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Stephen King – „Das Bild – Rose Madder“

Dienstag, 25. März 2025

(Heyne, 588 S., HC)
Stephen King hat seit seinen frühesten Veröffentlichungen immer wieder starke Frauen in den Mittelpunkt seiner Erzählungen gerückt, am bekanntesten dürften wohl „Carrie“, „Sie“ und „Dolores“ sein, aber auch in dem weniger bekannten, weil verständlicherweise noch nicht verfilmten Roman „Das Bild – Rose Madder“ stellt der „King of Horror“ eine zunächst über Jahre gedemütigte Hausfrau in den Fokus einer Geschichte, die abgesehen von dem übernatürlichen Element keine großen Überraschungen präsentiert.
Seit vierzehn Jahren ist Rose mit dem Polizisten Norman Daniels verheiratet, doch die Ehe erweist sich seit ihrem achtzehnten Lebensjahr als Hölle auf Erden. Immer wieder tickt ihr Mann regelrecht aus und verprügelt sie nach Strich und Faden, wobei er eine besondere Vorliebe für ihre Nieren entwickelt. Bei einem seiner Gewaltausbrüche erleidet Rose eine Fehlgeburt, doch eines Tages genügt ein einzelner Blutstropfen auf dem Bettlaken, der Rose zur Besinnung kommen lässt. Sie nimmt die BankCard ihres Mannes an sich, hebt 300 Dollar vom Konto ab und marschiert zwei Stunden durch die Stadt, bis sie sich mit dem Taxi zum Busbahnhof Portside bringen lässt und mit dem nächstmöglichen Bus in eine 500 Meilen entfernte Stadt fährt. In der Hoffnung auf Hilfe und Orientierung wendet sich Rose an einen Mitarbeiter von Traveller’s Aid, der ihr die Adresse eines Frauenhauses gibt, das von dessen Ex-Frau Anna Stevenson geführt wird. Während Rose ihren Mädchennamen McClendon angenommen hat und trotz ihrer Angst vor ihrem Mann ihr Leben langsam in den Griff bekommt, lässt Norman Daniels natürlich nichts unversucht, um mit Rose mal wieder „aus der Nähe“ zu sprechen, wobei ihn sein detektivischer Instinkt tatsächlich bis zu Daughters and Sisters führt. Doch bis es so weit ist, hat Rose bereits eine eigene Wohnung, einen einträglichen Job als Hörbuch-Sprecherin und einen Verehrer namens Bill gewonnen, in dessen Pfandleihhaus sie ihren Ehering ging ein Bild eingetauscht hat, das sich in Roses Wohnung zu verändern scheint. Aber auch Norman macht auf der Suche nach Rose eine fundamentale Veränderung durch, als in einem Park einem Jungen die Stiermaske wegnimmt, die zu einem unauslöschlichen Teil seiner selbst wird…

„Wie kann das sein? fragte er sich bestürzt. Wie kann das möglich sein? Es ist doch nur ein alberner Jahrmarktspreis für Kinder! Ihm fiel keine Antwort auf diese Frage ein, aber die Maske löste sich nicht, wie fest er auch daran zog, und ihm wurde mit übelkeiterregender Deutlichkeit bewusst, wenn er die Nägel hineingraben würde, würde er Schmerzen verspüren. Er würde bluten. Und tatsächlich hatte die Maske nur noch eine Augenöffnung, die mitten ins Gesicht gewandert war. Seine Sicht durch diese Öffnung war dunkler geworden; das zuvor helle Mondlicht schien wolkenverhangen zu sein.“ (S. 535)

Mit „Rose Madder“, so der schlichte Originaltitel, der sich in erster Linie auf die Signatur des mysteriösen Bildes bezieht, das für den märchenhaften Subplot verantwortlich zeichnet, erzählt Stephen King in erster Linie die natürlich tragische, ansonsten leider sehr gewöhnliche Geschichte einer in der Ehe brutal missbrauchten Frau, wobei sowohl Rosie als auch ihr Mann Norman erschreckend klischeehaft gezeichnet sind. Erschwerend für die Glaubwürdigkeit der Geschichte kommt aber der Gegenentwurf des braven, zuvorkommenden Bill hinzu, der wie ein Ritter in strahlender Rüstung erscheint und die Geschichte zu einem zuckersüß kitschigen Ende führt. Und auch die Episode mit dem Bild, das sich vor den Augen seiner Besitzerin verändert und Rose schließlich mitten in die gemalte Szenerie zieht, wirkt eher wie ein Fremdkörper, der nur eingefügt wurde, um der trivialen Geschichte einen mythischen King-Touch zu verleihen. Leider geht der Schuss hier nach hinten los. „Das Bild – Rose Madder“ zählt so leider zu den langweiligeren Büchern von Stephen King.

Stephen King – „Das Monstrum. Tommyknockers“

Montag, 27. Januar 2025

(Hoffmann und Campe, 688 S., HC)
Stephen King hatte 1986 mit „Es“ sein Magnum Opus abgeliefert und damit die Messlatte für seine zahlreichen Epigonen, aber für sich selbst ebenfalls sehr hochgelegt. Mit dem zweiten Band seiner „The Dark Tower“-Reihe („Drei“) und dem wunderbar von Rob Reiner mit Kathy Bates und James Caan in den Hauptrollen verfilmten Psycho-Horror-Schocker „Sie“ konnte der „King of Horror“ qualitativ überzeugend nachlegen, aber die produktive Phase (1987 wurden mit „Die Augen des Drachen“, „Sie“, „Drei“ und „Das Monstrum“ gleich vier Romane von ihm veröffentlicht) sowie seine Alkohol- und Kokainsucht zollten schließlich ihren Tribut. Sein Science-Fiction-Horror-Roman „Das Monstrum“ konnte nämlich nicht mehr an die Qualität früherer Werke anknüpfen und wurde zudem 1993 schlecht als Fernseh-Zweiteiler verfilmt.
Die erfolgreiche Western-Roman-Schriftstellerin Bobbi Anderson lebt zurückgezogen mit ihrem altersschwachen und auf einem Auge bereits blinden Beagle Peter im Haus ihres Onkels in Derrys kleinen Nachbarstadt Haven, Maine. Als sie eines Nachmittags im Juni 1988 im angrenzenden Wald an der Route 9 Holz schlagen will, sieht sie das Schimmern von Metall im Boden und fegt den darum liegenden Waldboden beiseite. Während Peter ein langgezogenes Heulen ausstößt, buddelt Bobbi fasziniert weiter, bis sie denkt, ein Auto oder etwas ähnlich Großes vor sich zu haben. Fortan richtet Bobbi ihren Alltag ganz auf das Freilegen des geheimnisvollen Objekts aus. Dabei verändert sie sich nicht nur körperlich – so fallen ihre Blutungen weit heftiger aus als bei Menstruationen üblich, dann fallen ihr auch Zähne aus -, sondern kann auch die Gedanken anderer Menschen lesen. Sie erfindet technische Geräte, die den Ort allmählich unabhängig vom lokalen Stromnetz machen, und schreibt in kürzester Zeit ihren wohl besten Roman.
Währenddessen droht Bobbis Freund und ehemaliger Liebhaber James Gardener als Ersatzgast des New England Poetry Caravan einmal mehr die Kontrolle über sich zu verlieren. Der gescheiterte Dichter und Alkoholiker wird das Gefühl nicht los, dass seine alte Freundin in Gefahr schwebt, und macht sich nach einem peinlichen Auftritt nach einer Lesung auf den Weg zu ihr. Dank der Metallplatte in seinem Schädel ist er gegen die Gedankenleserei, die mittlerweile auch andere Bewohner in Haven auszuüben in der Lage sind, gefeit, aber nicht gegen die Übelkeit und andere Veränderungen, die in der Stadt vor sich gehen. Er hilft Bobbi bei der Ausgrabung des nun offenkundig als UFO identifizierten Objekt und bekommt nur am Rande mit, dass sich die Bewohner von Haven verändern und sich von der Außenwelt abschotten. Als sie endlich die Luke öffnen, steht ihnen allerdings eine böse Überraschung bevor…
„Sie standen nebeneinander und lächelten einander an, und es war beinahe wie früher, aber der Wald war stumm, keine Vögel erfüllten ihn mit ihrem Zwitschern.
Die Liebe ist vorbei, dachte er. Jetzt handelt es sich wieder um dasselbe alte Pokerspiel, aber gestern nacht ist die Zahnfee gekommen, und ich nehme an, sie wird heute nacht wiederkommen. Möglicherweise mit ihrer Kusine und ihrem Schwager. Und wenn sie meine Karten sehen, vielleicht diesen Hauch eines Einfalls wie ein As in der Rückhand, dann ist es aus und vorbei. In gewisser Weise ist es komisch. Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Außerirdischen wenigstens noch leben müssten, um eine Invasion durchziehen zu können. Nicht einmal H.G. Wells hat sich eine Invasion von Geistern träumen lassen.“ (S. 466)
An einer Stelle des Romans gibt Stephen King zu, dass kein Science-Fiction-Autor mit einem Funken Selbstachtung über Fliegende Untertassen schreiben würde, dass nur Wirrköpfe und religiöse Exzentriker – und natürlich die Regenbogenpresse – ihnen Platz in ihren Gedanken und Vorstellungen einräumten. Gut fünf Jahre bevor Chris Carter mit „Axte X“ das Gedankenspiel aber erfolgreich auf den Fernsehbildschirm gebracht hat, spielte Stephen King die Möglichkeit einer UFO-Ladung durch und vor allem die Folgen, die dieses Ereignis auf die Bewohner einer Kleinstadt in Maine nach sich ziehen. Nachdem King mit der Schriftstellerin Bobbi Anderson und dem Dichter James Gardener die Hauptfiguren ausführlich vorgestellt hat, führt er in einem Nebenplot einzelne Figuren aus Haven vor, wobei ein verpatzter Zaubertrick, bei dem der kleine Bruder des Möchtegern-Zauberers spurlos verschwindet, eine zentrale Rolle einnimmt. Es fordert der Leserschaft schon einiges an gutem Willen ab, die Vorgänge in Haven und die Natur der aus dem Volksmund bekannten Tommyknockers, denen Stephen King Gestalt zu verleihen versucht, anzunehmen. So mutig und verwegen sein Unterfangen auch gewesen ist, eine UFO-Geschichte zu schreiben, gelingt es King doch nicht, die Verwandlung der Bewohner von Haven und ihren Zusammenschluss per Gedankenübertragung so glaubwürdig zu gestalten, dass echte Spannung aufkommt. Vor allem zum Ende hin, wenn überflüssigerweise Bobbis rechthaberisch-dominante Schwester auch noch mitmischt und Gardener trotz übelster Verletzungen allen feindlichen Angriffen der Haven-Gemeinde strotzt, hat „Das Monstrum“ seinen anfänglichen Reiz eingebüßt.

Stephen King – „Wahn“

Freitag, 13. Dezember 2024

(Heyne, 896 S., HC) 
Als Stephen King 2008 seinen Roman „Duma Key“ veröffentlichte (der dann in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Wahn“ erschien), blickte er bereits auf mehr als dreißig erfolgreiche Jahre als Schriftsteller zurück, dazu auf prominent verfilmte Bestseller wie „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Shining“, „Christine“, „Dead Zone – Das Attentat“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Sie“. Nachdem er 1999 als Spaziergänger von einem Kleinbus erfasst worden war und drei Monate im Gefängnis verbracht hatte, schrieb King seinen Roman „Duddits“ mit der Hand, aber erst in „Der Turm“, dem siebten Band seines Fantasy-Epos „Der Dunkle Turm“, thematisierte er den Unfall ausführlich. Auch in „Wahn“ hallt das Echo dieses traumatischen Erlebnisses deutlich nach. 
Edgar Freemantle hat es in Minnesota als Selfmade-Bauunternehmer zu großem Erfolg gebracht, war im Alter von fünfzig Jahren genauso viele Millionen Dollar schwer und war glücklich mit Pam verheiratet und stolz auf die an der Brown studierenden Tochter Ilse und die in Frankreich als Lehrerin arbeitende Melinda. 
Doch dann stellte ein Unfall Freemantles Leben auf den Kopf: Der Zusammenprall seines Pick-ups mit einem zwölfstöckigen Kran führte nicht nur zu einem Schädel-Hirn-Trauma, sondern auch zum Verlust seines rechten Arms. Die Hirnprellung und die anhaltenden Kopfschmerzen führten zu einer Störung seines Sprachzentrums, zu unkontrollierten Wutanfällen und unerträglichen (Phantom-)Schmerzen, bis Pam die Kraft und den Glauben verliert, die Ehe fortzuführen. 
Freemantles Psychiater Dr. Kamen lässt seinen selbstmordgefährdeten Patienten daran erinnern, dass er früher gern gemalt habe, und schlägt ihm eine Auszeit auf der Insel Duma Key an Floridas Westküste vor. Als Freemantle am 10. November von seiner Reha-„Queen“ Kathi Green zum Flughafen gebracht wird und nach Florida fliegt, ahnt er nicht, dass er in ein Haus zieht, das zuvor schon von verschiedenen Künstler-Größen bewohnt worden ist. Freemantle bekommt mit Jack Cantori einen fleißigen Assistenten und freundet sich mit seinem Nachbarn Wireman an, der sich liebevoll um die 85-jährige, an Alzheimer erkrankte Elizabeth Eastlake kümmert, die nahezu alle Immobilien auf Duma Key ihr Eigen nennt. Freemantle nennt sein neues Heim Big Pink und beginnt nach einiger Zeit tatsächlich mit dem Malen, wofür er offenbar ein großes Talent besitzt. 
Doch die Bilder von Sonnenuntergängen mit Mädchen und Fischerbooten entwickeln ein gefährliches Eigenleben, das bald auch Freemantles Familie bedroht… 
„Was ich malte, wirkte nicht nur deshalb, weil es die Nervenenden reizte; es wirkte, weil die Leute wussten – auf irgendeiner Ebene wussten sie es tatsächlich -, dass sie hier etwas betrachteten, das aus einem Reich jenseits allen Talents stammte. Das Gefühl, das diese Duma-Bilder vermittelten, war Horror, kaum im Zaun gehalten. Horror, der darauf wartete, sich ereignen zu können. Mit verrotteten Segeln einlaufend.“ (S. 376) 
Als Ausgangspunkt für Kings wieder mal episch ausgefallenen Roman „Wahn“ dient ein Unfall, wie ihn Stephen King selbst fast zehn Jahre zuvor erlebt hat, und der im Kopf seines Protagonisten, den er als Ich-Erzähler etabliert, außergewöhnliche künstlerische Prozesse freisetzt. 
King verarbeitet so nicht nur erneut das Trauma seiner eigenen Unfall-Erfahrung, sondern verknüpft sie einmal mehr mit einem seiner Lieblingsthemen, mit dem künstlerischen Schaffensprozess. Welch unangenehme Nebenwirkungen das zeitigen kann, haben bereits Romane wie „Stark – The Dark Half“ und „Shining“ dokumentiert. King nimmt sich viel Zeit, die Geschichte von Edgar Freemantle zu erzählen. Der Rückblick auf sein bisheriges Leben fällt recht kurz aus, dafür nehmen im weiteren Verlauf die Beziehungen zu seiner Ex-Frau Pam und den beiden Töchtern ebenso viel Raum ein wie zu seinem neu gewonnenen Freund Wireman und der geheimnisvollen Elizabeth Eastlake, die einen besonderen Bezug zu den Künstlern in ihrem Leben zu haben scheint. 
Während die eigentliche Handlung in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann, nehmen die sukzessive gewonnenen Einblicke in das Leben von Wireman und seiner Herrin genügend Raum ein, dass sie Kings Leserschaft bald wie Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen. Auch die zunehmend bedrückende Atmosphäre auf der Insel und die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Prozess sind King sehr eindringlich gelungen, so dass die Spannung fast greifbar ist. 
Allein das Finale, das zumindest die Horror-Fans erfreuen wird, ist etwas zu dick aufgetragen und umständlich konzipiert worden, doch das schmälert den Genuss von „Wahn“ kaum. 

Stephen King – „Ihr wollt es dunkler“

Sonntag, 9. Juni 2024

(Heyne, 736 S., HC) 
Obwohl Stephen King das ausschweifende Format das epischen Romans bevorzugt, um seine Leserschaft mit seinen Geschichten zu fesseln, sind seit Beginn seiner außergewöhnlich erfolgreichen Schriftstellerkarriere immer wieder Sammlungen von Kurzgeschichten erschienen, die ihren ganz eigenen Reiz verströmten – nicht zuletzt für die Filmstudios in Hollywood, die bereits aus Kings erstem, schon 1978 veröffentlichten Sammelband „Night Shift“ ausgewählte Short Stories wie „Manchmal kommen sie wieder“, „Der Rasenmähermann“ und „Kinder des Mais“ zu mehr oder weniger gelungenen Langfilmen verarbeiteten. Bekanntere Beispiele aus späteren Sammlungen sind natürlich „Die Leiche“ (von Rob Reiner unter dem Titel „Stand By Me“ verfilmt) und „Der Nebel“
Neun Jahre nach der letzten Kurzgeschichtensammlung, „Basar der bösen Träume“, ist es nun wieder Zeit für neue Geschichten, die mal zwischen zehn und vierzig Seiten lang sind, gelegentlich aber auch das Ausmaß eines Kurzromans einnehmen. Auf jeden Fall beackert der „King of Horror“ in den zwölf Geschichten in „Ihr wollt es dunkler“ ganz unterschiedliche Sujets und erzeugt ebenso verschiedenartige Stimmungen. 
Eröffnet wird der Reigen mit „Zwei begnadete Burschen“, in der der Sohn eines berühmten, kürzlich verstorbenen Schriftstellers der Frage nachgeht, die auch die Journalistin Ruth Crawford seit einigen Jahren umtreibt: Laird und sein Jugendfreund David „Butch“ LaVerdiere haben nie das Potenzial erkennen lassen, dass aus ihnen irgendwann mal etwas Besonderes werden sollten, und doch sind sie mit einem Schlag in ihren Mittvierzigern berühmt geworden, Laird als Schriftsteller, Butch als Maler. Laird hat Zeit seines Lebens zwar die obligatorischen Interviews absolviert, aber nie Auskunft über den wundersamen Verlauf seiner Karriere gegeben. Erst mit seinem Tod bekommt sein Sohn den Zugang zum Ursprung des „göttlichen Funkens“, der die kreativen Wurzeln der beiden Freunde während eines Jagdausflugs freisetzen sollte… 
In „Der fünfte Schritt“ präsentiert sich King als typischer Horror-Autor, wenn er den Rentner Harold Jamison bei seinem täglichen Spaziergang in den Central Park mit einem normal aussehenden Mann zusammentreffen lässt, der als Alkoholiker gerade die Zwölf Schritte bei den AA durchläuft. Für den jetzt anstehenden fünften Schritt soll der Mann, der sich als Jack vorstellt, einem Fremden von seinen Fehlern erzählen. Jamison lässt sich darauf ein, nicht ahnend, was er mit seinem Einverständnis auslöst… 
Mit „Danny Coughlins böser Traum“ folgt der erste Kurzroman. Die Titelfigur träumt davon, in der Nähe einer „Hilltop Texaco“-Tankstelle einen Hund zu entdecken, der erst eine Hand, dann den dazugehörigen Unterarm aus dem Boden freischarrt. Der Traum ist so real, dass Coughlin sich auf den Weg macht und tatsächlich die teilweise freigelegten Körperteile findet. Doch als er anonym die Polizei informiert, erlebt er sein blaues Wunder. Denn Inspector Franklin Jalbert vom Kansas Bureau of Investigation ist fest davon überzeugt, dass Coughlin den Fund der Leiche von Yvonne Wicker nicht nur geträumt hat, sondern die junge Frau auch selbst ermordet hat. Um das zu „beweisen“ greift Jalbert auch zu unlauteren Mitteln, stellt sich mit seinen Praktiken und Überzeugungen aber auch zunehmend selbst ins Abseits… 
„In meinen Geschichten über das Übernatürliche und Paranormale habe ich mir besonders große Mühe gegeben, die reale Welt so zu zeigen, wie sie ist, und die Wahrheit über das Amerika zu erzählen, das ich kenne und liebe. Manche solcher Wahrheiten sind hässlich, aber wie es in einem Gedicht heißt, werden Narben zu Schönheitsflecken, wo Liebe ist“, schreibt Stephen King im Nachwort zu „Ihr wollt es dunkler“ – einer Hommage an Leonard Cohen
Tatsächlich bekommt Kings Publikum wie so oft in seinen Geschichten den Spiegel vorgehalten, taucht der „King of Horror“ doch immer wieder tief ins kollektive Unterbewusstsein ein, lässt Träume und Erinnerungen lebendig werden, thematisiert Krankheit, Tod und mehr oder weniger schleichenden Wahnsinn. So macht Vic Trenton, der Ich-Erzähler in dem anderen Kurzroman, „Klapperschlangen“, und darüber hinaus auch der Vater des Jungen, der in „Cujo“ einem tollwütigen Bernhardiner zum Opfer gefallen war, die Bekanntschaft einer Frau, die über den Tod ihrer vierjährigen Zwillinge nie hinweggekommen ist und den Kinderwagen mit ihren T-Shirts durch die Gegend kutschiert, als wären die Jungs noch am Leben. 
Nicht alle Geschichten erreichen die Intensität, die die beiden Kurzromane auszeichnet, aber doch die meisten.  

Stephen King – „Langoliers“

Samstag, 27. April 2024

(Heyne, 512 S., Heyne Jumbo) 
Wie Stephen King in seiner Vorbemerkung zu der Novellen-Sammlung „Four Past Midnight“ erwähnt, ist er zu ihrer Veröffentlichung im Jahr 1990 bereits 16 Jahre im Geschäft des Schreibens tätig gewesen. In dieser doch schon bemerkenswerten Zeit sind nach seinem durch Brian De Palma verfilmtes Romandebüt „Carrie“ noch weitere – meist ebenfalls durch namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick, John Carpenter, David Cronenberg, George A. Romero und Rob Reiner verfilmte - Bestseller wie „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Es“, „Sie“ und „Stark – The Dark Half“ erschienen, darüber hinaus auch Kurzgeschichten-Sammlungen wie „Nachtschicht“ und „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“. Mit „Four Past Midnight“ hat King vier längere Geschichten zusammengefasst, die fast eher in den Bereich des Kurzromans gehen, weshalb der Heyne Verlag je zwei Geschichten in dem Band „Langoliers“ und dann in „Nachts“ veröffentlicht hat, bevor später auch eine Taschenbuchausgabe mit dem Titel „Vier nach Mitternacht“ erschien. Viel interessanter als die Geschichten selbst – dies schon mal vorab – sind die Einführungen des Autors zu den jeweiligen Stories. So entstand die Grundidee für die Titelgeschichte aus dem Bild einer jungen Frau, die eine Hand auf einen Riss in der Hülle eines Linienflugzeugs drückt. 
In „Langoliers“ kommt Flugkapitän Brian Engle nach einem schwierigen Flug aus Tokio auf dem LAX, Amerikas schlimmsten Flughafen, an und erfährt, dass seine Ex-Frau Anne bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sei. Engle fliegt daraufhin als Passagier von Los Angeles weiter nach Boston, schläft aber auch kurz nach dem Starten des „Schnarchflugs“ ein. Als er aufwacht, sind neben ihm selbst noch zehn weitere Passagiere an Bord, die ebenfalls geschlafen haben, darunter das blinde Mädchen Dinah, die Lehrerin Laura, der Musikhochschüler Albert und der geheimnisvolle Nick. Alle anderen – auch die Piloten und die Flugbegleiter:innen - scheinen auf mysteriöse Weise einfach verschwunden, auf vielen Plätzen liegen noch ihre Uhren, aber auch Herzschrittmacher und Zahnfüllungen. Engle übernimmt zwangsläufig das Kommando, versucht allerdings vergeblich, Funkkontakt zu anderen Flughäfen zu bekommen. 
Überhaupt scheint die Welt außerhalb des Flugzeugs eine komplett andere zu sein. Das bekommen Engle und seine Schicksalsgefährten auf schmerzvolle Weise zu spüren, als es ihnen gelingt, den Flughafen von Maine anzusteuern… 
„Langoliers“ wirkt wie Folge aus Rod Serlings „Twilight Zone“, zählt aber zu den schwächeren Geschichten des „King of Horror“. Das liegt nicht nur an der sehr kurzen Einführung der Figuren, die auch während des weiteren Verlaufs der Geschichte kaum Kontur gewinnen. King stellt eindeutig das aberwitzige Szenario in den Vordergrund und bringt seine Leserschaft ebenso wie die Beteiligten in eine Position, in der es vor allem darum geht, eine Erklärung für das Verschwinden der Menschen sowohl im Flugzeug als auch am Flughafen zu finden. Durch die für King ungewöhnlich große Distanz zwischen den Figuren und dem Publikum stellt sich längst nicht das wohlige Grauen ein, das die besseren Geschichten des Bestseller-Autors hervorrufen. 
Mit „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ bewegt sich King dann auf vertrautem Terrain, thematisiert einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Literatur, Leser und Schriftsteller. Stand in dem auch erfolgreich von Rob Reiner verfilmten Bestseller „Sie“ der starke Einfluss im Vordergrund, den Literatur auf die Leserschaft ausüben kann, beleuchtete King in dem (vom renommierten Horror-Regisseur George A. Romero adaptierten) Roman „Stark – The Dark Half“ wiederum den manchmal durchaus zerstörerischen Einfluss, mit dem Literatur den Schriftsteller prägen und verändern kann. 
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ nähert sich eher dem zweiten Phänomen an, wird der frisch geschiedene und unter einer Schreibblockade leidende Schriftsteller Morton Rainey in dem Sommerhaus am Tashmore Lake von einem mysteriösen Mann, der sich als John Shooter vorstellt, mit dem Vorwurf konfrontiert, seine 1982 geschriebene Geschichte „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ gestohlen zu haben, und verlangt im Gegenzug, dass Rainey ihm eine Geschichte schreibt. Rainey fühlt sich zunächst auf sicherem Terrain, schließlich ist seine Geschichte mit dem Titel „Zeit zu säen“ bereits 1980 im Ellery Queens Kriminalmagazin erstmals veröffentlicht worden. 
Shooter will allerdings innerhalb von drei Tagen einen Beweis in Form einer der Originalausgaben des Magazins in der Hand halten. Während Rainey seinen Agenten darauf ansetzt, eine dieser Ausgaben per Express zu ihm schicken zu lassen, geschehen grausame Dinge. Eines Morgens findet Rainey seinen Kater Bump mit einem Schraubendreher am Dach des Müllkastens angenagelt vor, wenig später ist das Haus, in dem seine Ex-Frau Amy lebte, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Während der Versicherungsdetektiv nach Hinweisen auf die offensichtliche Brandstiftung sucht, wird Rainey von verdrängten Erinnerungen und düsteren Träumen heimgesucht… 
„Er glaubte, ohne ihre große Kapazität der Selbsttäuschung wäre die menschliche Rasse wahrscheinlich noch verrückter, als sie ohnehin war. Aber manchmal brach die Wahrheit durch, und wenn man bewusst versucht hatte, zu träumen und sich diese Wahrheit nicht einzugestehen, konnten die Folgen verheerend sein: Es war, als wäre man dabei, wenn eine gigantische Flutwelle nicht nur über, sondern regelrecht durch einen Damm raste, der in ihrem Weg lag, und diesen samt einem selbst zerschmetterte.“ (S. 397)
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“, das mit Johnny Depp in der Hauptrolle als „Das geheime Fenster“ verfilmt worden ist, wirkt zwar atmosphärisch stimmiger und ist in der Charakterisierung der zugegebenermaßen wenigen Figuren gelungener als „Langoliers“, kann aber mit Stephen Kings früheren Auseinandersetzungen mit dem eingangs erwähnten Spannungsfeld längst nicht mithalten. Das liegt vor allem an dem sehr vorhersehbaren Ausgang der Geschichte und der nicht wirklich überzeugenden Motivation für die grausamen Taten, die uns im Verlauf der Story begegnen. Fans der großartigen Sammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ dürften hier eher enttäuscht werden.


Stephen King – „Sie“

Montag, 15. April 2024

(Heyne, 400 S., Jumbo) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Romandebüt „Carrie“ hat es Stephen King innerhalb weniger Jahre mit weiteren, allesamt verfilmten Werken wie „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und vor allem „Es“ zum meistgelesenen Horrorautoren aller Zeiten geschafft. Ein besonderer Coup ist dem „King of Horror“ mit dem 1987 erschienenen und durch Rob Reiner erfolgreich mit James Caan und Kathy Bates in den Hauptrollen verfilmten Bestseller „Misery“ gelungen, der hierzulande als Erstauflage in dem leider nur kurzlebigen Jumbo-Paperback-Format bei Heyne unter dem Titel „Sie“ veröffentlicht worden ist. 
Nachdem der bekannte Romanautor Paul Sheldon bei einem Schneesturm von der Straße abgekommen und einen Hang hinuntergerutscht ist, hätte er mit seinen beiden gebrochenen Beinen gut umkommen können, doch die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes hat es geschafft, den bewusstlosen Mann aus dem Auto zu bergen und ihn in ihr einsam gelegenes Haus nahe der Stadt Sidewinder in Colorado zu bringen, wo sie mit ein paar Hühnern und einem Schwein lebt, das sie nach Paul Sheldons berühmtester Romanfigur Misery genannt hat. Als Paul Sheldon sein Bewusstsein wiedererlangt, sieht er seine völlig zerstörten Beine behelfsmäßig geschient und sich seiner Retterin hilflos ausgeliefert. Dass mit Annie Wilkes etwas nicht stimmt, merkt mit Novril ruhig gestellte Sheldon sofort. Schließlich hat die gute Frau es nicht für nötig gehalten, die Polizei über ihren Fund zu informieren oder den schwerverletzten Mann ins Krankenhaus zu fahren. Aus Dankbarkeit lässt Sheldon seinem selbsternannten „Fan Nr. 1“ seinen neuen Roman „Schnelle Autos“ lesen, doch zeigt sich Annie wenig begeistert von dem ernsthaften Stoff. Als sie bei einem Einkauf eine Taschenbuchausgabe von Sheldons letzten „Misery“-Roman entdeckt, ist sie so entsetzt darüber, dass ihre absolute Lieblingsheldin stirbt, dass sie Sheldon dazu zwingt, sein Manuskript von „Schnelle Autos“ zu verbrennen und einen neuen „Misery“-Roman zu schreiben, in dem Misery Chastain wiederbelebt wird. Doch je mehr Paul gezwungenermaßen in dem Zimmer eingesperrt ist, desto mehr stellt er fest, dass Annie unter ernsthaften psychischen Problemen leidet und sicher nicht vorhat, ihren Lieblingsautor jemals wieder gehen zu lassen… 
„Er wusste, dass er unablässig terrorisiert worden war, aber hatte er gewusst, wieviel von seiner subjektiven Realität, die einst so stark gewesen war, dass er sie als gottgegeben betrachtet hatte, ausgelöscht worden war? Er wusste eines mit ziemlicher Sicherheit – es war wesentlich mehr mit ihm nicht in Ordnung als nur die Lähmung seiner Zunge, ebenso wie mit dem, was er geschrieben hatte, wesentlich mehr nicht in Ordnung war als die fehlende Type oder das Fieber oder Sprünge in der Kontinuität oder selbst der Verlust seines Schneids. Die Wahrheit hinter allem war so einfach in ihrer Grausamkeit, so schrecklich einfach. Er starb Stück für Stück…“ (S. 305) 
Waren viele seiner vorangegangenen Horrorromane von übernatürlichen Fähigkeiten wie Telekinese („Carrie“), übersinnlichen Wahrnehmungen („Shining“), hellseherischen Fähigkeiten („Dead Zone“) oder Pyrokinese („Feuerkind“) geprägt oder behandelten klassische Horrorthemen wie Vampirismus („Brennen muss Salem“), kommt „Sie“ ohne jegliche übernatürliche Komponente aus. 
Kings Roman wirkt wie ein klassisches Bühnenstück, dessen Handlung sich gut und gerne auf ein Zimmer und zwei Personen beschränken könnte. 
Der Horror entsteht durch den Wahnsinn der ehemaligen Krankenschwester Annie Wilkes, die in Rob Reiners Verfilmung durch eine Oscar-prämierte Kathy Bates zum Leben erweckt worden ist. Durch Paul Sheldons absolute Hilfslosigkeit wird ein Szenario heraufbeschworen, in dem Annie Wilkes ihre labile Psyche hemmungslos an ihrem Opfer austoben lässt, wobei die Beziehung zwischen Autor und Leser natürlich auch selbstreferentielle Züge aufweist. 
Stephen King lässt sein Alter Ego auch über die Unterscheidung zwischen ernsthafter und Schundliteratur schwadronieren, wobei der Leser nicht umhinkommt, auch Kings eigene Meinung zu diesem Thema hineinzuinterpretieren. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einigen wirklich grausamen Verstümmelungen, aber das Beste hebt sich King für das grandiose Finale auf, das einen so schnell nicht mehr loslässt.


Stephen King – „Holly“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.  

Stephen King – „Duddits – Dreamcatcher“

Samstag, 22. April 2023

(Ullstein, 827 S., HC) 
Nachdem Stephen King Mitte der 1970er Jahre mit „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und dem apokalyptischen Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“ schnell zum international gefeierten „King of Horror“ avancierte, lieferte er in den folgenden beiden Jahrzehnten nahezu im Jahrestakt – oftmals auch verfilmte - Bestseller wie „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „Stark – The Dark Half“, „Needful Things“, „Dolores“ und „The Green Mile“ ab. Nach einem Autounfall im Jahr 1999 rehabilitierte sich King auf eigene Weise, schrieb das Manuskript zu „Duddits – Dreamcatcher“ mit Patronenfüllfederhalter von Waterman innerhalb eines Jahres und widmete sich einem Thema, das bis heute nur sporadisch in Kings umfangreichen Oeuvre anzutreffen ist, der Invasion der Erde durch Außerirdische. 
Schon als Kinder waren Pete, Jonesy, Henry und Biber in der Kleinstadt Derry, Maine, unzertrennlich gewesen. Ein besonderes Verhältnis entwickelten sie dabei zu Douglas „Duddits“ Cavell, einem Jungen mit Down-Syndrom, den sie vor jugendlichen Rowdys gerettet haben und der telepathisch begabt gewesen ist. Über die „Linie“, die Duddits zu sehen in der Lage ist, haben die fünf Freunde sogar ein vermisstes Mädchen aus einem Kanalschacht retten können. 
Über die Jahre haben die vier Freunde zwar Duddits aus den Augen verloren, seit sie aus Derry weggezogen sind, und sehen sich auch nur noch selten, doch einmal im Jahr treffen sie sich im Herbst zu einem Jagdausflug in Bibers Hütte in den Wäldern von Jefferson Tract. In ihrem erwachsenen Leben ist Joe „Biber“ Clarendon ein neurotischer Tischler geworden, Pete Moore ein alkoholsüchtiger Autoverkäufer, während der als Psychiater praktizierende Henry Devlin mit dem Gedanken an Selbstmord spielt und College-Dozent Gary „Jonesy“ Jones sich von einem schweren Autounfall erholt, bei dem er sich eine gebrochene Hüfte zugezogen hat. Der Jagdausflug im Herbst 1999 steht allerdings unter einem besonderen Stern, als in Jefferson Tract Aliens notlanden und sich wie Parasiten in den Menschen einnisten und mit ihren telepathischen Kräften dafür sorgen, sich in ihre Wirte hineinzuversetzen und sie nach ihrem Willen zu manipulieren. Der psychotische Armee-Offizier Abraham Kurtz versucht, im Auftrag der Regierung die Ausbreitung der „Ripleys“ zu verhindern – so wie sie es im Geheimen seit 1947 praktiziert. Es wird nämlich einfach ohne Rücksicht auf Verluste jedes Leben im von den Aliens beanspruchten Gebiet ausgelöscht. Während dieses Vorhabens begegnet Jonesy während der Jagd dem Anwalt Richard McCarthy, der offensichtlich seit einigen Tagen orientierungslos im Wald herumirrt, unter starken Schmerzen und fürchterlichen Blähungen leidet sowie ein verdächtig aussehendes Mal im Gesicht trägt. Trotz seiner Bedenken nimmt Jonesy den Mann mit in die Hütte, wo er zusammen mit Biber miterleben muss, wie der Mann von innen heraus zu verwesen scheint und eine pilzartige Substanz ausscheidet. Währenddessen besorgen Pete und Henry Nahrungsvorräte im Dorf und geraten bei dem einsetzenden Schneefall in einen Autounfall, in dem eine Frau verwickelt ist, die geistig verwirrt erscheint und der einige Zähne fehlen. Für die vier Freunde entbrennt ein Wettlauf gegen die Zeit, geraten sie doch zwischen die Fronten des Militärs und den parasitären Außerirdischen. Bald wird ihnen bewusst, dass nur Duddits sie aus dem Schlamassel befreien und die Invasion beenden kann, obwohl er bereits selbst im Sterben liegt… 
„Duddits, der in seinem Never-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.“ (S. 659) 
Etwas mehr als zehn Jahr nach dem 1988 veröffentlichten „Tommyknockers – Das Monstrum“ bekommt es die Menschheit erneut mit telepathisch begabten Außerirdischen zu tun, doch dient die Geschichte diesmal vor allem dazu, Stephen Kings Trauma zu verarbeiten, von einem betrunkenen Autofahrer fast tot gefahren worden zu sein, auf jeden Fall während der langwierigen Genesung über ein halbes Jahr erhebliche Schmerzen erlitten zu haben. Vor diesem Hintergrund fällt es dem Leser leicht, in der Figur des College-Dozenten Gary „Jonesy“ Jones eine Art Alter Ego des berühmten Schriftstellers zu sehen, der ebenfalls einen schweren Autounfall überlebt hat und seitdem mit den Folgen seiner gebrochenen Hüfte zu kämpfen hat. Entsprechend authentisch wirken die vielen Beschreibungen körperlicher Schmerzen und die Schilderungen schwerer Verletzungen, bei denen nicht nur Zähne ausfallen und viel Blut fließt, sondern auch an Tränen und allen vorstellbaren menschlichen Ausscheidungen in gasförmiger oder flüssiger Form ebenso wenig gespart wird wie an Kraftausdrücken und derbem Humor. 
Wie in den meisten King-Romanen werden auch in „Duddits“ ganz gewöhnliche Menschen mit einer kaum vorstellbaren Krisensituation konfrontiert. King ließ sich dabei ganz offensichtlich von dem Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ inspirieren, den er auch namentlich erwähnt, und erzielt das Grauen vor allem aus der Vorstellung, dass die Außerirdischen die Menschheit auf der Gedankenebene infiltrieren und gefügig machen wollen. 
Dass die Heimatstadt der fünf Freunde Derry ist, verweist natürlich auf Kings Meisterwerk „Es“, wobei er immer wieder Elemente daraus aufgreift, vor allem den großen Sturm von 1985, der einen Großteil der Stadt verwüstete und dem auch der Wasserturm zum Opfer fiel. Bei aller sprachlicher Könnerschaft wirkt das Verhältnis zwischen Kurtz‘ psychotischen Trieb, die Außerirdischen zu eliminieren, und der berührenden Geschichte der fünf Freunde etwas unausgeglichen. 
Während die militärischen Protagonisten für meinen Geschmack etwas zu viel Raum erhalten und King fast schon ins Schwafeln gerät, hätten die Episoden, die das Leben der fünf Freunde in Derry und danach umfassen, weitaus ausführlicher dargestellt werden können. So wirkt „Duddits“ wie ein auf Action getrimmter Science-Fiction-Horror, den auch Lawrence Kasdan in seiner Verfilmung „Dreamcatcher“ nicht in den Griff bekommen hat. 

 

Stephen King – „Cujo“

Donnerstag, 5. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.) 
Schon früh in seiner schriftstellerischen Karriere hat Stephen King mit Castle Rock eine fiktive Kleinstadt geschaffen, in der viele seiner Geschichten angesiedelt sind, nach der Novelle „Die Leiche“ und dem Roman „Dead Zone – Das Attentat“ auch der 1981 veröffentlichte Roman „Cujo“, der in einer Zeit entstanden ist, als der Autor noch stark alkohol- und kokainsüchtig gewesen war und an die er sich eigenen Angaben zufolge kaum noch erinnern kann. Unter diesen Umständen ist mit ihm mit „Cujo“ ein unterhaltsamer und überwiegend sehr realistischer Horror-Thriller gelungen, der mit einem überschaubaren Ensemble und einer ebenso übersichtlichen Handlung auskommt. 
Wenn man in Castle Rock, Maine, von Ungeheuern spricht, ist damit der Polizist Frank Dodd gemeint, der in den 1970er Jahren sechs Frauen getötet und sich selbst gerichtet hatte, bevor ihn ein Mann namens John Smith identifizieren konnte. 1980 kommt das Grauen in Gestalt eines Bernhardiners in die Kleinstadt zurück. Der Werbefachmann Victor Trenton hat der New Yorker Werbeindustrie den Rücken gekehrt und sich mit seinem Kumpel Roger Breakstone selbstständig gemacht. Doch die Geschäfte von Ad Worx laufen schlecht, der größte Kunde, der Frühstücksflocken-Hersteller Sharp, droht abzuspringen, nachdem ein Farbstoff in den Himbeerflocken für unerwünschte, wenn auch ungefährliche Nebenwirkungen gesorgt hatte. 
Um den Sharp-Etat zu retten, fliegt Vic mit Roger für zehn Tage nach Boston und New York, allerdings kommt die Geschäftsreise mehr als ungelegen, da es um die Ehe von Vic und Donna nicht zum Besten steht. Tatsächlich hat Donna eine Affäre mit dem Dichter und Tennisspieler Steve Kamp beendet, der darüber so erbost ist, dass er Vic über die Affäre informiert. 
Donna fährt mit ihrem vierjährigen Son Tad den Ford Pinto derweil in die Werkstatt von Joe Camber am Rande der Stadt, wo sie das Nadelventil reparieren lassen will. Der Wagen hat es gerade noch bis in die Auffahrt geschafft, danach gibt der Motor kaum noch einen Ton von sich. Joe Camber trifft sie allerdings nicht an, und auch sonst niemanden. Seine Frau Charity ist mit dem gemeinsamen Sohn Brett zu ihrer Schwester Holly gefahren, Joe und sein Freund Gary wurden bereits von Cujo getötet. Der ansonsten liebenswürdige, aber ungeimpfte Bernhardiner wurde bei einer Kaninchenjagd von tollwütigen Fledermäusen gebissen und hat es nun auf die im Wagen eingesperrte FRAU und den JUNGEN abgesehen. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände sitzt Donna mit ihrem Sohn nun in der brüllenden Junihitze in einem defekten Wagen fest, und niemand scheint zu wissen, in welcher Notlage sie sich befinden… 
„Dass Vic für zehn Tage weggefahren war … damit hatte es angefangen. Dass Vic schon heute Morgen anrief, war Zufall Nummer zwei. Wenn er sie nicht erreicht hätte, wäre er gewiss besorgt gewesen und hätte es immer wieder versucht. Er hätte sich gefragt, wo sie sein könnten. Die Tatsache, dass alle drei Cambers nicht zu Hause waren und, wie es schien, über Nacht wegbleiben würden, war Zufall Nummer drei. Mutter, Sohn und Vater. Sie waren alle weg. Aber sie hatten den Hund zurückgelassen. Oh ha. Sie hatten… Plötzlich kam ihr ein grauenhafter Gedanke (…) Wenn sie nun alle tot in der Scheune lagen?“
Zwar beginnt „Cujo“ mit einem Albtraum, der den vierjährigen Tad nachts aufstehen lässt, weil er im Schrank ein Ungeheuer entdeckt zu haben glaubte, und auch wenn dieses Bild immer wieder im Laufe der Handlung neu aufgerollt wird, bleibt dies doch der einzige Verweis auf vage übernatürlich generiertes Grauen. 
Der eigentliche Horror spielt sich nämlich auf dem verlassenen Grundstück der Cambers ab, in dem verzweifelten Überlebenskampf von Donna Trenton und ihrem vierjährigen Sohn Tad, die keine Möglichkeit finden, aus dem liegengebliebenen Ford Pinto zu fliehen, ohne von dem tollwütigen Cujo angefallen zu werden. Um die recht profane Geschichte mit Leben zu füllen, nimmt sich King viel Zeit, die Familienprobleme der Trentons und der Cambers zu sezieren, wobei er ganz seine Stärke ausspielt, das einfache Leben von ganz gewöhnlichen Menschen zu beschreiben und so ein hohes Identifikationspotenzial bei seiner Leserschaft bereitzustellen. 
Was bei den Cambers vor allem wirtschaftliche Nöte sind, die durch einen Lotteriegewinn gerade etwas abgemildert werden und Charity die Reise zu ihrer Schwester ermöglichen, kommt bei den Trentons in Form einer Ehekrise und Affäre zum Ausdruck. King wechselt immer wieder geschickt die Erzählperspektive und damit auch den Ort des Geschehens, versucht auch gelegentlich, die Wahrnehmung des tollwütigen Hundes zu schildern, wenn er von den kleinsten Geräuschen und Gerüchen malträtiert wird und die im Wagen sitzende FRAU und den JUNGEN für sein Leid verantwortlich macht. So gelingt es King, mit einer recht simplen Geschichte, von Beginn an, einen dramaturgisch geschickt konstruierten Spannungsbogen aufzubauen, der sich in einem Finale entlädt, das durchaus überzeugender hätte gestaltet werden können. 
„Cujo“ ist zwar kein Meisterwerk aus der Feder des „King of Horror“, aber doch ein gemeiner, kleiner Reißer, der 1983 von Lewis Teague auch verfilmt worden ist. 

 

Stephen King – „Feuerkind“

Montag, 2. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 479 S., Tb.) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Debütroman „Carrie“ hat sich Stephen King zu einem der meistgelesenen Autoren weltweit entwickelt und gilt bis heute als „King of Horror“, dessen Werke vielfach verfilmt worden sind, vor allem seine Frühwerke – von „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ über „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Dead Zone – Das Attentat“ bis zu seinem 1980 veröffentlichten Roman „Firestarter“, der 1984 zunächst von Mark L. Lester mit Drew Barrymore in der Hauptrolle verfilmt wurde und 2022 eine Neuverfilmung erfuhr. 
Ähnlich wie schon in „Carrie“ und „Shining“ thematisiert King in „Feuerteufel“ die übersinnlichen Fähigkeiten eines Kindes. 
Weil er knapp bei Kasse war und die 200 angebotenen Dollar gut gebrauchen konnte, hat Andy McGee während seiner Studienzeit an einem von Dr. Wanless im Auftrag der Geheimdienstorganisation „Die Firma“ durchgeführten medizinischen Experiment teilgenommen, bei dem ihm und anderen Probanden ein Mittel namens Lot Sechs zugeführt worden ist, eine geheime Mischung aus einem Hypnotikum und einem milden Halluzinogenikum. 
Als Folge des Experiments brachten sich allerdings einige Teilnehmer um, seine Freundin Vicky Tomlinson entwickelte leichte Telekinese- und Telepathie-Fähigkeiten, während Andy selbst in die Lage kam, andere Menschen durch seine Gedanken zu beeinflussen. Weitaus stärker kamen die übernatürlichen Fähigkeiten allerdings bei ihrer Tochter Charlie zum Ausdruck, denn sie kann allein mit ihrem Willen Feuer entfachen, was „Die Firma“ näher erforschen möchte. Als sich die McGees allerdings dem Programm entziehen wollen, töten die Agenten Charlies Mutter und zwingen Andy und das Mädchen zur Flucht. Sie lassen sich mit einem Taxi zunächst von New York zum Flughafen nach Albany fahren und landen schließlich in Hastings Glen auf der abgelegen in den Wäldern liegenden Farm von Irv Manders und seiner Frau. 
Als die Agenten sie dort aufspüren, kommt es zu einer Katastrophe, bei der Charlie nicht nur die Hühner in Flammen aufgehen lässt, sondern auch einige Agenten der Firma sowie die Farm selbst. Andy und Charlie fliehen schließlich zur Hütte seines verstorbenen Vaters, wo sie allerdings nur für einen Winter Unterschlupf finden, bis sie von dem einäugigen indianischen Agenten John Rainbird gefasst ins Hauptquartier nach Longmont, Virginia, gebracht werden. 
Unter der Leitung von Captain Hollister werden Andy und Charlie getrennt untergebracht und auf ihre Fähigkeiten getestet. Bei Andy, an dem die Firma weniger interessiert ist, wird nur noch eine schwächer werdende Fähigkeit zur Gedankenkontrolle anderer Menschen festgestellt, so dass sich die Ärzte und Wissenschaftler sich bei ihm darauf beschränken, ihn mit Thorazin ruhigzustellen. Da sich Charly nach den Ereignissen auf der Farm dazu entschlossen hat, unter keinen Umständen mehr Feuer zu entfachen, entwickelt John Rainbird einen eigenen Plan, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und sie dazu zu bringen, gegen Einforderung von Gefälligkeiten kontrollierte Feuer zu entfachen. Doch damit beginnt Charlie auch, ihre Optionen neu zu überdenken… 
„Die Tests hatten ihren Komplex hinsichtlich des Feuers so weit abgebaut, dass er nur noch einem an vielen Stellen geborstenen Erdwall glich. Die Tests hatten ihr die Praxis vermittelt, die nötig war, um aus einem groben Schmiedehammer ein Instrument zu machen, das sie mit tödlicher Präzision handhaben konnte wie ein Messerwerfer seine Messer. Und die Tests waren für sie ein perfekter Unterricht gewesen. Sie hatten ihr ohne den Hauch eines Zweifels gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Sie.“ 
Stephen King hat schon in seinen früheren Romanen ein erstaunliches Talent entwickelt, Psi-Kräfte bei kindlichen und jugendlichen Protagonisten auf glaubwürdige Weise entwickeln zu lassen. In „Dead Zone – Das Attentat“ stürzte der sechsjährige Johnny Smith beim Schlittschuhlaufen und entwickelte daraufhin hellseherische Fähigkeiten, in „Carrie“ litt das titelgebende Mädchen unter dem religiösen Wahn ihrer alleinerziehenden Mutter und konnte mit Gedankenkraft Dinge bewegen. 
In „Feuerkind“ sind es die außer Kontrolle geratenen Experimente mit Drogen, die unterschiedlich stark ausgeprägte Psi-Kräfte hervorriefen und von den Eltern auf Charlie McGee übertragen wurden. King beginnt seinen etwas ausschweifenden Roman mit der Flucht von Andy McGee und seiner Tochter, nachdem Andys Frau ermordet worden ist. In Rückblicken wird die Zeit rekapituliert, in der Andy und Vicky an den Experimenten teilgenommen und ineinander verliebt haben. 
Immer wieder wechselt King auch die Erzählperspektive, springt von der Flucht der McGees zu ihren Verfolgern hin und her, bis auch der clevere John Rainbird zum Ende hin eine zunehmend wichtigere Rolle im Plot einnimmt. 
Was „Feuerkind“ an Plotentwicklung und Spannung vermissen lässt, macht King durch seine einfühlsame Figurenzeichnung wieder wett, auch wenn dabei kaum Grautöne auszumachen sind und die Handlung äußerst vorhersehbar verläuft. 

 

Stephen King – „Fairy Tale“

Sonntag, 18. September 2022

(Heyne, 880 S. , HC) 
Zwar ist Stephen King vor allem durch seine – auch (teilweise mehrfach) erfolgreich verfilmten -Horror-Romane wie „Es“, „Carrie“, „Needful Things – In einer kleinen Stadt“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ berühmt geworden, doch hin und wieder verschlägt es den „King of Horror“, der am 21. September 2022 seinen 75. Geburtstag feiert, auch ins benachbarte Fantasy-Genre. Seinen beeindruckendsten Beitrag lieferte der US-amerikanische Bestseller-Autor hier mit seiner acht Bände umfassenden Saga um den „Dunklen Turm“ ab, doch bereits in den 1980er Jahren probierte er sich in dem heute nahezu vergessenen Roman „Die Augen des Drachen“ in märchenhaften Gefilden aus. Seinem fast 900-seitigen Epos „Fairy Tale“ könnte ein ähnliches Schicksal blühen, kommt hier doch Kings immer wieder kritisierte Weitschweifigkeit besonders deutlich zum Tragen und macht aus einem anfangs einfühlsam geschriebenen Entwicklungsroman ein uninspiriertes Märchen, dem es vor allem an Spannung und Atmosphäre fehlt. 
Charlie Reade war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter auf dem Heimweg von einer Besorgung zum Essen auf der Sycamore Street Bridge von einem Auto erfasst und getötet wurde. Seinem Vater hat der Verlust so zugesetzt, dass er seinen Kummer in Alkohol ertränkte und seinen Job als Schadensregulierer bei einer Versicherung verlor. Dank eines Kollegen ging Charlies Vater jedoch regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, wurde wieder von seiner alten Firma eingestellt und hat sich mittlerweile selbstständig gemacht. 
Mit siebzehn Jahren steht Charlie nun an der Schwelle zum Erwachsensein und hat gute Chancen auf ein Sport-Stipendium, als er eines Tages am unheimlichen „Psycho-Haus“, das von dem einsiedlerischen Mr. Bowditch bewohnt wird, ein Wimmern wahrnimmt. Charlie kommt gerade rechtzeitig, um den Notruf zu alarmieren, nachdem Mr. Bowditch von der Leiter gefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. Der Teenager besucht daraufhin nicht nur regelmäßig Mr. Bowditch im Krankenhaus, sondern kümmert sich auch um Radar, die in die Jahre gekommene deutsche Schäferhündin des mürrischen alten Mannes. Auch als Mr. Bowditch wieder nach Hause kommt, betreut Charlie sowohl den Hausherrn als auch die Schäferhündin, wobei ihm der abgeschlossene Schuppen auf dem Grundstück besonders zu faszinieren beginnt. 
Wie sich herausstellt, verfügt Mr. Bowditch über einen Eimer voller Goldkügelchen in seinem Tresor, mit dem er mehr als nur die Krankenhausrechnung bezahlen kann. Als Mr. Bowditch an einem Herzinfarkt stirbt, erbt Charlie dessen ganzes Vermögen. Als Radar immer älter und gebrechlicher wird, findet Charlie im Schuppen den Zugang zu einer anderen Welt, die auch einst Mr. Bowditch betreten hat, um sein Leben zu verlängern. Nun nimmt Charlie eine abenteuerliche Reise ins Land Empis, das schon bessere Zeiten erlebt hat. In der Stadt Lilimar wird Charlie bald in einen Kerker gesperrt und zum Kämpfen gezwungen. Für viele seiner Mitstreiter wird Charlie als ein Prinz betrachtet, der das alte Königreich retten wird… 
„Die Monarchen waren nicht ausgerottet und die Mitglieder des Hauses Galien auch nicht, zumindest nicht alle. Sie waren von der Macht, die jetzt in Elden hauste, verflucht worden – es musste dieselbe Macht sein, die auch die nah an der Mauer erbauten Vorstadthäuser in Schutt und Asche gelegt hatte -, aber sie waren am Leben. Das verriet ich Freed allerdings nicht. Womöglich wäre das für uns beide gefährlich gewesen.“ (S. 622) 
So wie Stephen Kings Saga vom „Dunklen Turm“ maßgeblich von Robert Brownings Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ inspiriert wurde, verbeugt sich der Autor in seinem neuen Werk deutlich vor Autoren wie Edgar Rice Burroughs, Robert E. Howard, Ray Bradbury und Howard Phillips Lovecraft, aber auch Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ und Elemente aus Grimms Märchen und der erfolgreich verfilmten „Die Tribute von Panem“-Trilogie. finden sich in „Fairy Tale“. 
Allerdings bekommt King die unterschiedlichen Einflüsse nicht zu einer eigenen unterhaltsamen Geschichte zusammen. Es wirkt sogar so, als wären zwei verschiedene Autoren am Werk gewesen. Während das erste Drittel eindeutig Stephen King in Bestform präsentiert, der auf gewohnt einfühlsame Weise die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der durch den frühen Tod seiner Mutter und den Alkoholismus seines Vaters seiner Kindheit beraubt geworden ist und durch die Freundschaft zu einem eigenbrödlerischen alten Mann Zugang zur „Anderwelt“ bekommt, setzt er in den nachfolgenden zwei Dritteln eher stümperhaft die Märchentradition fort, die gefährliche Reise eines Jünglings auf dem Weg zu einer höheren Berufung zu schildern. King fehlt hier nicht nur die sprachliche Finesse, um bedrohliche oder faszinierende magische Welten erstehen zu lassen, wie es sowohl Ray Bradbury („Das Böse kommt auf leisen Sohlen“) als auch Howard Phillips Lovecraft („Schatten über Innsmouth“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Berge des Wahnsinns“) vermochten, sondern vor allem auch an einer packenden Geschichte. 
King lässt seine Leserschaft ebenso wie seinen jungen Protagonisten, der eigentlich nur einen Weg finden will, Radar zu einem jüngeren Ich zu verhelfen, über Hunderte von Seiten im Unklaren darüber, wohin die Reise denn gehen soll. Natürlich sind Kämpfe, Mutproben und Gefahren zu bestehen, aber die Anderwelt wird ebenso wie die darin lebenden Figuren viel zu oberflächlich und lieblos beschrieben. So richtig eintauchen kann man als Leser in diesen uninspirierten Mischmasch vertrauter Fantasy-Elemente nicht. Dazu bleiben die Figuren zu farblos, der Plot plätschert unaufgeregt vor sich hin. Mindestens 300 Seiten hätte sich King hier sparen können. Und wenn sich Paul Greengrass („Neues aus der Welt“, „Die Bourne Verschwörung“) an die Verfilmung macht, wird er den Plot auch gnadenlos straffen müssen, um aus „Fairy Tale“ einen unterhaltsamen Film zu machen. Für King kann es dagegen nur heißen, wieder zurück zu alten Stärken im Horror-Genre zu finden. 

Joe Hill – „Vollgas“

Sonntag, 29. Mai 2022

(Festa, 478 S., eBook) 
Um sich von dem Namen seines übermächtigen Vaters, Horror-Ikone Stephen King, zu emanzipieren, schreibt Joseph Hillström King seit jeher unter dem Pseudonym Joe Hill, hat sich aber mit Romanen wie „Blind“, „Teufelszeug“ und „Christmasland“ längst aus dem Schatten des Mannes lösen können, der wie kein Zweiter die moderne Horror-Literatur geprägt hat. Während sein Vater mit Joe Hills jüngeren Bruder Owen King schon den epischen Roman „Sleeping Beauties“ zusammen geschrieben hat, ist es bei Joe Hill und Stephen King bislang nur bei Kurzgeschichten zu einer Zusammenarbeit gekommen, die sich in dem von Festa herausgegebenen Band „Vollgas“ in Form zweier eindrucksvoller Geschichten wiederfindet. Die übrigen elf Geschichten können das hohe Niveau der beiden Gemeinschaftsarbeiten allerdings nicht immer halten. 
Mit der gemeinsam geschriebenen Geschichte „Vollgas“, die von HBO verfilmt werden soll, nimmt die Sammlung immerhin gleich ordentlich Fahrt auf. Nach einem unerfreulichen Zwischenfall, bei dem ein junges Mädchen und Roy Klowes auf brutale Weise getötet wurden, befindet sich die Bikergang The Tribe von Vince Adamson und seinem rebellischen Sohn Race auf der Fahrt nach Vegas und macht im Painted Desert Halt, wo sich die Truppe über ihr weiteres Vorgehen abstimmen muss. Dean Clarke hatte vor, mit einem Startkapital von 60.000 Dollar mit Race ein Meth-Labor in Smith Lake aufzubauen, wozu ihm Vince mit zwanzig Riesen aushalf, doch das Labor brannte bereits am ersten Betriebstag aus. Nun will sich Race die 60 Riesen von Clarkes Schwester in Show Low zurückholen. Nachdem ein Truckfahrer die Unterhaltung mitverfolgt hat, macht er sich mit seinem Truck zunächst vom Acker. Als der Tribe eine Stunde später wieder auf den Truck stößt, macht der Fahrer nach und nach kurzen Prozess mit den Gang-Mitgliedern… 
Im Nachwort macht Joe Hill keinen Hehl daraus, dass „Vollgas“ von Richard Mathesons fabelhafter Geschichte inspiriert wurde, die der junge Steven Spielberg als „Duell“ verfilmt hat. Auch wenn „Vollgas“ wenig originell wirkt, hat sie doch das nötige Tempo und den Nervenkitzel, um überzeugen zu können. 
In „Das Karussell“ besucht der 18-jährige Paul mit seiner Freundin Geri, ihrem Bruder Jake und dessen Freundin Nancy das am Ende des Cape Maggie Piers gelegene Karussell „Wild Wheel“, dessen Tiere eine verstörende Kollektion grotesker Wesen darstellen. Der Karussellmann hat zu jedem der ungewöhnlich aussehenden Tiere eine exklusive Geschichte parat. Nach ein paar Runden auf dem Karussell lassen sich die vier Freunde weiter durch den Freizeitpark treiben, bis Nancy feststellt, dass ihr ein nagelneuer Fünfziger abhandengekommen ist. Kaum spricht Paul die Vermutung aus, dass der Karussellmann dafür verantwortlich gewesen sein könnte, als er Nancy auf das Pferd half, nimmt Jake dem mittlerweile seinen Rausch ausschlafenden Karussellbetreiber zwei Zwanziger ab, doch wenig später entwickeln die Tiere des Wild Wheel ein furchterregendes Eigenleben… 
In „Wolverton Station“ begegnen uns während einer Zugfahrt Wölfe in Menschengestalt, „An den silbernen Wassern des Lake Champlain“ bekommen wir eine Variation des Ungeheuers von Loch Ness vorgesetzt, in „Faun“ trifft sich eine exklusive Großwild-Jäger-Truppe. Nach diesen wenig inspirierenden Geschichten taucht mit „Überfällig“ wieder ein echtes Highlight auf. 
Nachdem sich seine Eltern gemeinsam in dem Auto bei laufendem Motor in ihrer Garage aus dem Leben geschieden sind, hat John Davies seinen Job als Fahrer bei einer Spedition verloren und bekommt zufällig die Möglichkeit, in der Bücherei, in die er das längst überfälliges Buch „Eine wunderbare Geschichte“ seiner Mutter zurückbringen wollte, den Büchereibus zu fahren. Doch seine Kunden scheinen oft aus einer anderen Zeit zu kommen…
 „Die Möglichkeit, dass jemand aus den 60er Jahren aufgetaucht sein könnte, um ein überfälliges Buch zurückzugeben und vielleicht neuen Lesestoff auszuleihen, hatte nicht die Wirkung auf mich, die man vielleicht erwarten würde. Ich hatte keine Angst, zu keinem Zeitpunkt. Ich war nicht beunruhigt. Eher verspürte ich so etwas wie Dankbarkeit und auch eine gewisse mild amüsierte Verwirrung.“ (S. 203) 
Mit „Meine Welt dreht sich nur um dich“ präsentiert Hill eine unterhaltsame Science-Fiction-Geschichte über ein Mädchen, das zu seinem Geburtstag von seinem Vater eine Kristallkugel mit einer hässlichen Meerjungfrau geschenkt bekommt, zur Feier des Tages aber einen Münz-Freund mietet, der ihr eine Stunde lang wie Aladins Flaschengeist nahezu alle Wünsche zu erfüllen verspricht. Gemeinsam machen sie sich zur Spitze der Speiche auf, um einen echten Sonnenuntergang zu erleben. Doch damit ist das Abenteuer noch längst nicht vorbei… „Tweets aus dem Zirkus der Toten“ verbindet auf intelligente, satirisch angehauchte Weise klassischen Horror mit den Tücken moderner Kommunikationskanäle, in „Mums“ wird die Leiche der beerdigten Mutter von Jack durch eine ungewöhnliche Samen-Mischung zu unnatürlichen Leben wiedererweckt. 
Die wiederum mit Stephen King verfasste Geschichte „Im hohen Gras“ erzählt von der Fahrt, die Cal DeMuth mit seiner im sechsten Monat schwangeren Schwester Becky von Portsmouth zu Onkel Jim und Tante Anne nach San Diego unternehmen und dabei auf dem Parkplatz einer Kirche aus dem nahegelegenen Feld den Hilferuf eines Jungen vernehmen. Doch als Becky und Cal dem Ruf in das hohe Gras folgen, erwartet sie das pure Grauen… 
Ebenso interessant wie die besten Geschichten in diesem Band sind das Vorwort und die Anmerkungen zum Schluss, in denen Joe Hill davon schreibt, wie er als Sohn eines so berühmten Vaters seine ersten eigenen Versuche, Schriftsteller zu werden, bewerkstelligte und welche Personen, Schriftsteller und Geschichten ihn selbst inspiriert haben. Die Geschichten sind in einem Zeitraum von über einem Jahrzehnt entstanden und decken ein breites Spektrum an Themen ab, sind dabei aber unterschiedlich in Spannungsaufbau, Atmosphäre und Auflösung. Da mindestens die Hälfte der Geschichten großartig unterhalten, sind die weniger interessanten durchaus zu verschmerzen.  

Stephen King – „In einer kleinen Stadt“

Samstag, 16. April 2022

(Hoffmann und Campe, 698 S., HC) 
Als Stephen King 1991 mit „Needful Things“ seinen 19. Roman veröffentlichte, war er schon längst der unangefochtene „King of Horror“, der mit Bestsellern wie „Carrie“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Stark – The Dark Half“ das Grauen in den Alltag meist kleinstädtischer Bürgerlichkeit Einzug halten ließ. Mit „In einer kleinen Stadt – Needful Things“ kehrt King in die fiktive Kleinstadt Castle Rock zurück, Schauplatz seiner vorangegangenen Bücher wie „Cujo“, „Stark – The Dark Half“ und „Dead Zone – Das Attentat“
Als in Castle Rock das Schild „Eröffnung demnächst!“ darauf hinweist, dass mit „Needful Things“ eine „neue Art von Laden“ seine Tore öffnet, ist die Neugier der Bevölkerung groß. Schließlich verkündet ein Schild für den 9. Oktober eine „Gala-Eröffnung“. Doch noch vor der offiziellen Eröffnung bekommt der elfjährige Brian Rusk mit, was es mit dem neuen Geschäft auf sich hat. Als er noch in Tagträumen an seine Lehrerin Miss Ratcliffe versunken ist, entdeckt er, dass das Schild am Laden schon wieder ausgewechselt worden ist. Neugierig betritt er das Geschäft, in dem ihn der betagte Leland Gaunt begrüßt und ihm als ersten Kunden einen speziellen Preis für das Objekt einräumt, das den Jungen möglicherweise interessiert. 
Auf die Frage, was Brian lieber als alles auf der ganzen Welt hätte, antwortet Brian prompt: „Sandy Koufax“. Tatsächlich findet Gaunt in seinem Karton mit Baseballkarte nicht nur die ersehnte Baseballkarte von Sandy Koufax aus dem Jahr 1956, sondern sie ist auch noch „für meinen guten Freund Brian“ signiert. Dafür muss Brian nur 85 Cent hinlegen, doch zur Bezahlung gehört noch die Ausübung eines an sich harmlosen Streiches, der darin besteht, die zum Trocknen im Garten aufgehängten weißen Laken von Wilma Jerzyck mit Schlamm zu bewerfen. Sie macht dafür Nettie Cobb verantwortlich, die einst ihren gewalttätigen Mann ermordet hatte und einige Jahre im Gefängnis verbrachte, bevor sie als Haushälterin bei Polly Chalmers eine neue Chance im Leben erhielt. Wilma und Nettie tragen nämlich schon seit einiger Zeit einen Streit aus, bei dem nun aber definitiv eine Grenze überschritten wurde. Andere Kunden von „Needful Things“ machen eine ähnliche Erfahrung wie Brian. Hugh Priest, der den städtischen Müllwagen fährt und wegen seiner Trunksucht immer wieder mit Henry Beaufort, dem Besitzer des Mellow Tiger, Ärger bekommt, erwirbt bei „Needful Things“ einen Fuchsschwanz, der ihn an das Kabrio seines Dads erinnert, Deputy Norris Ridgewick eine Angel und der verschuldete Stadtrat Danforth „Buster“ Keeton ein Pferderennspiel, mit dem er zukünftige echte Rennen simulieren und mit den Gewinnen die aus der Staatskasse veruntreuten Gelder zurückzahlen kann. Während diese Objekte nur so viel Geld kosten, wie der Käufer erübrigen kann, sind die damit verbundenen Streiche umso perfider, da sie Feindschaften wie zwischen den Baptisten und den Katholiken, zwischen Keeton und Ridgewick, zwischen Nettie und Wilma, auf die Spitze treiben. Selbst die Beziehung zwischen Sheriff Alan Pangborn und Polly Chalmers droht unter Leland Gaunts Ränkespiel zu zerbrechen. Als schließlich mit Ace Merrill ein früherer Krimineller in die Stadt zurückkehrt, beginnt das Fass überzulaufen, nachdem Wilma und Nettie haben ihren Streit bereits mit dem Tod bezahlen mussten … 
„Die Waren, die auf die Einwohner von Castle Rock einen solchen Reiz ausgeübt hatten – die schwarzen Perlen, die heiligen Reliquien, das Buntglas, die Pfeifen, die alten Comic-Hefte, die Baseballkarten, die antiken Kaleidoskope – waren alle verschwunden. Mr. Gaunt war zu seinem wahren Geschäft übergegangen, und wenn die Sache zu Ende ging, war das wahre Geschäft immer dasselbe. Der Gegenstand, mit dem er handelte, hatte sich im Lauf der Jahre geändert, genau wie alles andere, aber derartige Veränderungen waren oberflächlich, sie waren Guss mit unterschiedlichen Aroma auf dem gleichen dunklen, bitteren Kuchen. Letztendlich bot Mr. Gaunt ihnen immer Waffen an – und sie kauften immer.“ (S. 556) 
Stephen King nimmt sich einmal mehr viel Zeit, die Verhältnisse in Castle Rock zu beschreiben und die Schicksale so einiger ihrer Bürger so zu thematisieren, dass sie für den Leser zu Menschen aus Fleisch und Blut werden. Die einfühlsamen Charakterisierungen gehen auch schnell mit den Antipathien einher, die die einzelnen Figuren anderen Bewohnern der Stadt gegenüber empfinden. Dass der diabolische Geschäftsmann geschickt mit den Begierden und Animositäten innerhalb der Bevölkerung spielt, macht „Needful Things“ von Beginn an zu einer fesselnden Lektüre, da niemand von Leland Gaunts Kunden auch nur ahnt, was er mit den an sich harmlosen Streichen anrichtet. Da ist jeder Einzelne bereits so im Bann des Gegenstandes gefangen, der wichtiger als alles andere geworden ist, dass die Auswirkungen der Streiche gar nicht abzusehen sind. Die Vernunft geht bei der kleingeistigen Habgier völlig flöten, was am Ende in einem blutigen Fiasko mündet, bei dem King leider auch den Bogen etwas überspannt. Bis zum kriegsähnlichen Showdown bietet „In einer kleinen Stadt“ aber einen psychologisch fundierten Blick in die Seele einer Kleinstadt, in der es unter der Oberfläche eben nicht so idyllisch ist, wie es zunächst den Anschein hat.  

Stephen King – „Friedhof der Kuscheltiere“

Mittwoch, 16. März 2022

(Hoffmann und Campe, 384 S., HC) 
Stephen King hatte seit Mitte der 1970er Jahre bereits so erfolgreiche und teilweise durch namhafte Regisseure wie Brian De Palma, Tobe Hooper, Stanley Kubrick und George A. Romero verfilmte Bestseller wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Cujo“, „Schwarz“ und „Christine“ veröffentlicht, als 1983 mit „Pet Sematary“ sein wohl angsteinflößendstes Werk erschien – das mittlerweile zweimal verfilmt (davon einmal mit Fortsetzung) wurde und vor allem in Punk-Rock-Kreisen sehr inspirierend wirkte. 
Als Louis Creed den Posten als Leiter der Krankenstation der University of Maine übernimmt, zieht er mit seiner Frau Rachel und den beiden Kindern, der fünfjährigen Ellie und dem zweijährigen Gage, an den Rand der Kleinstadt Ludlow, wo er sich sofort mit dem älteren Nachbarn Jud Crandall anfreundet. Dieser erzählt ihm nicht nur interessante Geschichten aus der Vergangenheit der Stadt, sondern weist ihn auch in das Geheimnis des Pfades ein, der von der Grenze des geräumigen Grundstücks, auf dem die Creeds jetzt leben, durch Grasland, Wälder und Felsen hinauf zu einem einst von den Micmac-Indianern angelegten Tierfriedhof führt. Eines Tages unternimmt Jud mit der ganzen Creed-Familie einen Ausflug dorthin, worauf Ellie sich sorgen macht, dass ihr Kater Church bald sterben könnte. Schließlich liegt ihr neues Zuhause dicht an der Route 15. Louis beschließt, den Kater zu kastrieren, worauf dieser weit träger und somit ungefährdeter wirkt. Louis hat sich gerade in der Krankenstation eingelebt, als ein Student eingeliefert wird, der beim Joggen von einem PKW erfasst und an einen Baum geschleudert wurde. 
Für Victor Pascow kommt jede Hilfe zu spät, aber der Sterbende röchelt noch ein paar Worte, in denen er erwähnt, dass der Tierfriedhof nicht der richtige Friedhof sei, und schließlich: „Der Acker im Herzen eines Mannes ist steiniger, Louis. Ein Mann bestellt ihn … und lässt darauf wachsen, was er kann.“ In der Nacht darauf führt Pascow den schlafwandelnden (?) Louis zu dem Tierfriedhof, doch glaubt Louis am nächsten Tag, diese Episode nur geträumt zu haben. Churchs Kastrierung hat offensichtlich nicht zur Verlängerung seines Lebens beigetragen, denn wenig später wird tot in der Nähe der Straße aufgefunden. Jud führt Louis mit dem Kater zum Tierfriedhof und führt ihn noch ein Stück weiter, wo Louis den Kadaver vergräbt. Am nächsten Morgen taucht Church im Haus der Creeds wieder auf. Außer Louis hat aus der Familie auch niemand etwas von dem Begräbnis mitbekommen, da Louis‘ Familie zu Rachels Eltern geflogen ist. Nach ihrer Rückkehr beklagt sich zwar vor allem Ellie über den widerlichen Gestank des Katers, aber sonst bemerkt außer Louis kaum die Veränderung, die in dem Tier vorgegangen ist. 
Dazu zählt vor allem die grausame Art, mit der Church nun seine Opfer zerlegt. Doch mit Church ist erst der Anfang einer Kette von schrecklichen Ereignissen in Gang gekommen, an denen Jud mit seinen Erzählungen von der Geschichte des Friedhofs nicht ganz unschuldig ist … 
„Die Laster waren an allem schuld. Diese verdammten Laster. Aber das stimmte nicht. Er spürte, wie der Tierfriedhof an ihm zerrte – und etwas, das dahinter lag. Seine Stimme, die einst eine Art verführerisches Wiegenlied gewesen war, eine Stimme, die Trost in Aussicht stellte und eine verträumte Art von Macht, klang jetzt tiefer und verhängnisvoll – hart und bedrohlich. Halt dich da raus. Aber er wollte sich nicht heraushalten. Dafür reichte seine Verantwortung zu weit zurück.“ (S. 295) 
Es ist überliefert, dass Stephen King selbst so abgestoßen von seiner Geschichte gewesen sei, dass er meinte, damit eine persönliche Grenze überschritten zu haben. Tatsächlich geht einem die Story eines ganz gewöhnlichen Familienvaters, der den Tod des geliebten Haustiers und vor allem seiner Liebsten nicht auf sich beruhen lassen kann. Statt die gewöhnlichen Phase der Trauer zu durchlaufen, fordert er das Schicksal heraus, lässt sich durch die besorgniserregenden Geschichten seines Nachbarn animieren, die Toten eben nicht in Ruhe zu lassen, sondern alles zu unternehmen, sie wieder ins Leben zurückzuführen – wofür er einen schrecklichen Preis bezahlen muss. 
Insofern liefert Stephen King eine höchst moralische Geschichte ab, die davor warnt, den natürlichen Kreislauf von Leben und Tod auf „magische“ Weise zu manipulieren. Was dabei herauskommt, wenn man die Toten nicht ruhen lässt, muss Louis Creed auf furchtbare Art am eigenen Leib feststellen. Dabei drückt die sehr geradlinig mit einem sehr überschaubaren Ensemble inszenierte Geschichte nur die Verzweiflung aus, die der Tod eines geliebten Wesens, sei es Mensch oder Tier, bei den Hinterbliebenen auslöst. Die einzelnen Stationen beschreibt King so minutiös, dass sein Publikum kaum vermeiden kann, sowohl die körperlichen Strapazen als auch die seelischen Nöte seines Protagonisten nachzuempfinden. Die Spannung bleibt dabei allerdings etwas auf der Strecke, da die Ereignisse allzu vorhersehbar sind. Doch das Grauen hat sich da längst schon in die Knochen geschlichen und lässt sich so schnell nicht ablegen.