Posts mit dem Label Stephen King werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Stephen King werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Stephen King – „Dolores“

Sonntag, 14. September 2025

(Hoffmann und Campe, 352 S., HC)
Seit Stephen King 1987 mit „Sie“ sein bevorzugtes Terrain – übernatürlichen Horror in das Leben von ganz gewöhnlichen Menschen einziehen zu lassen – verlassen hat und mit Annie Wilkes eine psychopathische Krankenschwester ihren Lieblingsschriftsteller drangsalieren ließ, hat der „King of Horror“ immer wieder mal auf klassische Gruselelemente und Topoi der fantastischen Literatur verzichtet, um einfach das Grauen in den Fokus seiner Erzählungen zu rücken, den Menschen anderen Menschen antun, so auch in Kings 1992 veröffentlichten Roman „Dolores“, der zwei Jahre später mit „Misery“-Hauptdarstellerin Kathy Bates und Jennifer Jason Leigh erfolgreich verfilmt worden ist.
Die fünfundsechzigjährige Haushälterin Dolores Claiborne hat ihr ganzes Leben auf der Insel Little Tall vor der Küste Maines im Norden von Neuengland verbracht. Als ihre Arbeitgeberin Vera Donovan bei einem Sturz von der Treppe ums Leben kommt, wird Dolores verdächtigt, sie getötet zu haben. Schließlich wurde an der Treppe nicht nur Dolores‘ Unterrock, sondern auch ein Nudelholz gefunden. Außerdem konnte Dolores nie den Verdacht ausräumen, dass sie bereits ihren Mann Joe St. George umgebracht haben soll, von dem bekannt war, dass er seine Familie drangsalierte. Als Dolores zum Verhör bei Andy Bissette und Frank Proulx ins Polizeirevier geladen wird, überrascht sie die Cops mit dem Geständnis, ihre Arbeitgeberin nicht getötet zu haben, wohl aber ihren Ehemann. Wie es zu beiden Todesfällen gekommen ist, erzählt Dolores in einem langen Monolog. Sie beginnt damit, dass Joe und sie drei Kinder in die Welt gesetzt haben. Als Joe 1963 starb, war Selena fünfzehn, Joe Junior dreizehn und Little Pete neun Jahre alt. Dolores betrachtete Joe nie als Mann, sondern eher als Mühlstein. Er war ein Taugenichts, ständig betrunken und verspielte ein Großteil des Geldes, das Dolores seit 1950 bei den Donovans verdiente, beim Pokern. Das weitaus Schlimmste war jedoch, dass er Dolores körperlich wie psychisch misshandelte, bis sie dem ein Riegel vorschob, was aber nur dazu führte, dass sich Joe an Selena zu vergreifen begann. Als Dolores von dieser Ungeheuerlichkeit erfuhr, reifte der Plan, ihn für immer aus dem Verkehr zu ziehen, und der Plan reifte nach einem Gespräch mit Vera und den Feierlichkeiten zu der bevorstehenden Sonnenfinsternis.

„Wenn du es hier und jetzt tun würdest, dann würdest du es nicht für Selena tun. Du würdest es auch nicht für die Jungen tun. Du würdest es tun, weil all dieses Betatzen und Begrapschen drei Monate lang oder noch länger vor deiner Nase passiert ist und du zu blöd warst, es zu bemerken. Wenn du ihn umbringst und dafür ins Gefängnis gehst und deine Kinder nur an den Sonntagnachmittagen siehst, dann solltest du auch wissen, weshalb du es tust: nicht, weil er sich an Selena vergriffen, sondern weil er dich zum Narren gehalten hat.“ (S. 132)

Stephen King ist nicht nur ein Meister der Kurzgeschichte (wie er in vielen Sammlungen wie „Blut“, „Im Kabinett des Todes“, „Nachtschicht“ und „Alpträume“ bewiesen hat) und der Kurzromane („Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, „Langoliers“, „Nachts“), sondern hat auch für seine Romane immer wieder neue Erzählformen gefunden. So hat er „Dolores“ als 350-seitigen Monolog der titelgebenden Protagonistin angelegt, die ohne Pause – also ohne die übliche Einteilung in Kapitel – von ihrem Leben mit ihrer Familie und bei Vera Donovan erzählt – und natürlich davon, wie es aus ihrer Sicht zu den beiden Todesfällen gekommen ist. Indem wir nur die Sichtweise von Dolores geschildert bekommen, darf man sich nicht allzu sicher sein, ob wir auch die Wahrheit erfahren, aber Stephen King hat seine Protagonistin so sympathisch gezeichnet, dass es einem schwerfällt, ihren Worten nicht zu glauben. 
Wie später auch in „Das Bild – Rose Madder“ präsentiert „Dolores“ das Portrait einer Frau, die ihr Leben lang unter der Gewalt ihres Mannes zu leiden hatte und sich dennoch nicht davon unterkriegen ließ, stattdessen eine Entscheidung traf, die den schädlichen Einfluss auf ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder für immer außer Gefecht setzen sollte. 
Dolores ist sich allerdings schmerzlich bewusst, dass ihr Verhalten nicht nur ihr Ansehen auf der Insel, sondern auch die Einstellung ihrer Kinder zu ihr verändert hat. Auch wenn die Rahmenhandlung nur auf dem Polizeirevier stattfindet, wird die Leserschaft durch die lebhafte Darstellung der Erzählerin auch zu den Schauplätzen auf der Insel, vornehmlich Dolores‘ Zuhause und Vera Donovans Anwesen, gelenkt, und die erinnerten Gespräche, die Dolores mit ihrem Mann, ihrer Tochter und Vera geführt hat, sorgen zusätzlich für ein vielschichtiges, lebendiges und vor allem fesselndes Bild des Lebens in den 1960er Jahren, als Frauen noch nicht das Standing hatten wie heutzutage. 

Stephen King – „Das Spiel“

Sonntag, 24. August 2025

(Heyne, 346 S., Jumbo)
Es muss kein mörderischer Clown in der Kanalisation von Derry („Es“), ein verwunschener „Friedhof der Kuscheltiere“ oder ein mit durchaus menschlichen Gefühlen versehenes Auto („Christine“) sein, das bei dem „King of Horror“ für gruselige Stimmung sorgt. Bereits mit „Sie“ hat Stephen King eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass Horror auch ohne übernatürliche Elemente funktionieren kann. Mit dem 1992 veröffentlichten Roman „Das Spiel“ treibt der US-amerikanische Bestseller-Autor seine Kunst auf die Spitze.
Nach siebzehn Ehejahren ist bei Gerald und Jessie Burlingame die Lauft aus dem Liebesleben raus. Doch der erfolgreiche Anwalt Gerald hat sich etwas einfallen lassen, dass wieder für etwas Pepp beim Sex sorgt. Sie verbringen ein Wochenende in ihrem abgeschiedenen Sommerhaus am Lake Kashwakamak im Westen Maines, wo Gerald nach ersten Versuchen mit Schals mittlerweile dazu übergegangen ist, die Hände seiner Frau mit Handschellen ans Bett zu fesseln, bevor er so richtig in Fahrt kommt. Doch Jessie hat längst die Lust an diesen für sie öden und erniedrigenden Spielen verloren, doch will Gerald natürlich nichts davon hören. Selbst als sie diesmal ihrem Abscheu lautstark Ausdruck verleiht, will Gerald nicht von ihr ablassen, bis sie ihm mit ihren Füßen einen kräftigen Tritt in die Eier verpasst. Doch ihr Mann klappt nicht nur mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, sondern erleidet auch einen tödlichen Herzinfarkt. Da hängt sie nun, nahezu nackt, mit nur einem hauchdünnen Höschen bekleidet, ans massive Holzbett gefesselt, ohne Chance, sich selbst daraus zu befreien, mitten im Nirgendwo. Ein streunender Hund macht sich an Gerald zu schaffen, der Durst und die Krämpfe machen Jessie zu schaffen. Verzweifelt versucht sie, an das Glas Wasser am Kopfende des Bettes zu gelangen, und während sie immer wieder in die Bewusstlosigkeit abdriftet, denkt sie an die Sonnenfinsternis in ihrer Kindheit zurück, die sie mit ihrem Vater beobachtete, und während sie auf seinem Schoß saß, ergoss er seinen Samen auf ihr Unterhöschen. Doch mehr noch als diese schmerzlichen Erinnerungen an den Missbrauch macht ihr der Besuch eines nächtlichen Eindringlings zu schaffen…

„Sie konnte den Wind wehen und den Hund bellen hören, war wach, aber nicht wissend, hörte, aber verstand nicht, verlor alles im Grauen des halb erblickten Schemens, des grässlichen Besuchers, des ungebetenen Gasts. Sie konnte nicht aufhören, über den schmalen, missgestalteten Kopf nachzudenken, die weißen Wangen, die hängenden Schultern … aber ihre Augen wurden immer häufiger zu den Händen der Kreatur gezogen: den baumelnden, langfingrigen Händen, die weiter an den Beinen hinabreichten als es normale Hände eigentlich dürften.“ (S. 140)

Mit „Das Spiel“ hat es Stephen King tatsächlich geschafft, ein Ein-Personen-Stück mit wenigen weiteren Nebenfiguren zu einem Schreckensszenario der besonders intensiven Art zu inszenieren, das 2017 sogar als Netflix-Film adaptiert worden ist. Die Qualen, die die tapfere, bereits in ihrer Kindheit missbrauchte Jessie in der Einsamkeit eines idyllisch gelegenen Landhauses erleben muss, beschreibt Stephen King so intensiv, als erlebe man selbst diese Schmerzen, den quälenden Durst, die Muskelkrämpfe, die Erinnerungen und Halluzinationen (?) und die verzweifelten Befreiungsversuche und ungehörten Hilfeschreie. Der Roman zeigt mit viel Empathie für die weibliche Protagonistin auf, wie die Macht und Gewalt, die Männer gegenüber Frauen ohne Rücksicht auf deren Gefühle ausüben, zu langanhaltenden Traumata führt, die die Opfer nur schwer verarbeiten.
Vor allem in den Selbstgesprächen mit ihren „Freundinnen“, aber auch mit den einfühlsam geschilderten Erinnerungen an den Missbrauch durch Jessies Vater bringt uns King die Figur näher, macht sie zu einem Menschen, mit dem wir mitfühlen und dem wir wünschen, sich aus der tödlichen Notlage befreien zu können. Allerdings kommt „Das Spiel“ nicht ganz ohne Längen aus und verliert zum Ende hin an Überzeugungskraft. Doch der psychische Horror, den King so eindringlich beschreibt, hallt lange nach.

Stephen King – „Kein Zurück“

Montag, 23. Juni 2025

(Heyne, 640 S., HC)
Über die Jahre hat sich Stephen King offensichtlich etwas in seine Figur Holly Gibney verliebt. Als Privatermittlerin in der von Bill Hodges geleiteten Agentur Finders Keepers spielte sie zunächst in der Bill-Hodges-Trilogie (bestehend aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“) zunächst eine sympathische Nebenrolle, ehe sie eine prominentere Rolle in „Der Outsider“ und in der Titelgeschichte der Kurzgeschichtensammlung „Blutige Nachrichten“ einnehmen durfte. 2023 nahm die hochbegabte Ermittlerin in „Holly“ die ungeteilte Hauptrolle ein. Nun hat Holly Gibney in Stephen Kings neuen Roman „Kein Zurück“ die nicht leichte Aufgabe, als Bodyguard für eine feministische Rampensau zu fungieren, während ein Serienkiller ihre Freundin Izzy auf Trab hält.
Als Detective Isabelle „Izzy“ James zu ihrem Vorgesetzten gebeten wird, überreicht dieser ihr einen Brief, in dem ein gewisser Bill Wilson ankündigt, für den Tod eines unschuldig Verurteilten 13 Unschuldige und einen Schuldigen zu töten. Offenbar ist mit dem Unschuldigen Alan Duffrey gemeint, den zwölf Geschworene der Kinderpornographie für schuldig befanden, worauf Duffrey im Knast niedergestochen wurde. Später gestand sein an Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium leidender Arbeitskollege, Duffrey die belastenden Pornomagazine untergeschoben zu haben, um sich dafür zu rächen, dass Duffrey statt seiner befördert worden war. Dass der Briefeschreiber keinen Scherz gemacht hat, beweist er mit dem Mord an einer unbescholtenen Frau - in ihrer Hand fand die Polizei einen Zettel mit dem Namen einer Geschworenen, die an der Verurteilung eines Unschuldigen beteiligt war. Izzy zieht ihre Freundin Holly Gibney zurate, die den Fall höchst interessant findet, aber selbst alle Hände voll zu tun hat. Die Feministin Kate McKay, die von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht, um in großen Hallen gegen Abtreibungsgegner zu wettern, ist zur Zielscheibe radikaler Kirchengruppierungen geworden, und nachdem ihre Assistentin Corrie Anderson bereits Opfer zweier Attacken geworden ist, nimmt Holly die Stelle als Bodyguard für den egozentrischen Medienstar an. Als McKay in der Halle auftreten soll, in der auch die Soulsängerin Sista Bessie ihr Comeback feiert, bahnt sich eine Katastrophe an…

„Sie muss daran denken, wie ein Irrer namens Brady Hartsfield versucht hat, genau diesen Saal in die Luft zu sprengen. Dem alten Spruch, dass der Blitz nie zweimal an derselben Stelle einschlägt, traut sie absolut nicht, aber was kann sie machen? Nicht zum ersten Mal hat sie den Eindruck, von den Ereignissen einfach mitgerissen zu werden.“ (S. 424)

Obwohl er vor allem als Meister des übernatürlichen Horrors gilt, was er Werken wie „Carrie“, „The Stand“, „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Brennen muss Salem“ zu verdanken hat, wird Stephen King längst einfach als glänzender Erzähler geschätzt, der gerade in den Romanen mit Holly Gibney auch auf klassische Horrorelemente verzichtet. Schließlich bietet der Alltag in dieser Zeit so viel Grauen, dass ein Autor wie Stephen King, der stets das Zeitgeschehen im Blick hat und dieses mit seinen Romanen auch reflektiert, keine übernatürlichen Gruselszenarien beschwören muss, um seine Leserschaft zu fesseln. „Kein Zurück“ präsentiert sich als klassische Kriminalgeschichte mit zwei zunächst parallellaufenden Plots und zwei weiteren Nebenschauplätzen. Im Mittelpunkt stehen die sogenannten „Stellvertretermorde“ eines Mannes, der durch die harte Erziehung seines Vaters auf Abwege geraten ist, und die religiös motivierten Taten eines Mannes, der den Verlust seiner Schwester auf ganz eigene Art zu verarbeiten versucht. Unnötig aufgebläht wird das Ganze durch einen Sportwettkampf zwischen der Feuerwehr und der Polizei und dem Auftritt von Sista Bessie, was „Kein Zurück“ auf stolze 640 Seiten anschwellen lässt. Es braucht nicht viel, um „Kein Zurück“ als Kommentar auf sowohl religiöse Fanatiker als auch engstirnige Populisten zu verstehen, die momentan auf der ganzen Welt für politischen und gesellschaftlichen Zündstoff und blutige Kriege sorgen. Das ist durchaus spannend zu verfolgen, bleibt aber zu sehr an der Oberfläche, um nachhaltig überzeugen zu können. Die Charakterisierungen sind - für King ungewöhnlich – nämlich recht klischeehaft ausgefallen. King selbst führt seine Hüftoperation im September 2023 an, dass er den Roman mehrmals umschreiben musste.

Stephen King – „Nachts“

Sonntag, 20. April 2025

(Heyne, 418 S., Jumbo)
Mit „Langoliers“ hatte Stephen King bzw. sein deutscher Verlag Heyne die ersten beiden Novellen aus der vier Geschichten umfassenden Sammlung „Four Past Midnight“ veröffentlicht, die später in der Taschenbuchversion als „Vier nach Mitternacht“ dann tatsächlich auch alle vier Horror-Stories vereinte. Nach der Titelgeschichte und der später mit Johnny Depp verfilmten Story „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ in „Langoliers“ präsentierte „Nachts“ im Jahr 1991 zwei weitere haarsträubende Horror-Geschichten, wie sie sich nur Stephen King ausdenken kann.
„Der Bibliothekspolizist“ erzählt die Geschichte des Immobilien- und Versicherungsmaklers Sam Peebles, der in seiner Heimatstadt Junction City bei der kommenden Speaker’s Night der Rotarier für den verletzten Akrobaten Amazing Joe einspringen und die monatliche Rede halten soll. Von Craig Jones bekommt er sogar ein Thema vorgeschlagen, nämlich die Bedeutung unabhängiger Unternehmen für das Kleinstadtleben. Als er seiner Sekretärin Naomi seinen ersten Entwurf vorträgt, schlägt sie vor Begeisterung nicht gerade Purzelbäume, verweist stattdessen auf zwei Bücher, darunter „Best Loved Poems of the American People“, mit deren Hilfe er seine Rede aufpeppen könnte. Doch als Sam die örtliche Bibliothek aufsucht, ist er von der bedrückenden Atmosphäre und den beängstigenden Postern mit Sprüchen wie „Fahre NIEMALS mit Fremden!“ und „Vermeidet die Bibliothekspolizei! Brave Jungs und Mädchen bringen ihre Bücher PÜNKTLICH zurück!“ mehr als nur leicht verunsichert. Der Eindruck verstärkt sich, als er die Bibliothekarin Ardelia Lortz kennenlernt, die ihm die gesuchten Bücher raussucht und ihm einen Bibliotheksausweis ausstellt, aber bei aller Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft überhaupt keine freundliche Ausstrahlung besitzt. Die mit Hilfe der Bücher verfeinerte Rede wird ein voller Erfolg, doch es kommt, wie es kommen muss: Die beiden Bücher verschwinden im Altpapier, das regelmäßig durch den Alkoholiker Dave Duncan abgeholt und entsorgt wird. Als Sam erneut die Bibliothek aufsucht, findet er sie nicht nur völlig verändert vor, auch von Ardelia Lotz findet sich keine Spur. Je mehr sich Sam mit der Geschichte der Frau befasst, wird er an ein längst verdrängtes Ereignis in seinem eigenen Leben erinnert, was dem Bibliothekspolizisten einen ganz neuen Schrecken verleiht…
Stephen King gelingt es auch in Geschichten, die nicht die übliche, oft epische Länge seiner Romane aufweisen, interessante Figuren zu schaffen und diese so überzeugend in übernatürliche Geschehnisse zu verwickeln, dass es ganz natürlich erscheint. Allerdings will der „King of Horror“ in dieser Geschichte zu viel. Statt sich nur auf die Vorstellung eines aus dem Rahmen gefallenen Bibliothekspolizisten zu beschränken, lässt der Autor seinen Protagonisten nicht nur dessen Vergewaltigung als Kind aufarbeiten, sondern befasst sich auch ausführlich mit der tragischen Geschichte, wie Dave Duncan durch seine Liebe zu Ardelia Lortz zum Alkoholiker wurde, und macht aus der Bibliothekarin ein Monster, das leider die Glaubwürdigkeit der Geschichte vollkommen untergräbt.
Nach diesem doch etwas verpatzten Auftakt macht es King mit „Zeitraffer“ etwas besser, einer Geschichte, die in Kings fiktiver Stadt Castle Rock und zwischen den beiden dort spielenden Romanen „Stark – The Dark Half“ und „Needful Things“ angesiedelt ist. Hier feiert Kevin Delevan seinen 15. Geburtstag, zu dem er u.a. eine Polaroid Sun 660 geschenkt bekommt. So glücklich er über dieses Wunschgeschenk ist, so erstaunt ist er über die Fotos, die die Sofortbildkamera ausspuckt, denn die Bilder scheinen nicht nur mit der Zeit etwas zu machen, sondern zeigen auch einen grässlichen Hund, der von Aufnahme zu Aufnahme immer mehr auf den Fotografen zuzukommen und schließlich fast aus dem Bild zu springen scheint. Statt die Kamera umzutauschen, bringen Kevin und sein Vater die Kamera ins Emporium Galorium zu Reginald „Pop“ Merrill, der sich der Kamera annimmt und ebenso von den Bildern fasziniert ist wie John Delevan und dessen Sohn. Der wittert ein gutes Geschäft, vertauscht die Kamera mit einer modellgleichen Kamera und macht sich auf die Socken, um die mysteriöse Kamera seinen besten Kunden zum Kauf anzubieten. Doch die sind nur entsetzt über den schrecklichen Hund, den die Kamera aus welchen Gründen auch immer ablichtet und der immer bedrohlichere Züge annimmt…

„Das Auge hielt ihn im Bann. Es war mörderisch. Diese Promenadenmischung sprühte geradezu vor Mordlust. Und der Hund hatte keinen Namen; das wusste er ebenso gewiss. Er wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass kein Polaroidmann, keine Polaroidfrau und kein Polaroidkind diesem Polaroidhund je einen Namen gegeben hatte; es war ein Streuner, als Streuner geboren, als Streuner groß und alt und böse geworden, die Inkarnation aller Hunde, die je über das Antlitz der Erde gestreunt waren, namenlos und heimatlos, Hühner töteten und Abfall aus Mülltonnen fraßen, die umzuwerfen sie schon lange gelernt hatten, und in Abwasserrohren und unter den Veranden verlassener Häuser schliefen. Sein Verstand würde verkümmert sein, aber seine Instinkte scharf und rot.“ (S. 304)

Auch wenn „Zeitraffer“ vor allem aus der Perspektive des 15-jährigen Kevin Delevan geschrieben ist, gewinnt dieser längst nicht so viel Kontur wie der von allen in der Kleinstadt verhasste Pop Merrill, der mit seinen siebzig Jahren schon einige unlautere Geschäfte abgewickelt hat – u.a. auch mit Kevins Dad – und deshalb wenig Ansehen in Castle Rock genießt. Vor allem die Art und Weise, wie er Kevins mysteriöse Kamera an gutgläubige, wenn auch vollkommen schrullige Interessenten verkaufen will, demonstriert die Abgründe seiner Persönlichkeit, aber auch die gut gebaute Drug-Store-Verkäuferin Molly Durham weiß ein Lied davon zu singen, wie widerlich der alte Mann ist. Zum Ende hin nimmt die Geschichte zwar an Fahrt auf, doch übertreibt es King einmal mehr mit der Darstellung vermeintlich schockierender Splatter-Effekte, so dass eine zunächst interessant eingefädelte Story über das Ziel hinausschießt. Schade.

Stephen King – „Das Bild – Rose Madder“

Dienstag, 25. März 2025

(Heyne, 588 S., HC)
Stephen King hat seit seinen frühesten Veröffentlichungen immer wieder starke Frauen in den Mittelpunkt seiner Erzählungen gerückt, am bekanntesten dürften wohl „Carrie“, „Sie“ und „Dolores“ sein, aber auch in dem weniger bekannten, weil verständlicherweise noch nicht verfilmten Roman „Das Bild – Rose Madder“ stellt der „King of Horror“ eine zunächst über Jahre gedemütigte Hausfrau in den Fokus einer Geschichte, die abgesehen von dem übernatürlichen Element keine großen Überraschungen präsentiert.
Seit vierzehn Jahren ist Rose mit dem Polizisten Norman Daniels verheiratet, doch die Ehe erweist sich seit ihrem achtzehnten Lebensjahr als Hölle auf Erden. Immer wieder tickt ihr Mann regelrecht aus und verprügelt sie nach Strich und Faden, wobei er eine besondere Vorliebe für ihre Nieren entwickelt. Bei einem seiner Gewaltausbrüche erleidet Rose eine Fehlgeburt, doch eines Tages genügt ein einzelner Blutstropfen auf dem Bettlaken, der Rose zur Besinnung kommen lässt. Sie nimmt die BankCard ihres Mannes an sich, hebt 300 Dollar vom Konto ab und marschiert zwei Stunden durch die Stadt, bis sie sich mit dem Taxi zum Busbahnhof Portside bringen lässt und mit dem nächstmöglichen Bus in eine 500 Meilen entfernte Stadt fährt. In der Hoffnung auf Hilfe und Orientierung wendet sich Rose an einen Mitarbeiter von Traveller’s Aid, der ihr die Adresse eines Frauenhauses gibt, das von dessen Ex-Frau Anna Stevenson geführt wird. Während Rose ihren Mädchennamen McClendon angenommen hat und trotz ihrer Angst vor ihrem Mann ihr Leben langsam in den Griff bekommt, lässt Norman Daniels natürlich nichts unversucht, um mit Rose mal wieder „aus der Nähe“ zu sprechen, wobei ihn sein detektivischer Instinkt tatsächlich bis zu Daughters and Sisters führt. Doch bis es so weit ist, hat Rose bereits eine eigene Wohnung, einen einträglichen Job als Hörbuch-Sprecherin und einen Verehrer namens Bill gewonnen, in dessen Pfandleihhaus sie ihren Ehering ging ein Bild eingetauscht hat, das sich in Roses Wohnung zu verändern scheint. Aber auch Norman macht auf der Suche nach Rose eine fundamentale Veränderung durch, als in einem Park einem Jungen die Stiermaske wegnimmt, die zu einem unauslöschlichen Teil seiner selbst wird…

„Wie kann das sein? fragte er sich bestürzt. Wie kann das möglich sein? Es ist doch nur ein alberner Jahrmarktspreis für Kinder! Ihm fiel keine Antwort auf diese Frage ein, aber die Maske löste sich nicht, wie fest er auch daran zog, und ihm wurde mit übelkeiterregender Deutlichkeit bewusst, wenn er die Nägel hineingraben würde, würde er Schmerzen verspüren. Er würde bluten. Und tatsächlich hatte die Maske nur noch eine Augenöffnung, die mitten ins Gesicht gewandert war. Seine Sicht durch diese Öffnung war dunkler geworden; das zuvor helle Mondlicht schien wolkenverhangen zu sein.“ (S. 535)

Mit „Rose Madder“, so der schlichte Originaltitel, der sich in erster Linie auf die Signatur des mysteriösen Bildes bezieht, das für den märchenhaften Subplot verantwortlich zeichnet, erzählt Stephen King in erster Linie die natürlich tragische, ansonsten leider sehr gewöhnliche Geschichte einer in der Ehe brutal missbrauchten Frau, wobei sowohl Rosie als auch ihr Mann Norman erschreckend klischeehaft gezeichnet sind. Erschwerend für die Glaubwürdigkeit der Geschichte kommt aber der Gegenentwurf des braven, zuvorkommenden Bill hinzu, der wie ein Ritter in strahlender Rüstung erscheint und die Geschichte zu einem zuckersüß kitschigen Ende führt. Und auch die Episode mit dem Bild, das sich vor den Augen seiner Besitzerin verändert und Rose schließlich mitten in die gemalte Szenerie zieht, wirkt eher wie ein Fremdkörper, der nur eingefügt wurde, um der trivialen Geschichte einen mythischen King-Touch zu verleihen. Leider geht der Schuss hier nach hinten los. „Das Bild – Rose Madder“ zählt so leider zu den langweiligeren Büchern von Stephen King.

Stephen King – „Das Monstrum. Tommyknockers“

Montag, 27. Januar 2025

(Hoffmann und Campe, 688 S., HC)
Stephen King hatte 1986 mit „Es“ sein Magnum Opus abgeliefert und damit die Messlatte für seine zahlreichen Epigonen, aber für sich selbst ebenfalls sehr hochgelegt. Mit dem zweiten Band seiner „The Dark Tower“-Reihe („Drei“) und dem wunderbar von Rob Reiner mit Kathy Bates und James Caan in den Hauptrollen verfilmten Psycho-Horror-Schocker „Sie“ konnte der „King of Horror“ qualitativ überzeugend nachlegen, aber die produktive Phase (1987 wurden mit „Die Augen des Drachen“, „Sie“, „Drei“ und „Das Monstrum“ gleich vier Romane von ihm veröffentlicht) sowie seine Alkohol- und Kokainsucht zollten schließlich ihren Tribut. Sein Science-Fiction-Horror-Roman „Das Monstrum“ konnte nämlich nicht mehr an die Qualität früherer Werke anknüpfen und wurde zudem 1993 schlecht als Fernseh-Zweiteiler verfilmt.
Die erfolgreiche Western-Roman-Schriftstellerin Bobbi Anderson lebt zurückgezogen mit ihrem altersschwachen und auf einem Auge bereits blinden Beagle Peter im Haus ihres Onkels in Derrys kleinen Nachbarstadt Haven, Maine. Als sie eines Nachmittags im Juni 1988 im angrenzenden Wald an der Route 9 Holz schlagen will, sieht sie das Schimmern von Metall im Boden und fegt den darum liegenden Waldboden beiseite. Während Peter ein langgezogenes Heulen ausstößt, buddelt Bobbi fasziniert weiter, bis sie denkt, ein Auto oder etwas ähnlich Großes vor sich zu haben. Fortan richtet Bobbi ihren Alltag ganz auf das Freilegen des geheimnisvollen Objekts aus. Dabei verändert sie sich nicht nur körperlich – so fallen ihre Blutungen weit heftiger aus als bei Menstruationen üblich, dann fallen ihr auch Zähne aus -, sondern kann auch die Gedanken anderer Menschen lesen. Sie erfindet technische Geräte, die den Ort allmählich unabhängig vom lokalen Stromnetz machen, und schreibt in kürzester Zeit ihren wohl besten Roman.
Währenddessen droht Bobbis Freund und ehemaliger Liebhaber James Gardener als Ersatzgast des New England Poetry Caravan einmal mehr die Kontrolle über sich zu verlieren. Der gescheiterte Dichter und Alkoholiker wird das Gefühl nicht los, dass seine alte Freundin in Gefahr schwebt, und macht sich nach einem peinlichen Auftritt nach einer Lesung auf den Weg zu ihr. Dank der Metallplatte in seinem Schädel ist er gegen die Gedankenleserei, die mittlerweile auch andere Bewohner in Haven auszuüben in der Lage sind, gefeit, aber nicht gegen die Übelkeit und andere Veränderungen, die in der Stadt vor sich gehen. Er hilft Bobbi bei der Ausgrabung des nun offenkundig als UFO identifizierten Objekt und bekommt nur am Rande mit, dass sich die Bewohner von Haven verändern und sich von der Außenwelt abschotten. Als sie endlich die Luke öffnen, steht ihnen allerdings eine böse Überraschung bevor…
„Sie standen nebeneinander und lächelten einander an, und es war beinahe wie früher, aber der Wald war stumm, keine Vögel erfüllten ihn mit ihrem Zwitschern.
Die Liebe ist vorbei, dachte er. Jetzt handelt es sich wieder um dasselbe alte Pokerspiel, aber gestern nacht ist die Zahnfee gekommen, und ich nehme an, sie wird heute nacht wiederkommen. Möglicherweise mit ihrer Kusine und ihrem Schwager. Und wenn sie meine Karten sehen, vielleicht diesen Hauch eines Einfalls wie ein As in der Rückhand, dann ist es aus und vorbei. In gewisser Weise ist es komisch. Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Außerirdischen wenigstens noch leben müssten, um eine Invasion durchziehen zu können. Nicht einmal H.G. Wells hat sich eine Invasion von Geistern träumen lassen.“ (S. 466)
An einer Stelle des Romans gibt Stephen King zu, dass kein Science-Fiction-Autor mit einem Funken Selbstachtung über Fliegende Untertassen schreiben würde, dass nur Wirrköpfe und religiöse Exzentriker – und natürlich die Regenbogenpresse – ihnen Platz in ihren Gedanken und Vorstellungen einräumten. Gut fünf Jahre bevor Chris Carter mit „Axte X“ das Gedankenspiel aber erfolgreich auf den Fernsehbildschirm gebracht hat, spielte Stephen King die Möglichkeit einer UFO-Ladung durch und vor allem die Folgen, die dieses Ereignis auf die Bewohner einer Kleinstadt in Maine nach sich ziehen. Nachdem King mit der Schriftstellerin Bobbi Anderson und dem Dichter James Gardener die Hauptfiguren ausführlich vorgestellt hat, führt er in einem Nebenplot einzelne Figuren aus Haven vor, wobei ein verpatzter Zaubertrick, bei dem der kleine Bruder des Möchtegern-Zauberers spurlos verschwindet, eine zentrale Rolle einnimmt. Es fordert der Leserschaft schon einiges an gutem Willen ab, die Vorgänge in Haven und die Natur der aus dem Volksmund bekannten Tommyknockers, denen Stephen King Gestalt zu verleihen versucht, anzunehmen. So mutig und verwegen sein Unterfangen auch gewesen ist, eine UFO-Geschichte zu schreiben, gelingt es King doch nicht, die Verwandlung der Bewohner von Haven und ihren Zusammenschluss per Gedankenübertragung so glaubwürdig zu gestalten, dass echte Spannung aufkommt. Vor allem zum Ende hin, wenn überflüssigerweise Bobbis rechthaberisch-dominante Schwester auch noch mitmischt und Gardener trotz übelster Verletzungen allen feindlichen Angriffen der Haven-Gemeinde strotzt, hat „Das Monstrum“ seinen anfänglichen Reiz eingebüßt.

Stephen King – „Wahn“

Freitag, 13. Dezember 2024

(Heyne, 896 S., HC) 
Als Stephen King 2008 seinen Roman „Duma Key“ veröffentlichte (der dann in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Wahn“ erschien), blickte er bereits auf mehr als dreißig erfolgreiche Jahre als Schriftsteller zurück, dazu auf prominent verfilmte Bestseller wie „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Shining“, „Christine“, „Dead Zone – Das Attentat“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Sie“. Nachdem er 1999 als Spaziergänger von einem Kleinbus erfasst worden war und drei Monate im Gefängnis verbracht hatte, schrieb King seinen Roman „Duddits“ mit der Hand, aber erst in „Der Turm“, dem siebten Band seines Fantasy-Epos „Der Dunkle Turm“, thematisierte er den Unfall ausführlich. Auch in „Wahn“ hallt das Echo dieses traumatischen Erlebnisses deutlich nach. 
Edgar Freemantle hat es in Minnesota als Selfmade-Bauunternehmer zu großem Erfolg gebracht, war im Alter von fünfzig Jahren genauso viele Millionen Dollar schwer und war glücklich mit Pam verheiratet und stolz auf die an der Brown studierenden Tochter Ilse und die in Frankreich als Lehrerin arbeitende Melinda. 
Doch dann stellte ein Unfall Freemantles Leben auf den Kopf: Der Zusammenprall seines Pick-ups mit einem zwölfstöckigen Kran führte nicht nur zu einem Schädel-Hirn-Trauma, sondern auch zum Verlust seines rechten Arms. Die Hirnprellung und die anhaltenden Kopfschmerzen führten zu einer Störung seines Sprachzentrums, zu unkontrollierten Wutanfällen und unerträglichen (Phantom-)Schmerzen, bis Pam die Kraft und den Glauben verliert, die Ehe fortzuführen. 
Freemantles Psychiater Dr. Kamen lässt seinen selbstmordgefährdeten Patienten daran erinnern, dass er früher gern gemalt habe, und schlägt ihm eine Auszeit auf der Insel Duma Key an Floridas Westküste vor. Als Freemantle am 10. November von seiner Reha-„Queen“ Kathi Green zum Flughafen gebracht wird und nach Florida fliegt, ahnt er nicht, dass er in ein Haus zieht, das zuvor schon von verschiedenen Künstler-Größen bewohnt worden ist. Freemantle bekommt mit Jack Cantori einen fleißigen Assistenten und freundet sich mit seinem Nachbarn Wireman an, der sich liebevoll um die 85-jährige, an Alzheimer erkrankte Elizabeth Eastlake kümmert, die nahezu alle Immobilien auf Duma Key ihr Eigen nennt. Freemantle nennt sein neues Heim Big Pink und beginnt nach einiger Zeit tatsächlich mit dem Malen, wofür er offenbar ein großes Talent besitzt. 
Doch die Bilder von Sonnenuntergängen mit Mädchen und Fischerbooten entwickeln ein gefährliches Eigenleben, das bald auch Freemantles Familie bedroht… 
„Was ich malte, wirkte nicht nur deshalb, weil es die Nervenenden reizte; es wirkte, weil die Leute wussten – auf irgendeiner Ebene wussten sie es tatsächlich -, dass sie hier etwas betrachteten, das aus einem Reich jenseits allen Talents stammte. Das Gefühl, das diese Duma-Bilder vermittelten, war Horror, kaum im Zaun gehalten. Horror, der darauf wartete, sich ereignen zu können. Mit verrotteten Segeln einlaufend.“ (S. 376) 
Als Ausgangspunkt für Kings wieder mal episch ausgefallenen Roman „Wahn“ dient ein Unfall, wie ihn Stephen King selbst fast zehn Jahre zuvor erlebt hat, und der im Kopf seines Protagonisten, den er als Ich-Erzähler etabliert, außergewöhnliche künstlerische Prozesse freisetzt. 
King verarbeitet so nicht nur erneut das Trauma seiner eigenen Unfall-Erfahrung, sondern verknüpft sie einmal mehr mit einem seiner Lieblingsthemen, mit dem künstlerischen Schaffensprozess. Welch unangenehme Nebenwirkungen das zeitigen kann, haben bereits Romane wie „Stark – The Dark Half“ und „Shining“ dokumentiert. King nimmt sich viel Zeit, die Geschichte von Edgar Freemantle zu erzählen. Der Rückblick auf sein bisheriges Leben fällt recht kurz aus, dafür nehmen im weiteren Verlauf die Beziehungen zu seiner Ex-Frau Pam und den beiden Töchtern ebenso viel Raum ein wie zu seinem neu gewonnenen Freund Wireman und der geheimnisvollen Elizabeth Eastlake, die einen besonderen Bezug zu den Künstlern in ihrem Leben zu haben scheint. 
Während die eigentliche Handlung in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann, nehmen die sukzessive gewonnenen Einblicke in das Leben von Wireman und seiner Herrin genügend Raum ein, dass sie Kings Leserschaft bald wie Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen. Auch die zunehmend bedrückende Atmosphäre auf der Insel und die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Prozess sind King sehr eindringlich gelungen, so dass die Spannung fast greifbar ist. 
Allein das Finale, das zumindest die Horror-Fans erfreuen wird, ist etwas zu dick aufgetragen und umständlich konzipiert worden, doch das schmälert den Genuss von „Wahn“ kaum. 

Stephen King – „Ihr wollt es dunkler“

Sonntag, 9. Juni 2024

(Heyne, 736 S., HC) 
Obwohl Stephen King das ausschweifende Format das epischen Romans bevorzugt, um seine Leserschaft mit seinen Geschichten zu fesseln, sind seit Beginn seiner außergewöhnlich erfolgreichen Schriftstellerkarriere immer wieder Sammlungen von Kurzgeschichten erschienen, die ihren ganz eigenen Reiz verströmten – nicht zuletzt für die Filmstudios in Hollywood, die bereits aus Kings erstem, schon 1978 veröffentlichten Sammelband „Night Shift“ ausgewählte Short Stories wie „Manchmal kommen sie wieder“, „Der Rasenmähermann“ und „Kinder des Mais“ zu mehr oder weniger gelungenen Langfilmen verarbeiteten. Bekanntere Beispiele aus späteren Sammlungen sind natürlich „Die Leiche“ (von Rob Reiner unter dem Titel „Stand By Me“ verfilmt) und „Der Nebel“
Neun Jahre nach der letzten Kurzgeschichtensammlung, „Basar der bösen Träume“, ist es nun wieder Zeit für neue Geschichten, die mal zwischen zehn und vierzig Seiten lang sind, gelegentlich aber auch das Ausmaß eines Kurzromans einnehmen. Auf jeden Fall beackert der „King of Horror“ in den zwölf Geschichten in „Ihr wollt es dunkler“ ganz unterschiedliche Sujets und erzeugt ebenso verschiedenartige Stimmungen. 
Eröffnet wird der Reigen mit „Zwei begnadete Burschen“, in der der Sohn eines berühmten, kürzlich verstorbenen Schriftstellers der Frage nachgeht, die auch die Journalistin Ruth Crawford seit einigen Jahren umtreibt: Laird und sein Jugendfreund David „Butch“ LaVerdiere haben nie das Potenzial erkennen lassen, dass aus ihnen irgendwann mal etwas Besonderes werden sollten, und doch sind sie mit einem Schlag in ihren Mittvierzigern berühmt geworden, Laird als Schriftsteller, Butch als Maler. Laird hat Zeit seines Lebens zwar die obligatorischen Interviews absolviert, aber nie Auskunft über den wundersamen Verlauf seiner Karriere gegeben. Erst mit seinem Tod bekommt sein Sohn den Zugang zum Ursprung des „göttlichen Funkens“, der die kreativen Wurzeln der beiden Freunde während eines Jagdausflugs freisetzen sollte… 
In „Der fünfte Schritt“ präsentiert sich King als typischer Horror-Autor, wenn er den Rentner Harold Jamison bei seinem täglichen Spaziergang in den Central Park mit einem normal aussehenden Mann zusammentreffen lässt, der als Alkoholiker gerade die Zwölf Schritte bei den AA durchläuft. Für den jetzt anstehenden fünften Schritt soll der Mann, der sich als Jack vorstellt, einem Fremden von seinen Fehlern erzählen. Jamison lässt sich darauf ein, nicht ahnend, was er mit seinem Einverständnis auslöst… 
Mit „Danny Coughlins böser Traum“ folgt der erste Kurzroman. Die Titelfigur träumt davon, in der Nähe einer „Hilltop Texaco“-Tankstelle einen Hund zu entdecken, der erst eine Hand, dann den dazugehörigen Unterarm aus dem Boden freischarrt. Der Traum ist so real, dass Coughlin sich auf den Weg macht und tatsächlich die teilweise freigelegten Körperteile findet. Doch als er anonym die Polizei informiert, erlebt er sein blaues Wunder. Denn Inspector Franklin Jalbert vom Kansas Bureau of Investigation ist fest davon überzeugt, dass Coughlin den Fund der Leiche von Yvonne Wicker nicht nur geträumt hat, sondern die junge Frau auch selbst ermordet hat. Um das zu „beweisen“ greift Jalbert auch zu unlauteren Mitteln, stellt sich mit seinen Praktiken und Überzeugungen aber auch zunehmend selbst ins Abseits… 
„In meinen Geschichten über das Übernatürliche und Paranormale habe ich mir besonders große Mühe gegeben, die reale Welt so zu zeigen, wie sie ist, und die Wahrheit über das Amerika zu erzählen, das ich kenne und liebe. Manche solcher Wahrheiten sind hässlich, aber wie es in einem Gedicht heißt, werden Narben zu Schönheitsflecken, wo Liebe ist“, schreibt Stephen King im Nachwort zu „Ihr wollt es dunkler“ – einer Hommage an Leonard Cohen
Tatsächlich bekommt Kings Publikum wie so oft in seinen Geschichten den Spiegel vorgehalten, taucht der „King of Horror“ doch immer wieder tief ins kollektive Unterbewusstsein ein, lässt Träume und Erinnerungen lebendig werden, thematisiert Krankheit, Tod und mehr oder weniger schleichenden Wahnsinn. So macht Vic Trenton, der Ich-Erzähler in dem anderen Kurzroman, „Klapperschlangen“, und darüber hinaus auch der Vater des Jungen, der in „Cujo“ einem tollwütigen Bernhardiner zum Opfer gefallen war, die Bekanntschaft einer Frau, die über den Tod ihrer vierjährigen Zwillinge nie hinweggekommen ist und den Kinderwagen mit ihren T-Shirts durch die Gegend kutschiert, als wären die Jungs noch am Leben. 
Nicht alle Geschichten erreichen die Intensität, die die beiden Kurzromane auszeichnet, aber doch die meisten.  

Stephen King – „Langoliers“

Samstag, 27. April 2024

(Heyne, 512 S., Heyne Jumbo) 
Wie Stephen King in seiner Vorbemerkung zu der Novellen-Sammlung „Four Past Midnight“ erwähnt, ist er zu ihrer Veröffentlichung im Jahr 1990 bereits 16 Jahre im Geschäft des Schreibens tätig gewesen. In dieser doch schon bemerkenswerten Zeit sind nach seinem durch Brian De Palma verfilmtes Romandebüt „Carrie“ noch weitere – meist ebenfalls durch namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick, John Carpenter, David Cronenberg, George A. Romero und Rob Reiner verfilmte - Bestseller wie „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Es“, „Sie“ und „Stark – The Dark Half“ erschienen, darüber hinaus auch Kurzgeschichten-Sammlungen wie „Nachtschicht“ und „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“. Mit „Four Past Midnight“ hat King vier längere Geschichten zusammengefasst, die fast eher in den Bereich des Kurzromans gehen, weshalb der Heyne Verlag je zwei Geschichten in dem Band „Langoliers“ und dann in „Nachts“ veröffentlicht hat, bevor später auch eine Taschenbuchausgabe mit dem Titel „Vier nach Mitternacht“ erschien. Viel interessanter als die Geschichten selbst – dies schon mal vorab – sind die Einführungen des Autors zu den jeweiligen Stories. So entstand die Grundidee für die Titelgeschichte aus dem Bild einer jungen Frau, die eine Hand auf einen Riss in der Hülle eines Linienflugzeugs drückt. 
In „Langoliers“ kommt Flugkapitän Brian Engle nach einem schwierigen Flug aus Tokio auf dem LAX, Amerikas schlimmsten Flughafen, an und erfährt, dass seine Ex-Frau Anne bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sei. Engle fliegt daraufhin als Passagier von Los Angeles weiter nach Boston, schläft aber auch kurz nach dem Starten des „Schnarchflugs“ ein. Als er aufwacht, sind neben ihm selbst noch zehn weitere Passagiere an Bord, die ebenfalls geschlafen haben, darunter das blinde Mädchen Dinah, die Lehrerin Laura, der Musikhochschüler Albert und der geheimnisvolle Nick. Alle anderen – auch die Piloten und die Flugbegleiter:innen - scheinen auf mysteriöse Weise einfach verschwunden, auf vielen Plätzen liegen noch ihre Uhren, aber auch Herzschrittmacher und Zahnfüllungen. Engle übernimmt zwangsläufig das Kommando, versucht allerdings vergeblich, Funkkontakt zu anderen Flughäfen zu bekommen. 
Überhaupt scheint die Welt außerhalb des Flugzeugs eine komplett andere zu sein. Das bekommen Engle und seine Schicksalsgefährten auf schmerzvolle Weise zu spüren, als es ihnen gelingt, den Flughafen von Maine anzusteuern… 
„Langoliers“ wirkt wie Folge aus Rod Serlings „Twilight Zone“, zählt aber zu den schwächeren Geschichten des „King of Horror“. Das liegt nicht nur an der sehr kurzen Einführung der Figuren, die auch während des weiteren Verlaufs der Geschichte kaum Kontur gewinnen. King stellt eindeutig das aberwitzige Szenario in den Vordergrund und bringt seine Leserschaft ebenso wie die Beteiligten in eine Position, in der es vor allem darum geht, eine Erklärung für das Verschwinden der Menschen sowohl im Flugzeug als auch am Flughafen zu finden. Durch die für King ungewöhnlich große Distanz zwischen den Figuren und dem Publikum stellt sich längst nicht das wohlige Grauen ein, das die besseren Geschichten des Bestseller-Autors hervorrufen. 
Mit „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ bewegt sich King dann auf vertrautem Terrain, thematisiert einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Literatur, Leser und Schriftsteller. Stand in dem auch erfolgreich von Rob Reiner verfilmten Bestseller „Sie“ der starke Einfluss im Vordergrund, den Literatur auf die Leserschaft ausüben kann, beleuchtete King in dem (vom renommierten Horror-Regisseur George A. Romero adaptierten) Roman „Stark – The Dark Half“ wiederum den manchmal durchaus zerstörerischen Einfluss, mit dem Literatur den Schriftsteller prägen und verändern kann. 
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ nähert sich eher dem zweiten Phänomen an, wird der frisch geschiedene und unter einer Schreibblockade leidende Schriftsteller Morton Rainey in dem Sommerhaus am Tashmore Lake von einem mysteriösen Mann, der sich als John Shooter vorstellt, mit dem Vorwurf konfrontiert, seine 1982 geschriebene Geschichte „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ gestohlen zu haben, und verlangt im Gegenzug, dass Rainey ihm eine Geschichte schreibt. Rainey fühlt sich zunächst auf sicherem Terrain, schließlich ist seine Geschichte mit dem Titel „Zeit zu säen“ bereits 1980 im Ellery Queens Kriminalmagazin erstmals veröffentlicht worden. 
Shooter will allerdings innerhalb von drei Tagen einen Beweis in Form einer der Originalausgaben des Magazins in der Hand halten. Während Rainey seinen Agenten darauf ansetzt, eine dieser Ausgaben per Express zu ihm schicken zu lassen, geschehen grausame Dinge. Eines Morgens findet Rainey seinen Kater Bump mit einem Schraubendreher am Dach des Müllkastens angenagelt vor, wenig später ist das Haus, in dem seine Ex-Frau Amy lebte, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Während der Versicherungsdetektiv nach Hinweisen auf die offensichtliche Brandstiftung sucht, wird Rainey von verdrängten Erinnerungen und düsteren Träumen heimgesucht… 
„Er glaubte, ohne ihre große Kapazität der Selbsttäuschung wäre die menschliche Rasse wahrscheinlich noch verrückter, als sie ohnehin war. Aber manchmal brach die Wahrheit durch, und wenn man bewusst versucht hatte, zu träumen und sich diese Wahrheit nicht einzugestehen, konnten die Folgen verheerend sein: Es war, als wäre man dabei, wenn eine gigantische Flutwelle nicht nur über, sondern regelrecht durch einen Damm raste, der in ihrem Weg lag, und diesen samt einem selbst zerschmetterte.“ (S. 397)
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“, das mit Johnny Depp in der Hauptrolle als „Das geheime Fenster“ verfilmt worden ist, wirkt zwar atmosphärisch stimmiger und ist in der Charakterisierung der zugegebenermaßen wenigen Figuren gelungener als „Langoliers“, kann aber mit Stephen Kings früheren Auseinandersetzungen mit dem eingangs erwähnten Spannungsfeld längst nicht mithalten. Das liegt vor allem an dem sehr vorhersehbaren Ausgang der Geschichte und der nicht wirklich überzeugenden Motivation für die grausamen Taten, die uns im Verlauf der Story begegnen. Fans der großartigen Sammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ dürften hier eher enttäuscht werden.


Stephen King – „Sie“

Montag, 15. April 2024

(Heyne, 400 S., Jumbo) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Romandebüt „Carrie“ hat es Stephen King innerhalb weniger Jahre mit weiteren, allesamt verfilmten Werken wie „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und vor allem „Es“ zum meistgelesenen Horrorautoren aller Zeiten geschafft. Ein besonderer Coup ist dem „King of Horror“ mit dem 1987 erschienenen und durch Rob Reiner erfolgreich mit James Caan und Kathy Bates in den Hauptrollen verfilmten Bestseller „Misery“ gelungen, der hierzulande als Erstauflage in dem leider nur kurzlebigen Jumbo-Paperback-Format bei Heyne unter dem Titel „Sie“ veröffentlicht worden ist. 
Nachdem der bekannte Romanautor Paul Sheldon bei einem Schneesturm von der Straße abgekommen und einen Hang hinuntergerutscht ist, hätte er mit seinen beiden gebrochenen Beinen gut umkommen können, doch die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes hat es geschafft, den bewusstlosen Mann aus dem Auto zu bergen und ihn in ihr einsam gelegenes Haus nahe der Stadt Sidewinder in Colorado zu bringen, wo sie mit ein paar Hühnern und einem Schwein lebt, das sie nach Paul Sheldons berühmtester Romanfigur Misery genannt hat. Als Paul Sheldon sein Bewusstsein wiedererlangt, sieht er seine völlig zerstörten Beine behelfsmäßig geschient und sich seiner Retterin hilflos ausgeliefert. Dass mit Annie Wilkes etwas nicht stimmt, merkt mit Novril ruhig gestellte Sheldon sofort. Schließlich hat die gute Frau es nicht für nötig gehalten, die Polizei über ihren Fund zu informieren oder den schwerverletzten Mann ins Krankenhaus zu fahren. Aus Dankbarkeit lässt Sheldon seinem selbsternannten „Fan Nr. 1“ seinen neuen Roman „Schnelle Autos“ lesen, doch zeigt sich Annie wenig begeistert von dem ernsthaften Stoff. Als sie bei einem Einkauf eine Taschenbuchausgabe von Sheldons letzten „Misery“-Roman entdeckt, ist sie so entsetzt darüber, dass ihre absolute Lieblingsheldin stirbt, dass sie Sheldon dazu zwingt, sein Manuskript von „Schnelle Autos“ zu verbrennen und einen neuen „Misery“-Roman zu schreiben, in dem Misery Chastain wiederbelebt wird. Doch je mehr Paul gezwungenermaßen in dem Zimmer eingesperrt ist, desto mehr stellt er fest, dass Annie unter ernsthaften psychischen Problemen leidet und sicher nicht vorhat, ihren Lieblingsautor jemals wieder gehen zu lassen… 
„Er wusste, dass er unablässig terrorisiert worden war, aber hatte er gewusst, wieviel von seiner subjektiven Realität, die einst so stark gewesen war, dass er sie als gottgegeben betrachtet hatte, ausgelöscht worden war? Er wusste eines mit ziemlicher Sicherheit – es war wesentlich mehr mit ihm nicht in Ordnung als nur die Lähmung seiner Zunge, ebenso wie mit dem, was er geschrieben hatte, wesentlich mehr nicht in Ordnung war als die fehlende Type oder das Fieber oder Sprünge in der Kontinuität oder selbst der Verlust seines Schneids. Die Wahrheit hinter allem war so einfach in ihrer Grausamkeit, so schrecklich einfach. Er starb Stück für Stück…“ (S. 305) 
Waren viele seiner vorangegangenen Horrorromane von übernatürlichen Fähigkeiten wie Telekinese („Carrie“), übersinnlichen Wahrnehmungen („Shining“), hellseherischen Fähigkeiten („Dead Zone“) oder Pyrokinese („Feuerkind“) geprägt oder behandelten klassische Horrorthemen wie Vampirismus („Brennen muss Salem“), kommt „Sie“ ohne jegliche übernatürliche Komponente aus. 
Kings Roman wirkt wie ein klassisches Bühnenstück, dessen Handlung sich gut und gerne auf ein Zimmer und zwei Personen beschränken könnte. 
Der Horror entsteht durch den Wahnsinn der ehemaligen Krankenschwester Annie Wilkes, die in Rob Reiners Verfilmung durch eine Oscar-prämierte Kathy Bates zum Leben erweckt worden ist. Durch Paul Sheldons absolute Hilfslosigkeit wird ein Szenario heraufbeschworen, in dem Annie Wilkes ihre labile Psyche hemmungslos an ihrem Opfer austoben lässt, wobei die Beziehung zwischen Autor und Leser natürlich auch selbstreferentielle Züge aufweist. 
Stephen King lässt sein Alter Ego auch über die Unterscheidung zwischen ernsthafter und Schundliteratur schwadronieren, wobei der Leser nicht umhinkommt, auch Kings eigene Meinung zu diesem Thema hineinzuinterpretieren. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einigen wirklich grausamen Verstümmelungen, aber das Beste hebt sich King für das grandiose Finale auf, das einen so schnell nicht mehr loslässt.


Stephen King – „Holly“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.  

Stephen King – „Duddits – Dreamcatcher“

Samstag, 22. April 2023

(Ullstein, 827 S., HC) 
Nachdem Stephen King Mitte der 1970er Jahre mit „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und dem apokalyptischen Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“ schnell zum international gefeierten „King of Horror“ avancierte, lieferte er in den folgenden beiden Jahrzehnten nahezu im Jahrestakt – oftmals auch verfilmte - Bestseller wie „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „Stark – The Dark Half“, „Needful Things“, „Dolores“ und „The Green Mile“ ab. Nach einem Autounfall im Jahr 1999 rehabilitierte sich King auf eigene Weise, schrieb das Manuskript zu „Duddits – Dreamcatcher“ mit Patronenfüllfederhalter von Waterman innerhalb eines Jahres und widmete sich einem Thema, das bis heute nur sporadisch in Kings umfangreichen Oeuvre anzutreffen ist, der Invasion der Erde durch Außerirdische. 
Schon als Kinder waren Pete, Jonesy, Henry und Biber in der Kleinstadt Derry, Maine, unzertrennlich gewesen. Ein besonderes Verhältnis entwickelten sie dabei zu Douglas „Duddits“ Cavell, einem Jungen mit Down-Syndrom, den sie vor jugendlichen Rowdys gerettet haben und der telepathisch begabt gewesen ist. Über die „Linie“, die Duddits zu sehen in der Lage ist, haben die fünf Freunde sogar ein vermisstes Mädchen aus einem Kanalschacht retten können. 
Über die Jahre haben die vier Freunde zwar Duddits aus den Augen verloren, seit sie aus Derry weggezogen sind, und sehen sich auch nur noch selten, doch einmal im Jahr treffen sie sich im Herbst zu einem Jagdausflug in Bibers Hütte in den Wäldern von Jefferson Tract. In ihrem erwachsenen Leben ist Joe „Biber“ Clarendon ein neurotischer Tischler geworden, Pete Moore ein alkoholsüchtiger Autoverkäufer, während der als Psychiater praktizierende Henry Devlin mit dem Gedanken an Selbstmord spielt und College-Dozent Gary „Jonesy“ Jones sich von einem schweren Autounfall erholt, bei dem er sich eine gebrochene Hüfte zugezogen hat. Der Jagdausflug im Herbst 1999 steht allerdings unter einem besonderen Stern, als in Jefferson Tract Aliens notlanden und sich wie Parasiten in den Menschen einnisten und mit ihren telepathischen Kräften dafür sorgen, sich in ihre Wirte hineinzuversetzen und sie nach ihrem Willen zu manipulieren. Der psychotische Armee-Offizier Abraham Kurtz versucht, im Auftrag der Regierung die Ausbreitung der „Ripleys“ zu verhindern – so wie sie es im Geheimen seit 1947 praktiziert. Es wird nämlich einfach ohne Rücksicht auf Verluste jedes Leben im von den Aliens beanspruchten Gebiet ausgelöscht. Während dieses Vorhabens begegnet Jonesy während der Jagd dem Anwalt Richard McCarthy, der offensichtlich seit einigen Tagen orientierungslos im Wald herumirrt, unter starken Schmerzen und fürchterlichen Blähungen leidet sowie ein verdächtig aussehendes Mal im Gesicht trägt. Trotz seiner Bedenken nimmt Jonesy den Mann mit in die Hütte, wo er zusammen mit Biber miterleben muss, wie der Mann von innen heraus zu verwesen scheint und eine pilzartige Substanz ausscheidet. Währenddessen besorgen Pete und Henry Nahrungsvorräte im Dorf und geraten bei dem einsetzenden Schneefall in einen Autounfall, in dem eine Frau verwickelt ist, die geistig verwirrt erscheint und der einige Zähne fehlen. Für die vier Freunde entbrennt ein Wettlauf gegen die Zeit, geraten sie doch zwischen die Fronten des Militärs und den parasitären Außerirdischen. Bald wird ihnen bewusst, dass nur Duddits sie aus dem Schlamassel befreien und die Invasion beenden kann, obwohl er bereits selbst im Sterben liegt… 
„Duddits, der in seinem Never-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.“ (S. 659) 
Etwas mehr als zehn Jahr nach dem 1988 veröffentlichten „Tommyknockers – Das Monstrum“ bekommt es die Menschheit erneut mit telepathisch begabten Außerirdischen zu tun, doch dient die Geschichte diesmal vor allem dazu, Stephen Kings Trauma zu verarbeiten, von einem betrunkenen Autofahrer fast tot gefahren worden zu sein, auf jeden Fall während der langwierigen Genesung über ein halbes Jahr erhebliche Schmerzen erlitten zu haben. Vor diesem Hintergrund fällt es dem Leser leicht, in der Figur des College-Dozenten Gary „Jonesy“ Jones eine Art Alter Ego des berühmten Schriftstellers zu sehen, der ebenfalls einen schweren Autounfall überlebt hat und seitdem mit den Folgen seiner gebrochenen Hüfte zu kämpfen hat. Entsprechend authentisch wirken die vielen Beschreibungen körperlicher Schmerzen und die Schilderungen schwerer Verletzungen, bei denen nicht nur Zähne ausfallen und viel Blut fließt, sondern auch an Tränen und allen vorstellbaren menschlichen Ausscheidungen in gasförmiger oder flüssiger Form ebenso wenig gespart wird wie an Kraftausdrücken und derbem Humor. 
Wie in den meisten King-Romanen werden auch in „Duddits“ ganz gewöhnliche Menschen mit einer kaum vorstellbaren Krisensituation konfrontiert. King ließ sich dabei ganz offensichtlich von dem Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ inspirieren, den er auch namentlich erwähnt, und erzielt das Grauen vor allem aus der Vorstellung, dass die Außerirdischen die Menschheit auf der Gedankenebene infiltrieren und gefügig machen wollen. 
Dass die Heimatstadt der fünf Freunde Derry ist, verweist natürlich auf Kings Meisterwerk „Es“, wobei er immer wieder Elemente daraus aufgreift, vor allem den großen Sturm von 1985, der einen Großteil der Stadt verwüstete und dem auch der Wasserturm zum Opfer fiel. Bei aller sprachlicher Könnerschaft wirkt das Verhältnis zwischen Kurtz‘ psychotischen Trieb, die Außerirdischen zu eliminieren, und der berührenden Geschichte der fünf Freunde etwas unausgeglichen. 
Während die militärischen Protagonisten für meinen Geschmack etwas zu viel Raum erhalten und King fast schon ins Schwafeln gerät, hätten die Episoden, die das Leben der fünf Freunde in Derry und danach umfassen, weitaus ausführlicher dargestellt werden können. So wirkt „Duddits“ wie ein auf Action getrimmter Science-Fiction-Horror, den auch Lawrence Kasdan in seiner Verfilmung „Dreamcatcher“ nicht in den Griff bekommen hat. 

 

Stephen King – „Cujo“

Donnerstag, 5. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.) 
Schon früh in seiner schriftstellerischen Karriere hat Stephen King mit Castle Rock eine fiktive Kleinstadt geschaffen, in der viele seiner Geschichten angesiedelt sind, nach der Novelle „Die Leiche“ und dem Roman „Dead Zone – Das Attentat“ auch der 1981 veröffentlichte Roman „Cujo“, der in einer Zeit entstanden ist, als der Autor noch stark alkohol- und kokainsüchtig gewesen war und an die er sich eigenen Angaben zufolge kaum noch erinnern kann. Unter diesen Umständen ist mit ihm mit „Cujo“ ein unterhaltsamer und überwiegend sehr realistischer Horror-Thriller gelungen, der mit einem überschaubaren Ensemble und einer ebenso übersichtlichen Handlung auskommt. 
Wenn man in Castle Rock, Maine, von Ungeheuern spricht, ist damit der Polizist Frank Dodd gemeint, der in den 1970er Jahren sechs Frauen getötet und sich selbst gerichtet hatte, bevor ihn ein Mann namens John Smith identifizieren konnte. 1980 kommt das Grauen in Gestalt eines Bernhardiners in die Kleinstadt zurück. Der Werbefachmann Victor Trenton hat der New Yorker Werbeindustrie den Rücken gekehrt und sich mit seinem Kumpel Roger Breakstone selbstständig gemacht. Doch die Geschäfte von Ad Worx laufen schlecht, der größte Kunde, der Frühstücksflocken-Hersteller Sharp, droht abzuspringen, nachdem ein Farbstoff in den Himbeerflocken für unerwünschte, wenn auch ungefährliche Nebenwirkungen gesorgt hatte. 
Um den Sharp-Etat zu retten, fliegt Vic mit Roger für zehn Tage nach Boston und New York, allerdings kommt die Geschäftsreise mehr als ungelegen, da es um die Ehe von Vic und Donna nicht zum Besten steht. Tatsächlich hat Donna eine Affäre mit dem Dichter und Tennisspieler Steve Kamp beendet, der darüber so erbost ist, dass er Vic über die Affäre informiert. 
Donna fährt mit ihrem vierjährigen Son Tad den Ford Pinto derweil in die Werkstatt von Joe Camber am Rande der Stadt, wo sie das Nadelventil reparieren lassen will. Der Wagen hat es gerade noch bis in die Auffahrt geschafft, danach gibt der Motor kaum noch einen Ton von sich. Joe Camber trifft sie allerdings nicht an, und auch sonst niemanden. Seine Frau Charity ist mit dem gemeinsamen Sohn Brett zu ihrer Schwester Holly gefahren, Joe und sein Freund Gary wurden bereits von Cujo getötet. Der ansonsten liebenswürdige, aber ungeimpfte Bernhardiner wurde bei einer Kaninchenjagd von tollwütigen Fledermäusen gebissen und hat es nun auf die im Wagen eingesperrte FRAU und den JUNGEN abgesehen. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände sitzt Donna mit ihrem Sohn nun in der brüllenden Junihitze in einem defekten Wagen fest, und niemand scheint zu wissen, in welcher Notlage sie sich befinden… 
„Dass Vic für zehn Tage weggefahren war … damit hatte es angefangen. Dass Vic schon heute Morgen anrief, war Zufall Nummer zwei. Wenn er sie nicht erreicht hätte, wäre er gewiss besorgt gewesen und hätte es immer wieder versucht. Er hätte sich gefragt, wo sie sein könnten. Die Tatsache, dass alle drei Cambers nicht zu Hause waren und, wie es schien, über Nacht wegbleiben würden, war Zufall Nummer drei. Mutter, Sohn und Vater. Sie waren alle weg. Aber sie hatten den Hund zurückgelassen. Oh ha. Sie hatten… Plötzlich kam ihr ein grauenhafter Gedanke (…) Wenn sie nun alle tot in der Scheune lagen?“
Zwar beginnt „Cujo“ mit einem Albtraum, der den vierjährigen Tad nachts aufstehen lässt, weil er im Schrank ein Ungeheuer entdeckt zu haben glaubte, und auch wenn dieses Bild immer wieder im Laufe der Handlung neu aufgerollt wird, bleibt dies doch der einzige Verweis auf vage übernatürlich generiertes Grauen. 
Der eigentliche Horror spielt sich nämlich auf dem verlassenen Grundstück der Cambers ab, in dem verzweifelten Überlebenskampf von Donna Trenton und ihrem vierjährigen Sohn Tad, die keine Möglichkeit finden, aus dem liegengebliebenen Ford Pinto zu fliehen, ohne von dem tollwütigen Cujo angefallen zu werden. Um die recht profane Geschichte mit Leben zu füllen, nimmt sich King viel Zeit, die Familienprobleme der Trentons und der Cambers zu sezieren, wobei er ganz seine Stärke ausspielt, das einfache Leben von ganz gewöhnlichen Menschen zu beschreiben und so ein hohes Identifikationspotenzial bei seiner Leserschaft bereitzustellen. 
Was bei den Cambers vor allem wirtschaftliche Nöte sind, die durch einen Lotteriegewinn gerade etwas abgemildert werden und Charity die Reise zu ihrer Schwester ermöglichen, kommt bei den Trentons in Form einer Ehekrise und Affäre zum Ausdruck. King wechselt immer wieder geschickt die Erzählperspektive und damit auch den Ort des Geschehens, versucht auch gelegentlich, die Wahrnehmung des tollwütigen Hundes zu schildern, wenn er von den kleinsten Geräuschen und Gerüchen malträtiert wird und die im Wagen sitzende FRAU und den JUNGEN für sein Leid verantwortlich macht. So gelingt es King, mit einer recht simplen Geschichte, von Beginn an, einen dramaturgisch geschickt konstruierten Spannungsbogen aufzubauen, der sich in einem Finale entlädt, das durchaus überzeugender hätte gestaltet werden können. 
„Cujo“ ist zwar kein Meisterwerk aus der Feder des „King of Horror“, aber doch ein gemeiner, kleiner Reißer, der 1983 von Lewis Teague auch verfilmt worden ist. 

 

Stephen King – „Feuerkind“

Montag, 2. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 479 S., Tb.) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Debütroman „Carrie“ hat sich Stephen King zu einem der meistgelesenen Autoren weltweit entwickelt und gilt bis heute als „King of Horror“, dessen Werke vielfach verfilmt worden sind, vor allem seine Frühwerke – von „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ über „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Dead Zone – Das Attentat“ bis zu seinem 1980 veröffentlichten Roman „Firestarter“, der 1984 zunächst von Mark L. Lester mit Drew Barrymore in der Hauptrolle verfilmt wurde und 2022 eine Neuverfilmung erfuhr. 
Ähnlich wie schon in „Carrie“ und „Shining“ thematisiert King in „Feuerteufel“ die übersinnlichen Fähigkeiten eines Kindes. 
Weil er knapp bei Kasse war und die 200 angebotenen Dollar gut gebrauchen konnte, hat Andy McGee während seiner Studienzeit an einem von Dr. Wanless im Auftrag der Geheimdienstorganisation „Die Firma“ durchgeführten medizinischen Experiment teilgenommen, bei dem ihm und anderen Probanden ein Mittel namens Lot Sechs zugeführt worden ist, eine geheime Mischung aus einem Hypnotikum und einem milden Halluzinogenikum. 
Als Folge des Experiments brachten sich allerdings einige Teilnehmer um, seine Freundin Vicky Tomlinson entwickelte leichte Telekinese- und Telepathie-Fähigkeiten, während Andy selbst in die Lage kam, andere Menschen durch seine Gedanken zu beeinflussen. Weitaus stärker kamen die übernatürlichen Fähigkeiten allerdings bei ihrer Tochter Charlie zum Ausdruck, denn sie kann allein mit ihrem Willen Feuer entfachen, was „Die Firma“ näher erforschen möchte. Als sich die McGees allerdings dem Programm entziehen wollen, töten die Agenten Charlies Mutter und zwingen Andy und das Mädchen zur Flucht. Sie lassen sich mit einem Taxi zunächst von New York zum Flughafen nach Albany fahren und landen schließlich in Hastings Glen auf der abgelegen in den Wäldern liegenden Farm von Irv Manders und seiner Frau. 
Als die Agenten sie dort aufspüren, kommt es zu einer Katastrophe, bei der Charlie nicht nur die Hühner in Flammen aufgehen lässt, sondern auch einige Agenten der Firma sowie die Farm selbst. Andy und Charlie fliehen schließlich zur Hütte seines verstorbenen Vaters, wo sie allerdings nur für einen Winter Unterschlupf finden, bis sie von dem einäugigen indianischen Agenten John Rainbird gefasst ins Hauptquartier nach Longmont, Virginia, gebracht werden. 
Unter der Leitung von Captain Hollister werden Andy und Charlie getrennt untergebracht und auf ihre Fähigkeiten getestet. Bei Andy, an dem die Firma weniger interessiert ist, wird nur noch eine schwächer werdende Fähigkeit zur Gedankenkontrolle anderer Menschen festgestellt, so dass sich die Ärzte und Wissenschaftler sich bei ihm darauf beschränken, ihn mit Thorazin ruhigzustellen. Da sich Charly nach den Ereignissen auf der Farm dazu entschlossen hat, unter keinen Umständen mehr Feuer zu entfachen, entwickelt John Rainbird einen eigenen Plan, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und sie dazu zu bringen, gegen Einforderung von Gefälligkeiten kontrollierte Feuer zu entfachen. Doch damit beginnt Charlie auch, ihre Optionen neu zu überdenken… 
„Die Tests hatten ihren Komplex hinsichtlich des Feuers so weit abgebaut, dass er nur noch einem an vielen Stellen geborstenen Erdwall glich. Die Tests hatten ihr die Praxis vermittelt, die nötig war, um aus einem groben Schmiedehammer ein Instrument zu machen, das sie mit tödlicher Präzision handhaben konnte wie ein Messerwerfer seine Messer. Und die Tests waren für sie ein perfekter Unterricht gewesen. Sie hatten ihr ohne den Hauch eines Zweifels gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Sie.“ 
Stephen King hat schon in seinen früheren Romanen ein erstaunliches Talent entwickelt, Psi-Kräfte bei kindlichen und jugendlichen Protagonisten auf glaubwürdige Weise entwickeln zu lassen. In „Dead Zone – Das Attentat“ stürzte der sechsjährige Johnny Smith beim Schlittschuhlaufen und entwickelte daraufhin hellseherische Fähigkeiten, in „Carrie“ litt das titelgebende Mädchen unter dem religiösen Wahn ihrer alleinerziehenden Mutter und konnte mit Gedankenkraft Dinge bewegen. 
In „Feuerkind“ sind es die außer Kontrolle geratenen Experimente mit Drogen, die unterschiedlich stark ausgeprägte Psi-Kräfte hervorriefen und von den Eltern auf Charlie McGee übertragen wurden. King beginnt seinen etwas ausschweifenden Roman mit der Flucht von Andy McGee und seiner Tochter, nachdem Andys Frau ermordet worden ist. In Rückblicken wird die Zeit rekapituliert, in der Andy und Vicky an den Experimenten teilgenommen und ineinander verliebt haben. 
Immer wieder wechselt King auch die Erzählperspektive, springt von der Flucht der McGees zu ihren Verfolgern hin und her, bis auch der clevere John Rainbird zum Ende hin eine zunehmend wichtigere Rolle im Plot einnimmt. 
Was „Feuerkind“ an Plotentwicklung und Spannung vermissen lässt, macht King durch seine einfühlsame Figurenzeichnung wieder wett, auch wenn dabei kaum Grautöne auszumachen sind und die Handlung äußerst vorhersehbar verläuft.