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China Miéville – „Dieser Volkszähler“

Freitag, 27. Januar 2017

(Liebeskind, 173 S., HC)
Ein Junge lebt mit seiner im Garten arbeitenden Mutter und seinem großen, blassen und besonnen wirkenden Vater abgeschieden auf dem Berg in einem dreistöckigen, irgendwie unfertig wirkenden Haus, gerade noch so in den Grenzen des dazugehörigen Dorfes. Der Vater fertigt magische Schlüssel für seine Kunden an, damit sie Liebe, Geld oder Einblick in die Zukunft bekamen, Dinge öffnen, Sachen reparieren oder Tiere heilen konnten. Nie kommen sie ein zweites Mal. Doch die Idylle trügt. Eines Tages rennt der Junge schreiend den Bergpfad herunter und berichtet den Leuten im Dorf, dass seine Mutter seinen Vater umgebracht habe. Als er berichten soll, was genau passiert sei, muss er feststellen, dass seine Erinnerungen ungenau sind. Hat nicht vielleicht andersherum der Vater die Mutter getötet?
Um dem geschilderten Vorfall auf den Grund zu gehen, suchen die Beamten das Haus des Jungen auf und finden den Vater vor, die Mutter sei – so ist auch einem handgeschriebenen Abschiedsbrief zu entnehmen – offensichtlich einfach weggegangen. Der Junge ist indes fest davon überzeugt, dass der Vater die Mutter ebenso ins unergründlich tiefe Loch im Berg geschmissen habe, wie er es sonst immer wieder mit verschiedenen Tieren getan hat. Da dafür allerdings kein Beweis gefunden werden kann, muss der Junge nun allein mit dem Vater auf dem Berg leben.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, was mein Vater von mir wollte; vielleicht wollte er nur mich. Er liebte mich, aber er hatte ja auch meine Mutter geliebt, und diese Liebe hinderte mich nicht daran, ihn zu beobachten und darauf zu warten, dass sein Mienenspiel sich änderte. Sie hinderte mich nicht daran, mir darüber Gedanken zu machen.“ (S. 113) 
Der Vater schwört den Jungen auf die neue Lebenssituation ein und zwingt ihn dazu, in seiner Nähe zu bleiben, doch in dieser Atmosphäre von Angst und Zwang sucht er immer wieder die Gesellschaft seiner Freunde Samma und Drobe. Dann verschwindet auch Drobe …
Bereits mit seinem 1998 erschienenen Debütroman „King Rat“ wurde der in Norwich geborene China Miéville gleich für die renommierten Preise der International Horror Guild und für den Bram Stoker Award nominiert, seine weiteren Romane „Perdido Street Station“ und „The Scar“ (die hierzulande in jeweils zwei Romanen veröffentlich wurden) räumten ebenso wie „Die Stadt & Die Stadt“ oder „Der Eiserne Rat“ namhafte Auszeichnungen ab.
Mittlerweile darf Miéville zweifellos als einer der wichtigsten Erneuerer und Vertreter der Science-Fiction-Literatur betrachtet werden, der mit seinen Büchern stets die Konventionen des Genres durchbricht. Dafür ist auch seine Novelle „Dieser Volkszähler“ ein vorzügliches Beispiel.
Der titelgebende Volkszähler spielt hier eher eine Nebenrolle und taucht auch erst in den letzten dreißig Seiten des schmalen Bandes auf. Im Mittelpunkt steht der namenlose Junge in einem ebenso namenlosen Dorf, das nach einer nicht näher beschriebenen Apokalypse ganz auf Handel und Selbstversorgung angewiesen ist. Die einzige Maschine, die noch existiert, in eine Art Kraftwerk, mit dem die Straßenlaternen betrieben werden. Darüber hinaus wird einfach vieles der Imagination des Lesers überlassen.
Die Dorfbewohner werden eher unbestimmt als Fensterputzer, Offizielle und Fledermausangler beschrieben, ihre Tätigkeiten und ihre Art zu leben werden kaum näher definiert. Interessant ist vor allem die Erzählperspektive des Jungen, der seinen eigenen Erinnerungen kaum trauen kann, also wird auch der Leser stets im Ungewissen bleiben, wie die dargestellten Ereignisse und Schlussfolgerungen überhaupt zu bewerten sind.
Darüber hinaus gelingt es Miéville hervorragend, durch seinen einzigartigen Stil eine ausgeprägt unheimliche, unbestimmte und hypnotische Atmosphäre zu kreieren, die sich bis zum Schluss nicht auflöst und den Leser auch nach dem Umblättern der letzten Seite mit Unbehagen zurücklässt. Das vermag indes nur große Literatur.
Leseprobe China Miéville - "Dieser Volkszähler"

China Miéville - „Spiegel“

Mittwoch, 8. Juli 2009

(Edition Phantasia, 130 S., HC)
Der in London lebende China Miéville zählt in seiner englischen Heimat mit nur wenigen Romanen bereits zu den meistbeachteten Horror-Schriftstellern und wurde schon mit Auszeichnungen wie dem British Fantasy Award, dem Arthur C. Clarke Award und dem Locus Award geehrt. Nun bringt der Bellheimer Verlag Edition Phantasia Miéville auch dem deutschen Publikum nahe.
„Spiegel“ ist eine kleine, aber feine Horror-Erzählung, die von Jorge Luis Borges’ „Das Buch der imaginären Wesen“ inspiriert der interessanten Vorstellung nachspürt, was geschehen könnte, wenn unsere Spiegelbilder ein Eigenleben entwickeln würden. Das kurze Szenario spielt sich in einem apokalyptisch zerstörten London ab, in dem sich Sholl in einem gestrandeten Doppeldecker-Bus mit vergitterten Fenstern häuslich eingerichtet hat. Sporadisch zerfetzt das Donnern von Handfeuerwaffen die Luft. Führerlos versuchen einzelne militärische Trupps, Kontakt zu ihren Befehlshabern und zur nicht mehr vorhandenen Regierung aufzunehmen. Sholl macht sich auf den Weg zu einem dieser versprengten Trupps und versucht Anhänger für seinen Plan zu finden, den so genannten Patschogen den Garaus zu machen. Sie haben sich einst aus der Abhängigkeit von den Menschen befreien können, waren nicht mehr nur Spiegelbilder, sondern entwickelten erst hinter dem verspiegelten Glas ein eigenes, die Menschen zutiefst erschreckendes Dasein, dann traten sie durch das Glas auf die andere Seite und entfachten einen fürchterlichen Krieg. Sholl begibt sich in den U-Bahn-Schacht von Hampstead, um dort den Vampiren, niederen Formen der Patschogen, entgegenzutreten… Höchst interessantes und vergnüglich zu lesendes Gedankenspiel um die Welt, die sich möglicherweise hinter unseren Spiegelbildern verbirgt. Die auf 250 nummerierte Exemplare limitierte Vorzugsausgabe wurde wunderschön von Reinhard Kleist illustriert und sowohl vom Autor als auch vom Illustrator handsigniert.