Ian McEwan – „Maschinen wie ich“

Donnerstag, 30. Mai 2019

(Diogenes, 406 S., HC)
Anfang der 1980er Jahre in London: Der 32-jährige Online-Trader Charlie gönnt sich nach dem Verkauf des Familienhauses für 86000 Pfund einen der ersten von insgesamt fünfundzwanzig voll funktionsfähigen künstlichen Menschen. Adam sieht lebensecht aus wie ein türkischer Hafenarbeiter, findet Charlie, und mit seiner überschäumenden Intelligenz, lebensechter Motorik (die ihn auch zu einem guten Sex-Partner avancieren lässt) wird Adam für Charlie nicht nur ein unentbehrlicher Helfer im Haushalt, sondern vor allem zum besseren Trader.
Charlie sieht in seiner neuen Errungenschaft die ideale Möglichkeit, seiner Nachbarin im Stockwerk über ihm, der zehn Jahre jüngeren Studentin Miranda, näherzukommen. Bei der Programmierung seiner Persönlichkeit lässt Charlie Miranda nämlich jede zweite Frage beantworten, doch mit den Fortschritten, die Adam in kürzester Zeit beim Lernen macht, hat Charlie nicht gerechnet. Zwar freut sich Charlie, dass Adam ihm durch seine analytischen Fähigkeiten viel mehr Geld durch den Online-Handel einbringt, als er es selbst je schaffen würde, auf der anderen Seite muss er mitanhören, wie Adam Gefühle für Miranda entwickelt und sie sogar zu ekstatischen Lustschreien animiert, die er selbst von ihr nie zu hören bekam. Doch bevor Charlie so richtig eifersüchtig auf Adam werden kann, der ihn zudem vor Mirandas Lügen gewarnt hat, kommt schon das nächste Großprojekt auf ihn zu: die von Miranda so sehr ersehnte Adoption des Pflegekindes Mark und die Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel aus Mirandas Vergangenheit. Adam hat die Liebe zu Miranda derweil zu neuen Höchstleistungen angetrieben. Er macht sich nicht nur mit der ganzen Weltliteratur vertraut, sondern verfasst in kürzester Zeit auch 2000 Haikus.
„Niemand wusste, was wir da geschaffen hatten. Was Adam und seinesgleichen an subjektivem Leben besaßen, konnte unsereins nicht verifizieren. Wenn das stimmte, dann war er, was man heutzutage gern eine black box nannte – von außen gesehen schien sie zu funktionieren. Viel mehr ließ sich darüber nicht sagen.“ (S. 223f.) 
Mit seinem neuen Roman wagt sich der britische Bestseller-Autor Ian McEwan („Abbitte“, „Kindeswohl“) in den Bereich der Science-Fiction vor und setzt sich - auf gewohnt kluge Weise - mit dem Thema der künstlichen Intelligenz auseinander. Interessanterweise schildert McEwan seine britische Heimat mit dem Beginn des Falkland-Krieg-Desasters in den 1980er Jahren mit großzügiger schriftstellerischer Freiheit. So führt der Falkland-Krieg zum unmittelbaren Ende der Thatcher-Herrschaft, ihr Nachfolger Tony Benn wird aber gleich Opfer eines IRA-Bombenattentats, und die Beatles nehmen noch einmal ein verkitschtes Reunion-Album auf, das auch durch ein imponierendes Sinfonieorchester nicht an Qualität gewinnt. Der britische Mathematiker und Informatiker Alan Turing ist hier nicht 1954 durch Selbstmord von der Welt gegangen, sondern weilt noch unter den Lebenden und hat seinen elementaren Beitrag zur Entwicklung der ersten überzeugenden Generation von Androiden geleistet.
Beeindruckender gerät jedoch die Schilderung, wie Adam es gelingt, sich selbst weiterzubilden und seine Persönlichkeit zu formen, sich nicht nur unbegrenztes Wissen anzueignen und jederzeit abzurufen, sondern auch echte Gefühle und schöpferische Qualitäten zu entwickeln. Damit stiehlt er seinen allzu menschlichen Besitzern zunehmend die Show, führt deren Beziehung durch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn (oder Rachebedürfnis?) in eine folgenschwere Krise. Der Autor gibt so einen interessanten Einblick in ein wahrscheinlich gar nicht allzu fern erscheinendes Szenario, das das Genre der Science-Fiction seit jeher fasziniert hat und vor allem viele Fragen aufwirft – nicht nur zum Verhältnis von Mensch und Maschine, sondern auch der Menschen untereinander.
Leseprobe Ian McEwan - "Maschinen wie ich"

Chip Cheek – „Tage in Cape May“

Freitag, 24. Mai 2019

(Blessing, 334 S., HC)
Cape May, New Jersey, im September 1957. Der 20-jährige Farmerssohn Henry und die 18-jährige Kaufmannstochter Effie haben sich nur wenige Monate nach ihrem Highschool-Abschluss das Ja-Wort gegeben und sehen gespannt ihren Flitterwochen entgegen. Henry war wie Effie in der kleinen Stadt Signal Creek in Georgia aufgewachsen und vor dieser Reise noch nie nördlich von Atlanta gewesen, noch hatte er je das Meer gesehen. Effie hatte in dem Haus ihres Onkels George früher ihre Ferien verbracht, es das letzte Mal aber vor drei Jahren gesehen, als ihre Tante Lizzie verstorben war. Im Spätsommer liegt der Ferienort allerdings verlassen da, viele Geschäfte und Restaurants sind bereits geschlossen. Das sexuell unerfahrene, gottesfürchtige Paar bringt das erste Mal schnell hinter sich, geht an der Promenade spazieren und beginnt sich schnell zu langweilen.
Gerade als Henry und Effie schon überlegen, vorzeitig abzureisen, läuten sie aus Neugierde an der Tür des einzigen Hauses in der Nachbarschaft, in dem Licht brennt und – dem Cadillac-Cabrio und Rolls-Royce in der Auffahrt nach zu urteilen – offenbar reiche Leute wohnen. Zu Effies großer Überraschung öffnet ihnen Clara, eine Freundin ihrer älteren Cousine, die sie beide nicht leiden konnte. Clara ist jedoch ganz aus dem Häuschen über die gesellschaftliche Abwechslung und stellt ihnen ihren Lebensgefährten Max und seine Halbschwester Alma vor, mit denen sich auf einmal das Blatt zum Guten zu wenden scheint. Denn das in New York lebenden Trio unternimmt mit dem jungen Ehepaar Bootsfahrten aufs Meer und macht die Nacht zum Tag, wobei getrunken und gespielt und schließlich als besonderer Nervenkitzel auch in die leer stehenden Nachbarhäuser eingebrochen wird.
Als Effie krank wird und das Bett hüten muss, beginnt Henry mit Alma eine heftige Affäre und betrachtet das Leben auf einmal mit ganz anderen Augen.
„Das Geheimnis des Lebens bleibt uns verborgen, dachte Henry, weil wir nicht immerzu wach sein können, um jeden Augenblick davon bewusst zu erleben. Könnte man eine Weile auf Schlaf verzichten und bekäme unser Dasein ununterbrochen mit, würde einem Wesentliches offenbart.“ (S. 223) 
Der 1976 geborene, in der Nähe von Los Angeles geborene Schriftsteller Chip Cheek legt nach einigen veröffentlichten Kurzgeschichten mit „Tage in Cape May“ ein stimmungsvolles Romandebüt vor, das er nicht zufällig in dem Ferienort spielen lässt, der gerade mal auf 4000 Einwohner kommt und in der Hochsaison 100000 Urlauber anzieht, denn er selbst verbrachte mit Schriftsteller-Freunden immer wieder Zeit dort und hat so ein Gespür für den Ort bekommen, der die perfekte Kulisse für das Liebesdrama in den später 1950er Jahren bildet.
Gekonnt beschreibt er die unterschiedlichen Eindrücke, die die Kleinstadt in der Hoch- und Nebensaison bei seinen Besuchern hinterlässt. Indem Cheek das Geschehen in die ungewöhnlich ruhige Nebensaison verlagert, kann er sich ganz auf seine Protagonisten fokussieren, die nicht den vielfältigen Freizeitaktivitäten, die so ein Ferienparadies üblicherweise bietet, nachgehen können, sondern sich mit sich selbst auseinandersetzen müssen. Hier wird deutlich, dass sich Effie und Henry zwar schon seit Kindertagen kennen mögen, dass die Heirat aber ganz neue Erfahrungen mit sich bringt. Nachdem die Hürde der ersten sexuellen Vereinigung genommen worden ist, vergnügt sich das junge Paar zwar täglich daran, aber darüber hinaus fällt den beiden wenig ein, wie sie sich miteinander beschäftigen können. Erst als die beiden unbedarften Landeier dem älteren Trio aus New York begegnen, eröffnen sich neue Horizonte, wird die zuvor vorsichtig erkundete Landschaft der sexuellen Erfahrungen zunehmend enthemmter erforscht. Natürlich spielt dabei Alkohol eine Rolle, um die Hemmungen fallen zu lassen, aber auch dies geschieht erst schrittweise.
Während Effie noch tiefer als ihr Mann der religiösen Erziehung verhaftet ist und täglich vor dem Schlafengehen betet, fühlt sich Henry schnell von der geheimnisvollen Alma angezogen und kann ihrer sexuellen Anziehungskraft nicht widerstehen. Was folgt, ist ein sinnenfrohes Arrangement, bei dem Henry nachts aus dem Haus schleicht, um sich mit der wartenden Alma in einem der leeren Häuser zu treffen und meist früh genug heimkehrt, bevor die kränkelnde Effie aufwacht, sich sonst aber mit seiner Schlaflosigkeit und langen Spaziergängen entschuldigt. Der Leser mag Henrys Verhalten – vor allem so kurz nach seiner Hochzeit – moralisch verwerflich finden, doch gelingt es dem Autor, den jungen Mann nicht vorbehaltlos zu verurteilen, denn Henry leidet selbst darunter, dass er Effie über alles liebt, aber eben auch seine Lust in vollen Zügen genießt.
Bei allen moralischen Fragen, die „Tage in Cape May“ aufwirft, ist es einfach spannend zu verfolgen, wie die Beteiligten mit den zunehmend ausschweifenden Ereignissen in Cape May umgehen, und im letzten Kapitel beantwortet Cheek auch die Frage, wie es mit Henry und Effie in den nächsten Jahrzehnten weitergeht. Allerdings werden die aufgeworfenen Probleme auch nicht allzu tiefschürfend aufgearbeitet, das Potenzial für dramatische Ereignisse und Wendungen wird nie ausgeschöpft. So bleiben vor allem Clara und Max als sinnenfrohe künstlerische Figuren ohne Geldsorgen etwas blass, aber Chip Cheek ist mit „Tage in Cape May“ ein faszinierend sinnliches Drama gelungen, das auf erfrischende Weise das Spannungsfeld von Lust und Liebe thematisiert.
Leseprobe Chip Cheek - "Tage in Cape May"

Gary Shteyngart – „Willkommen in Lake Success“

Sonntag, 19. Mai 2019

(Penguin, 432 S., HC)
Als Sohn eines jüdischen Poolreinigers hat es Barry Cohen weit gebracht und den amerikanischen Traum gelebt: Nach seinem Studium in Princeton machte er Karriere an der Wall Street und verwaltete einen eigenen Hedgefonds, der ihm Millionen, aber schließlich auch Probleme mit der Börsenaufsicht einbrachte. Der „freundlichste Typ der Wall Street“ hat aber nicht nur innerhalb von drei Jahren achthundert Millionen Dollar seiner Anleger verzockt, sondern auch mit privaten Problemen zu kämpfen. Während sein dreijähriger Sohn Shiva aufgrund seiner autistischen Störung nicht spricht und definitiv nicht in Barrys Fußstapfen tritt, unterhält seine schwangere Frau Seema auch noch eine Affäre mit dem Mann einer neuen Freundin, deren Sohn sich auch noch mit ihrem eigenen angefreundet hatte.
Barry sehnt sich auf einmal nach seiner Jugendliebe Layla und steigt aus seinem Luxus-Leben aus. Nur mit seinen (sündhaft teuren) Lieblingsuhren im Gepäck steigt er in New York in einen Greyhound-Bus und macht sich auf den Weg nach El Paso. Auf der Fahrt macht er die Bekanntschaft von Drogensüchtigen, Studentinnen und Lebenskünstlern und lernt so die andere Seite des American Way of Life kennen.
„Es war alles so scheißlächerlich. Sein erstes Lachen allein, solange er sich erinnern konnte. Niemanden interessierte seine schwarze Amex, niemand interessierte Seans blutendes Gesicht, niemanden interessierte, dass sein Sohn schwer autistisch, dass seine Ehe gescheitert war, niemanden interessierte sein Valupro-Fiasko oder was der Frau zustoßen würde, die mit nichts als einem Föhn ein Hotelzimmer bezogen hatte, als der Morgen zum Tag wurde. Die schiere Ausdehnung des Landes war viel zu groß für seine Sorgen.“ (S. 63) 
Nach seinen drei Bestsellern „Handbuch für den russischen Debütanten“, „Absurdistan“ und „Super Sad True Love Story“ schildert der in Leningrad als Sohn jüdischer Eltern geborene und seit seinem siebten Lebensjahr in den USA lebende Schriftsteller Gary Shteyngart mit seinem vierten Roman „Willkommen in Lake Success“ den unterhaltsamen Zwangsausstieg eines typischen Wall-Street-Karrieristen, der zwar alles hat, was man mit Geld kaufen kann – vor allem unverschämt teure Uhren -, aber plötzlich vor den Trümmern seines exklusiven Lebens steht, als er feststellen muss, dass sein Sohn nicht der perfekte Nachfolger im Investment-Sektor sein wird und seine Frau ihn nicht mehr liebt. Aus der Sehnsucht nach seiner College-Liebe Layla entwickelt sich ein Road-Trip, der den Protagonisten Barry Cohen mit den unteren Milieuschichten der amerikanischen Bevölkerung auf dem engen Raum eines Greyhound-Busses konfrontiert, woraus sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen interessante Einsichten über die Wähler von Donald Trump und Hilary Clinton gewinnen lassen. Allerdings wirken die Figuren recht klischeehaft gezeichnet und die Geschichte vom geläuterten Hedgefonds-Millionär, der in der wirtschaftlichen und privaten Krise sein Leben mit teils nostalgischer Verklärung, teils selbstkritischer Reflexion Revue passieren lässt und auf einmal die einfachen Menschen kennenlernt, auf die er zuvor nur abschätzig hinabgesehen hat, etwas arg konstruiert, zumal mit dem überraschend versöhnlichen, etwas unglaubwürdigen Ausklang. Nichtsdestotrotz gewährt Shteyngart seinen Lesern interessante Einblicke in die amerikanische Seele, in die enttäuschten Erwartungen und Träume der Unter- und Mittelschicht. Dabei lässt der Autor sowohl sanfte humoristische Töne und ein wenig Erotik einfließen, erweist sich stellenweise auch als guter Beobachter der unterschiedlichen Mentalitäten und der politischen Meinungsbildung, so dass ein wenig deutlicher wird, warum ein zynischer Scharlatan wie Donald Trump überhaupt die Massen so manipulieren konnte, dass er zum Präsidenten gewählt worden ist.
Leseprobe Gary Shteyngart - ""Willkommen in Lake Success"

John Irving – „Garp und wie er die Welt sah“

Samstag, 11. Mai 2019

(Diogenes, 840 S., HC)
Statt sich dem Willen ihrer Eltern zu beugen und das Wellesley College zu besuchen, um nach ihrem Abschluss als vorzügliche Heiratskandidaten zu gelten, schmeißt Jenny Fields das College zugunsten einer Karriere in der Krankenpflege, zumal sie bei ihren Kommilitonen im Hauptfach Anglistik ohnehin nur den Eindruck gewonnen hat, dass sie neben der Bildung vor allem den sicheren Umgang mit Männern erlernen wollen. An Männern ist Jenny überhaupt nicht interessiert. 1942 wird sie in Boston sogar festgenommen, weil sie einen Mann, der ihr im Kino zu aufdringlich wurde, verletzte. Um sich trotzdem ihren Kinderwunsch zu erfüllen, bedient sie sich im Krankenhaus bei dem Technical Sergeant Garp, der als britischer Kugelturmschütze über Rouen abgeschossen wurde und sich mit schwerer Hirnverletzung in Jennys Obhut befindet.
Für seine kleine Statur besitzt der schwachsinnige Vollwaise, der nur noch seinen Namen sprechen kann, einen erstaunlich großen Penis, den Jenny sich eines Abends einführt. Das Ergebnis dieser Vereinigung mit Garp, der kurz darauf stirbt, nennt sie T. S. Garp und zieht ihn allein auf, während er die Steering School besucht, wo seine Mutter als Krankenschwester arbeitet. Von seinem Vater weiß Garp nur, dass er Soldat war, im Krieg gefallen war und dass seine Eltern während des Krieges keine Zeit zum Heiraten hatten. Seine Mutter legt eine von ihrer Umwelt skeptisch wahrgenommene Ernsthaftigkeit an den Tag, liest unzählige Bücher und besucht in ihren Freistunden Kurse, die den Lehrern, Mitarbeitern und ihren Ehegatten an der Steering School kostenlos zur Verfügung stehen. Zu den prägenden Erfahrungen während seiner Schulzeit zählt die Begegnung Cushie Percy, der Tochter des Schulsekretärs Stewart Percy, mit der Garp seine erste sexuelle Erfahrung teilt, aber vor allem Helen Holms, die belesene Tochter seines Ringen-Lehrers, hat es ihm angetan. Da sie nur einen „richtigen“ Schriftsteller zu heiraten beabsichtige, steht Garps Entschluss fest.
Mit seiner Mutter zieht er nach seinem Schulabschluss nach Wien, wo Jenny Fields an ihrer Autobiographie mit dem Titel „Eine sexuell Verdächtige: Die Autobiographie von Jenny Fields“ schreibt, mit der sie schließlich zur Gallionsfigur der Frauenbewegung avanciert. Garp selbst verfasst die Kurzgeschichte „Die Pension Grillparzer“ und gewinnt so das Herz seiner geliebten Helen, die nach der Hochzeit Literaturgeschichte an einer Universität lehrt, während Garp mit „Zaudern“ seinen ersten Roman veröffentlicht. Es folgen zwei Kinder und Partnertausch mit den befreundeten Fletchers, was Garp zu seinem zweiten Roman „Der Hahnrei fängt sich“ inspiriert.
„Der Roman handelte zwar nicht von Helen und Garp und Harry und Alice, aber er handelte von vier Menschen, deren letztlich ungleiche und sexuell angespannte Beziehung ein Reinfall ist. Alle vier sind körperlich gehandikapt. Einer der Männer ist blind. Der andere Mann stottert dermaßen, dass seine Dialogpartien eine quälende Lektüre sind. Jenny verübelte Garp diesen billigen Hieb auf den armen verblichenen Mr. Tinch, aber Schriftsteller, sagte Garp traurig, seien bloß Beobachter – gute und rücksichtslose Nachahmer des menschlichen Verhaltens.“ (S. 315) 
Helen beginnt eine Affäre mit dem selbstgefälligen Studenten Michael Milton ein, die in einer Katastrophe endet und Garp zu seinem nächsten Roman inspiriert, „Bensenhaver und wie er die Welt sah“. John Wolf, Garps Verleger, legt seinem Schützling nahe, die USA für eine Weile zu verlassen, bis sich der zwangsläufige Medienrummel gelegt hat, doch bei einer Wahlkampfveranstaltung, bei der seine Mutter die Kandidatur einer Frau für das Gouverneursamt in Maine unterstützt, ereignet sich die nächste Tragödie …
Mit seinem vierten Roman nach „Lasst die Bären los!“, „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ beschreibt der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving nicht nur verschiedene Aspekte der Frauenbewegung und Geschlechter-Identität, sondern auch den Zusammenhang von Dichtung und Wahrheit. Die Beweggründe der Frauenbewegung werden dabei durchaus kritisch thematisiert. Während Irving auf der einen Seite starke Frauen als Protagonistinnen etabliert, handeln sich beispielsweise die Ellen-Jamesianerinnen harsche Kritik ein. Aus Solidarität zu dem damals elfjährigen Mädchen Ellen James, dem nach seiner Vergewaltigung auch noch die Zunge entfernt wurde, damit sie ihren Peiniger nicht verraten konnte, lassen sich auch ihrer Anhängerinnen die Zungen rausschneiden. Um sich von dieser ungewollten Aufmerksamkeit durch die grotesken Selbstverstümmelungen zu distanzieren, hat nicht nur Ellen James einen Aufsatz mit dem Titel „Warum ich keine Ellen-Jamesianerin bin“ veröffentlicht, auch Garp äußerst sich kritisch gegenüber dieser Bewegung und macht sich ebenso wie seine Mutter zur Zielscheibe eines Attentats.
Welche Probleme die Fragen nach der eigenen sexuellen Identität bereiten, muss auch Roberta Muldoon erfahren, die zuvor als Mann noch ein erfolgreicher Football-Spieler gewesen war und von ihren alten Fans mit hämischen, verächtlichen Kommentaren bedacht wird. Einen besonderen thematischen Schwerpunkt bildet darüber hinaus das Wechselspiel von Wirklichkeit und Fiktion bzw. die Frage, inwieweit das reale Leben das Schreiben inspiriert. Das wird gleich bei der vollständigen Wiedergabe von Garps erster Erzählung, die von Marc Aurel mitgeprägte Geschichte „Die Pension Grillparzer“ demonstriert, die nicht nur auf die eigenen Erfahrungen von Garp und seiner Mutter während ihrer Zeit in Wien verweist, sondern auch auf Irvings nachfolgenden Roman „Das Hotel New Hampshire“. Aber auch die nachfolgenden Romane und auf besonders drastische Weise „Bensenhaver und wie er die Welt sah“ machen deutlich, wie epochale Ereignisse im Leben des Schriftstellers sich auf sein Werk auswirken, und interessanterweise finden sich die Themen, die Irving/Garp in „Zaudern“ und „Ein Hahnrei fängt sich“ angerissen hat, in Irvings früheren Büchern „Lasst die Bären los!“ und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ wieder.
Was „Garp und wie er die Welt sah“ aber über die epische Länge von über 800 Seiten aber neben den interessanten Figuren und Themen jederzeit so lesenswert macht, ist die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, so wie es Jillsy, die Putzfrau von Garps Verlegers John Wolf, beschreibt, der Wolf die Manuskripte seiner Klienten vorab zur Begutachtung zu lesen gibt.
„,Bei den meisten Büchern weiß man, dass nichts passiert‘, sagte Jillsy. ,Gott, das wissen Sie doch. Bei anderen Büchern‘, sagte sie, ,weiß man schon, was passiert, die braucht man also auch nicht zu lesen. Aber dieses Buch‘, sagte Jillsy, ,dieses Buch ist so krank, dass man weiß, es passiert was, aber man kann sich nicht vorstellen, was. Man muss selbst krank sein, um sich vorstellen zu können, was in diesem Buch passiert‘, sagte Jillsy.“ (S. 624)