gewonnenen Einsichten zurückblickt.
Zuvor wird in den Briefen seiner Zeitgenossen vor allem deutlich, wie im alten Rom gelebt, geliebt, gehasst und intrigiert worden ist, wie Heiraten arrangiert, Ehen geschieden und Zweckbündnisse geschlossen wurden, um Macht zu gewinnen.
„Das, was wir unsere Welt der Ehe nennen, ist, wie Du sehr wohl weißt, eine Welt notwendiger Verbindungen; und manchmal denke ich, der elendste Sklave besitzt mehr Freiheiten als wir Frauen. Ich möchte den Rest meines Lebens in Velletri verbringen, hier, wo mir meine Kinder und Enkel stets willkommen sind. Vielleicht finde ich ja in mir oder in meinen Büchern noch zu etwas Weisheit während der stillen Jahre, die nun vor mir liegen“, heißt es beispielsweise in einem (ebenfalls fiktiven) Brief, den Octavia 22 v. Chr. an ihren Bruder Octavius Cäsar geschrieben hat. (S. 263) 
An anderer Stelle werden Badegewohnheiten, die Auseinandersetzung mit dem Gesetz zum Ehebruch und philosophische Versammlungen geschildert, so dass am Ende ein vielschichtiges und sehr lebendiges Bild des Römischen Reiches zu seiner Glanzzeit entsteht.
Am Ende hat Augustus dann doch etwas mit Protagonisten aus „Stoner“ und „Butcher’s Crossing“ gemein, nämlich die Erkenntnis, dass persönliche Bedürfnisse zurückgestellt werden müssen, dass familiäre Bindungen darunter zu leiden haben, dass gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen sind.
„Augustus“ ist bei aller Komplexität ein farbenprächtiger historischer Briefroman geworden, der 1973 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde und in der deutschen Übersetzung mit einem Who’s Who im alten Rom und einem schönen Nachwort von Daniel Mendelsohn ausgestattet ist, der „Augustus“ in das leider sehr schmale Gesamtwerk des 1994 verstorbenen Autors einordnet.
Leseprobe John Williams - "Augustus"

Jussi Adler-Olsen – „Takeover – Und sie dankte den Göttern …“

Sonntag, 8. November 2015

(dtv, 592 S., HC)
Nach siebenundzwanzig Jahren, die die Halbindonesierin Nicky Landsaat auf der Schattenseite von Amsterdam verbracht hat, sind ihre Examensnoten von der Handelshochschule so gut, dass sie ihrem tyrannischen Vater und ihren bereits vom rechten Weg abgekommenen Geschwistern Bea und Henk entfliehen kann. Als sie im August 1996 die Einladung zu einem Traineekursus bei der Investmentfirma Christie N.V. erhält, gelingt es ihr tatsächlich, trotz der verspäteten Anmeldung einen der begehrten Trainee-Plätze zu ergattern und das Vertrauen des Geschäftsführers Peter de Boer zu gewinnen.
Der hat nicht nur mit einer Anklage durch die Eltern seiner Frau Kelly mit kämpfen, die ihm vorwerfen, Kelly in den Selbstmord getrieben zu haben, sondern bekommt es auch mit dem undurchsichtigen wie skrupellosen Marc de Vires zu tun. Dieser unterhält Kontakte zur CIA unterhält und beauftragt de Boer mit einem heiklen Auftrag im Irak, den er nicht ablehnen kann. Um herauszufinden, was de Vires vorhat, schleust sich Nicky als Kindermädchen für dessen Neffen Dennis ein …
„Als sie de Vires‘ Korrespondenz entdeckte, überlegte Nicky einen Augenblick lang, den Computer auszuschalten. In diesem sehr kurzen Moment beschlich sie nicht nur eine ungute Ahnung von Unglück, Blut und Gewalt. Ihr wurde plötzlich auch das Ausmaß ihrer Neugier bewusst, ihr Ehrgeiz und besonders die von Liebe kaum noch zu unterscheidende Hingabe, die sie für Peter de Boer empfand und für alles, was er repräsentierte. Nicky feuchtete ihre Fingerspitzen an, rieb sie aneinander und ließ sie dann über die Tastatur gleiten, als zöge eine übernatürliche Kraft sie an einen vom Schicksal bestimmten Ort.“ (S. 308) 
Seit der norwegische Thriller-Autor Jussi Adler-Olsen mit seiner Reihe um Carl Mørck vom Sonderdezernat Q die internationalen Bestsellerlisten gestürmt hat, erscheinen zwischenzeitlich auch Adler-Olsens ältere Werke, die bislang aber nicht an die Qualität seiner Erfolgsreihe anschließen konnten. Das trifft auch auf „Takeover“ zu. Dabei beginnt der Roman vielversprechend: Eine junge Frau bekommt die Chance, dem Elend, in dem ihre Familie lebt, mit ihrer hervorragenden Ausbildung zu entkommen, und lässt sich auf eine gefährliche Beziehung mit ihrem Gönner Peter de Boer ein, die weit über berufliches Engagement hinausgeht. Doch auch wenn Adler-Olsen die schwierigen Familienverhältnisse sowohl bei den Landsaats als auch bei den de Boers und den de Vires‘ herauszuarbeiten versucht, wirken die Charakterisierungen nur skizziert, so dass der Leser kaum Identifikationsmöglichkeiten mit den Figuren bekommt, am ehesten wohl mit der taffen Protagonistin Nicky Landsaat.
Was dem Roman allerdings fast zum Verhängnis wird, sind die irgendwann unüberschaubaren politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Verwicklungen, die den Lauf der Geschichte immer wieder ins Stocken geraten lassen. Adler-Olsen macht in „Takeover“ viele Fässer auf. Es geht um wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, bei dem jedes noch so unlautere Mittel recht ist, es geht um familiäre Tragödien und schließlich um den Krieg um Öl, in den nicht nur der Irak und Kuwait verwickelt sind, sondern natürlich auch die USA, so dass die CIA auch ihre Finger im Spiel hat.
So bietet der komplexe Plot viele Möglichkeiten für Verrat, Intrigen, Gewalt, Folter und Mord, aber auch für ebenso viele Wendungen, Nebenhandlungen und Ablenkungsmanöver.
Immerhin gelingt es dem Autor, bei der zerfaserten Dramaturgie dennoch Spannung aufzubauen. Mørck-Fans werden mit diesem hochpolitischen und komplexen Thriller nicht unbedingt was anfangen können, aber lesenswert ist dieses Frühwerk aus dem Jahr 2003 (und neu aufgelegt im Jahr 2008) allemal. Schließlich sind die hier angerissenen Themen nach wie vor hochaktuell.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Takeover"

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 6) „Verheißung“

Donnerstag, 2. April 2015

(dtv, 596 S., HC)
Der Anruf eines Kollegen von der Insel Bornholm hält Carl Mørck davon ab, sein geplantes Nickerchen zu halten. Doch bevor Christian Habersaat sein Anliegen überhaupt vorbringen kann, wimmelt ihn der Leiter des Sonderdezernats Q im Polizeipräsidium von Kopenhagen schon ab. Einen Tag später erschießt sich Habersaat bei seiner Verabschiedung im Bürgerhaus von Listed und ruft nun doch Mørck und seine beiden Assistenten Rose und Assad auf den Plan. Als sie vor Ort Habersaats Wohnung untersuchen, stoßen sie auf einen Fall, der den Verstorbenen offensichtlich siebzehn Jahre lang beschäftigt hat.
Im November 1997 ist nämlich die hübsche wie junge Alberte Goldschmid kopfüber in einem Baum hängend tot aufgefunden wurden. Der Fahrer, der offensichtlich Unfallflucht begangen hatte, ist nie ausfindig gemacht worden. Bei ihren Nachforschungen stoßen Mørck und sein Team auf Geschichten, in denen auf der einen Seite die verstorbene Alberte allerhand Männern den Kopf verdreht hat, auf der anderen Seite scheint es einen spirituellen Anführer gegeben zu haben, der mit seinem Charisma und seinem blendenden Aussehen ebenfalls allerlei Frauenherzen eroberte. Allerdings bekommen Mørck & Co. nicht mehr als den Namen Frank in Verbindung mit dem Guru heraus, aber offensichtlich erscheint, dass die Begegnung von Alberte und Frank tödliche Konsequenzen nach sich trug …
„,In mir macht sich immer mehr das Gefühl breit, dass wir auf der richtigen Spur sind. Habersaat hatte recht. Ich kann mir vorstellen, dass Frank größenwahnsinnig wurde. Empfand sich vielleicht als eine Art Messias. Und es lief ja alles wie gewünscht – bis diese Alberte dazwischenkam.‘
‚Wie meinst du das?‘
,Dass sie für ihn aus irgendeinem Grund zum Klotz am Bein wurde. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, allerdings eine ziemlich schreckliche: Vielleicht sollte Alberte geopfert werden? Ein Mord, von dem Frank und seine Kommunarden nicht wollten, dass man ihn mit dem Sonnenkult in Verbindung bringt. Ein Sonnenopfer, das bezeichnenderweise genau in dem Moment dargebracht wurde, als die Sonne aufging.‘“ (S. 434) 
Bereits zum sechsten Mal ermitteln Carl Mørck und seine Mannschaft vom Sonderdezernat Q in einem alten Fall. Der wird aber erst durch den Selbstmord eines entfernten Kollegen wieder untersucht, und Mørcks Truppe hat einiges zu tun, die Umstände eines vermeintlichen Unfalls zu rekonstruieren, in den offensichtlich eine Truppe von Hippies und spirituellen Heilsuchenden verwickelt gewesen sind, deren Anführer sich einen merkwürdigen Namen zugelegt hat.
Daneben hat Mørck auch noch mit dem Tod seines Cousins Ronny zu tun und am Rande auch mit dem Fall, der Carl und seinen alten Kollegen Hardy für immer verändert hat.
Wie gewohnt bezieht ein Krimi aus der Mørck-Reihe seinen Unterhaltungswert nicht allein aus den besonderen Umständen, einen uralten Fall wieder aufzurollen, was die Spuren- und Zeugensuche zu einer echten Herausforderung machen, sondern auch aus den besonderen Bedingungen, unter denen Mørck, Assad und Rose miteinander umgehen und die regelmäßig für den knackigen Wortwitz sorgen, der die „Sonderdezernat Q“-Reihe so einzigartig macht.
Davon abgesehen gewährt „Verheißung“ interessante Einblicke in die schwedische Hippieszene und die Mechanismen, mit denen charismatische Männer zu spirituellen Führern werden.
Dass die Schnitzeljagd nach Beweisen und Zeugen so einige irrige Annahmen hervorbringt und zu einem überraschenden Finale führt, macht den sechsten Fall für das Sonderdezernat Q zu einer spannenden Lektüre, bei der sich psychologische Elemente, trockener Humor und eine souveräne Erzählweise wunderbar verdichten.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Verheißung"

John Williams – „Butcher’s Crossing“

Mittwoch, 1. April 2015

(dtv, 365 S., HC)
Nach drei Jahren auf dem College in Harvard zieht es den jungen Will Andrews um 1870 von Ellsworth in die Kleinstadt Butcher’s Crossing, Kansas, wo er mit dem Fellhändler J.D. McDonald einen flüchtigen Bekannten seines Vaters aufsucht und dann mit dem Jäger Miller einen Mann anheuert, der einen Trupp zum Büffeljagen zusammenstellt. Auf diese Weise hofft der junge Mann, das Land kennenzulernen und wie Ralph W. Emerson eine „ursprüngliche Beziehung zur Natur“ aufzubauen.
Während Miller einen Wagen, Ochsen und Vorräte besorgt, freundet sich Andrews mit der Hure Francine an, die dem jungen Mann voraussagt, dass er nicht mehr so jung zurückkommen würde wie er jetzt sei, sondern von den gesammelten Erfahrungen älter und vor allem rauer. Ende August brechen Miller, Andrews, der gottesfürchtige Kutscher Charley Hoge und der deutschstämmige Häuter Schneider in die Colorado Rockies auf, wo Miller vor einigen Jahren riesige Büffelherden gesehen hat.
Besonders für den unerfahrenen Andrews erweist sich die Reise als strapaziös.
Dennoch genießt Andrews den Trip, das Antreiben der Ochsen, das Aufschlagen der Lager, die Gespräche mit den Männern, die schon so viel gesehen und erlebt oder im Falle von Hoge sogar eine Hand verloren haben. Zwischenzeitlich verliert Miller die Orientierung, das Wasser wird knapp, doch schließlich entdecken sie eine mehrere Tausend Büffel umfassende Herde, die Miller nach präzisem Plan in den kommenden Wochen drastisch reduziert. Andrews ist so fasziniert von dem Abenteuer, dass er seine frühere Welt völlig vergisst.
„ … er konnte sich weder an die Berge erinnern, die sie sich heraufgequält hatten, noch an die ausgedehnten Ebenen, über die sie sich durstig und verschwitzt geschleppt hatten, auch nicht an Butcher’s Crossing, das er erst vor wenigen Wochen kennengelernt und gleich wieder verlassen hatte. Jene Welt tauchte nur in unregelmäßigen, undeutlichen Bildern vor ihm auf, verbogen wie in einem Traum. Den Teil seines Lebens nämlich, auf den es ankam, hatte er zur Gänze hier in diesem hohen Tal verbracht, und wenn er darüber hinblickte – die gelbgrüne Weite, die hohen Berghänge mit dem tiefen Grün der Kiefern, durchzogen vom flammend hellen Rotgold herbstlicher Erlen, die aufragenden Felsen und Bergkuppen, allesamt überdacht vom intensiven Blau des dünnluftigen Himmels -, dann war ihm, als würden die Konturen der Gegend vor seinen Augen verschwimmen, als formte sein Blick, was er sah, und verhülfe seinerseits der eigenen Existenz erst zu Form und Ort.“ (S. 214) 
Doch dem Staunen über die Schönheit der Natur, die ihn völlig gefangen nimmt, folgt bald das Entsetzen, als das Wetter einen dicken Strich durch die ursprünglichen Reisepläne macht und die Männer um ihr Leben fürchten müssen …
Gerade mal vier Romane hat der in Englische Literatur promovierte amerikanische Schriftsteller John Edward Williams (1922 – 1994) geschrieben, ein fünfter blieb unvollendet. Das ist umso tragischer, als dass uns Williams großartige Literatur hinterlassen hat.
Nachdem der Deutsche Taschenbuch Verlag 2013 „Stoner“ als deutsche Erstveröffentlichung präsentierte, folgt nun mit „Butcher’s Crossing“ ein weiterer Meilenstein der Literaturgeschichte, ein Western, wie ihn sonst nur Cormac McCarthy („All die schönen Pferde“) schreiben könnte, einen Abgesang auf eine Zeit, die nie wiederkommt und deren Helden sich noch nicht verabschieden wollen.
Dass „Butcher’s Crossing“ dabei so eine archaische Wucht entfaltet, liegt an den großen Themen, die seine Figuren bewegen, hier der Jüngling, der eine akademische Karriere aufgibt, um das wahre Leben und die Natur kennenzulernen, dort der einfache Fellhändler, der darauf hofft, dass das Schienennetz der Eisenbahn nach Butcher’s Crossing führt und sein bislang wertloses Land zu einer guten Kapitalanlage werden lässt; das Mädchen, das der großen Stadt entflohen ist und sich auf ein ruhigeres Leben und sanftere Männer in der Einöde eingerichtet hat; der Jäger, der von Blut- und Geldgier angetrieben keine Grenzen kennt.
Williams verwendet viel Raum und Zeit dafür, die Welt zu beschreiben, in der Miller, Andrews & Co die letzten Büffel dieser Welt jagen, und das Buch wirkt wie das Testament einer verlorenen Zeit, als Menschen noch wochenlang durch die Prärie reiten konnten, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dass sich die Jäger am Ende ihrer eigenen Lebensgrundlage berauben, gehört zu den bitteren Erkenntnissen von Männern, die sich mit dem Anbruch einer neuen Zeit und den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus auseinandersetzen müssen. Das beschreibt Williams in einer so bildhaften Sprache, dass sich „Butcher’s Crossing“ wie ein Film vor den Augen des Lesers entfaltet.
Leseprobe John Williams - "Butcher's Crossing"

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 4) „Verachtung“

Samstag, 15. Dezember 2012

(dtv, 542 S., HC)
Nachdem skandinavische Krimi-Autoren wie Henning Mankell und Hakan Nesser jahrelang dafür gesorgt haben, weltweit erfolgreich auf sich aufmerksam zu machen, schien mit der „Millennium“-Trilogie des viel zu früh verstorbenen Stieg Larsson der Höhepunkt der skandinavischen Thriller-Literatur erklommen worden zu sein. Auf der Suche nach ebenbürtigen Autoren ist die Bücherwelt zwar noch nicht wirklich fündig geworden, doch mit dem dänischen Schriftsteller Jussi Adler-Olsen bevölkert seither ein höchst talentierter Mann mit seinen Geschichten um das Sonderdezernat Q die Bestsellerlisten und erfreut sich zunehmender Beliebtheit auch beim deutschen Publikum.
Nach „Erbarmen“, „Schändung“ und „Erlösung“ präsentiert Adler-Olsen mit „Verachtung“ bereits den vierten Roman aus der Reihe um den kauzigen Ermittler Carl Mørck und seinem sehr speziellen Team beim Sonderdezernat Q, das sich im Kopenhagener Polizeipräsidium um alte, nicht abgeschlossene Fälle kümmert. Diesmal landet die Akte von Rita Nielsen auf dem Tisch des Dezernats, die in den Siebzigern und Achtzigern in Kolding einen Escort- und Begleitservice leitete und im November 1987 spurlos verschwand. Als sich Mørck, Assad und Rose an die Ermittlungen machen, stoßen sie zunächst auf weitere vermisste Personen aus dieser Zeit und offensichtliche Verbindungen zwischen ihnen. Da ist auf der einen Seite der rassistische Gynäkologe Curt Wad, der mit seiner Partei „Klare Grenzen“ gerade versucht, ins Parlament zu gelangen, auf der anderen Seite Nete Rosen, die eine schlimme Zeit in einem Frauengefängnis auf Sprogø verbracht hat. Vor allem die Machenschaften der „Klare Grenzen“-Köpfe bereiten den Ermittlern mehr als nur Bauchschmerzen.
„Carl warf Assad einen prüfenden Blick zu. Dieser Fall ging Assad mehr an die Nieren als andere Fälle, Gleiches galt für Rose. Ganz klar, beide waren Menschen mit Narben auf der Seele, aber trotzdem erstaunte es Carl, dass sich Assad dermaßen engagierte, dass ihn die Sache offenbar so erschütterte. ‚Wenn man Frauen auf eine Insel deportieren kann und damit durchkommt‘, fuhr Assad unbeirrt fort, ‚und wenn man massenhaft gesunde Embryos töten und Frauen sterilisieren kann, wenn man das einfach so kann, dann kommt man mit allem durch. Das denke ich, Carl. Und wenn man daraufhin auch noch im Folketing sitzt, wird es richtig kritisch.‘“ 
Das trifft allerdings auch auf die Ermittler zu. Denn je näher Mørck & Co. sich den Machenschaften der rechten Partei nähern, desto heftiger reagieren sie darauf, ihre dunklen Geheimnisse zu bewahren. Dabei schrecken sie vor keinen Mitteln zurück.
Adler-Olsen hat mit „Verachtung“ ein höchst brisantes Thema, das auf einem tatsächlichen Missstand in der dänischen Geschichte beruht, in eine höchst packende Thrillerhandlung gepackt. Daneben bleibt auch immer ein wenig Zeit, in die persönlichen Befindlichkeiten der drei sympathischen, doch ganz unterschiedlichen Protagonisten einzutauchen, doch könnte davon in Zukunft ruhig mehr zu lesen sein. Denn wie sich Mørck seiner angebeteten Mona nähert, ist schon amüsant geschildert, lässt aber viel Raum zur Entwicklung. Und auch Assads mysteriöser Hintergrund wird nur unzureichend erhellt. Doch die rasante und intelligent verquickte Geschichte packt den Leser mit einer Wucht, dass dieses kleine Manko schnell entschuldigt wird. Schließlich bleibt die Hoffnung auf noch viele weitere Bände aus dieser Reihe …
Leseprobe Jussi Adler Olsen - "Verachtung"