Stephen King – „Nachts“

Sonntag, 20. April 2025

(Heyne, 418 S., Jumbo)
Mit „Langoliers“ hatte Stephen King bzw. sein deutscher Verlag Heyne die ersten beiden Novellen aus der vier Geschichten umfassenden Sammlung „Four Past Midnight“ veröffentlicht, die später in der Taschenbuchversion als „Vier nach Mitternacht“ dann tatsächlich auch alle vier Horror-Stories vereinte. Nach der Titelgeschichte und der später mit Johnny Depp verfilmten Story „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ in „Langoliers“ präsentierte „Nachts“ im Jahr 1991 zwei weitere haarsträubende Horror-Geschichten, wie sie sich nur Stephen King ausdenken kann.
„Der Bibliothekspolizist“ erzählt die Geschichte des Immobilien- und Versicherungsmaklers Sam Peebles, der in seiner Heimatstadt Junction City bei der kommenden Speaker’s Night der Rotarier für den verletzten Akrobaten Amazing Joe einspringen und die monatliche Rede halten soll. Von Craig Jones bekommt er sogar ein Thema vorgeschlagen, nämlich die Bedeutung unabhängiger Unternehmen für das Kleinstadtleben. Als er seiner Sekretärin Naomi seinen ersten Entwurf vorträgt, schlägt sie vor Begeisterung nicht gerade Purzelbäume, verweist stattdessen auf zwei Bücher, darunter „Best Loved Poems of the American People“, mit deren Hilfe er seine Rede aufpeppen könnte. Doch als Sam die örtliche Bibliothek aufsucht, ist er von der bedrückenden Atmosphäre und den beängstigenden Postern mit Sprüchen wie „Fahre NIEMALS mit Fremden!“ und „Vermeidet die Bibliothekspolizei! Brave Jungs und Mädchen bringen ihre Bücher PÜNKTLICH zurück!“ mehr als nur leicht verunsichert. Der Eindruck verstärkt sich, als er die Bibliothekarin Ardelia Lortz kennenlernt, die ihm die gesuchten Bücher raussucht und ihm einen Bibliotheksausweis ausstellt, aber bei aller Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft überhaupt keine freundliche Ausstrahlung besitzt. Die mit Hilfe der Bücher verfeinerte Rede wird ein voller Erfolg, doch es kommt, wie es kommen muss: Die beiden Bücher verschwinden im Altpapier, das regelmäßig durch den Alkoholiker Dave Duncan abgeholt und entsorgt wird. Als Sam erneut die Bibliothek aufsucht, findet er sie nicht nur völlig verändert vor, auch von Ardelia Lotz findet sich keine Spur. Je mehr sich Sam mit der Geschichte der Frau befasst, wird er an ein längst verdrängtes Ereignis in seinem eigenen Leben erinnert, was dem Bibliothekspolizisten einen ganz neuen Schrecken verleiht…
Stephen King gelingt es auch in Geschichten, die nicht die übliche, oft epische Länge seiner Romane aufweisen, interessante Figuren zu schaffen und diese so überzeugend in übernatürliche Geschehnisse zu verwickeln, dass es ganz natürlich erscheint. Allerdings will der „King of Horror“ in dieser Geschichte zu viel. Statt sich nur auf die Vorstellung eines aus dem Rahmen gefallenen Bibliothekspolizisten zu beschränken, lässt der Autor seinen Protagonisten nicht nur dessen Vergewaltigung als Kind aufarbeiten, sondern befasst sich auch ausführlich mit der tragischen Geschichte, wie Dave Duncan durch seine Liebe zu Ardelia Lortz zum Alkoholiker wurde, und macht aus der Bibliothekarin ein Monster, das leider die Glaubwürdigkeit der Geschichte vollkommen untergräbt.
Nach diesem doch etwas verpatzten Auftakt macht es King mit „Zeitraffer“ etwas besser, einer Geschichte, die in Kings fiktiver Stadt Castle Rock und zwischen den beiden dort spielenden Romanen „Stark – The Dark Half“ und „Needful Things“ angesiedelt ist. Hier feiert Kevin Delevan seinen 15. Geburtstag, zu dem er u.a. eine Polaroid Sun 660 geschenkt bekommt. So glücklich er über dieses Wunschgeschenk ist, so erstaunt ist er über die Fotos, die die Sofortbildkamera ausspuckt, denn die Bilder scheinen nicht nur mit der Zeit etwas zu machen, sondern zeigen auch einen grässlichen Hund, der von Aufnahme zu Aufnahme immer mehr auf den Fotografen zuzukommen und schließlich fast aus dem Bild zu springen scheint. Statt die Kamera umzutauschen, bringen Kevin und sein Vater die Kamera ins Emporium Galorium zu Reginald „Pop“ Merrill, der sich der Kamera annimmt und ebenso von den Bildern fasziniert ist wie John Delevan und dessen Sohn. Der wittert ein gutes Geschäft, vertauscht die Kamera mit einer modellgleichen Kamera und macht sich auf die Socken, um die mysteriöse Kamera seinen besten Kunden zum Kauf anzubieten. Doch die sind nur entsetzt über den schrecklichen Hund, den die Kamera aus welchen Gründen auch immer ablichtet und der immer bedrohlichere Züge annimmt…

„Das Auge hielt ihn im Bann. Es war mörderisch. Diese Promenadenmischung sprühte geradezu vor Mordlust. Und der Hund hatte keinen Namen; das wusste er ebenso gewiss. Er wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass kein Polaroidmann, keine Polaroidfrau und kein Polaroidkind diesem Polaroidhund je einen Namen gegeben hatte; es war ein Streuner, als Streuner geboren, als Streuner groß und alt und böse geworden, die Inkarnation aller Hunde, die je über das Antlitz der Erde gestreunt waren, namenlos und heimatlos, Hühner töteten und Abfall aus Mülltonnen fraßen, die umzuwerfen sie schon lange gelernt hatten, und in Abwasserrohren und unter den Veranden verlassener Häuser schliefen. Sein Verstand würde verkümmert sein, aber seine Instinkte scharf und rot.“ (S. 304)

Auch wenn „Zeitraffer“ vor allem aus der Perspektive des 15-jährigen Kevin Delevan geschrieben ist, gewinnt dieser längst nicht so viel Kontur wie der von allen in der Kleinstadt verhasste Pop Merrill, der mit seinen siebzig Jahren schon einige unlautere Geschäfte abgewickelt hat – u.a. auch mit Kevins Dad – und deshalb wenig Ansehen in Castle Rock genießt. Vor allem die Art und Weise, wie er Kevins mysteriöse Kamera an gutgläubige, wenn auch vollkommen schrullige Interessenten verkaufen will, demonstriert die Abgründe seiner Persönlichkeit, aber auch die gut gebaute Drug-Store-Verkäuferin Molly Durham weiß ein Lied davon zu singen, wie widerlich der alte Mann ist. Zum Ende hin nimmt die Geschichte zwar an Fahrt auf, doch übertreibt es King einmal mehr mit der Darstellung vermeintlich schockierender Splatter-Effekte, so dass eine zunächst interessant eingefädelte Story über das Ziel hinausschießt. Schade.

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